»Das tue ich!« erklarte Kern erheitert. »Besonders fur ungestempelte.«
»Na, dann entschuldigen Sie!« Rosenfeld schlug seinen Rockkragen hoch. »Kommen Sie, Waser, wir wollen noch die neuen Modelle von Alfa Romeo und Hispano druben besichtigen.«
Die beiden gingen, versohnt durch den Ignoranten Kern, eintrachtig in ihren abgeschabten Anzugen davon, um noch uber einige Rennwagen zu streiten. Sie hatten Zeit dazu – denn sie hatten kein Geld fur ein Abendessen.
Kern sah ihnen erfreut nach. »Der Mensch ist ein Wunder, Ruth, was?«
Sie lachte.
KERN FAND KEINE Arbeit. Er bot sich uberall an; aber selbst fur zwanzig Francs am Tag konnte er nirgendwo unterkommen.
Nach zwei Wochen war das Geld verbraucht, das sie besa?en. Ruth bekam von dem judischen und Kern vom gemischt judischchristlichen Komitee eine kleine Unterstutzung; zusammen hatten sie etwa funfzig Francs in der Woche. Kern sprach mit der Wirtin und erreichte, da? sie fur diesen Betrag die beiden Zimmer behalten konnten und morgens etwas Kaffee mit Brot bekamen.
Er verkaufte seinen Mantel, seinen Koffer und den Rest seiner Sachen von Potzloch. Dann begannen sie Ruths Sachen zu verkaufen. Einen Ring ihrer Mutter, Kleider und ein schmales goldenes Armband. Sie waren nicht sehr unglucklich daruber. Sie lebten in Paris, das war ihnen genug. Sie hofften auf den nachsten Tag und fuhlten sich geborgen. In dieser Stadt, die alle Emigranten des Jahrhunderts aufgenommen hatte, wehte der Geist der Duldung; man konnte in ihr verhungern, aber man wurde nur so viel verfolgt, wie unbedingt notwendig war – und das erschien ihnen schon viel.
Marill nahm sie an einem Sonntagnachmittag, als es keinen Eintritt kostete, mit in den Louvre. »Ihr braucht im Winter etwas, um eure Zeit hinzubringen«, sagte er. »Das Problem des Emigranten ist der Hunger, die Bleibe und die Zeit, mit der er nichts anfangen kann, weil er nicht arbeiten darf. Der Hunger und die Sorge, wo er bleiben kann, das sind zwei Todfeinde, gegen die er kampfen mu? – aber die Zeit, die viele leere, ungenutzte Zeit ist der schleichende Feind, der seine Energie zerfri?t, das Warten, das ihn mude macht, die schattenhafte Angst, die ihn lahmt. Die beiden andern fallen ihn von vorne an, und er mu? sich wehren oder untergehen – aber die Zeit kommt von hinten und zersetzt ihm das Blut. Ihr seid jung. Hockt nicht in den Cafes, jammert nicht, werdet nicht mude. Wenn’s mal schlimm wird, geht in den gro?en Wartesaal von Paris: den Louvre. Er ist gut geheizt im Winter. Besser vor einem Delacroix, einem Rembrandt oder einem van Gogh zu trauern als vor einem Schnaps oder im Kreise ohnmachtiger Klage und Wut. Das sage ich euch, Marill, der auch lieber vor einem Schnaps sitzt. Sonst wurde ich euch diese lehrhafte Rede nicht halten.«
Sie wanderten durch das gro?e Kunstdammer des Louvre – vorbei an den Jahrhunderten, vorbei an den steinernen Konigen Agyptens, den Gottern Griechenlands, den Casaren Roms – vorbei an babylonischen Altaren, an persischen Teppichen und ?amischen Gobelins – vorbei an den Bildern der gro?ten Herzen, an Rembrandt, Goya, Greco, Leonardo, Durer – durch endlose Sale und Korridore, bis sie zu den Raumen kamen, wo die Bilder der Impressionisten hingen.
Sie setzten sich auf eines der Sofas, die in der Mitte standen. Von den Wanden leuchteten die Landschaften Cezannes, van Goghs und Monets, die Tanzerinnen Degas’, die pastellhaften Frauenkopfe Renoirs und die farbigen Szenen Manets. Es war still, und niemand au?er ihnen war da, und allmahlich erschien es Kern und Ruth, als sa?en sie in einem verzauberten Turm, und die Bilder seien Fenster zu fernen Welten – zu Garten ernster Lebensfreude, zu weiten Gefuhlen, zu gro?en Traumen und zu einer unzerstorbaren Landschaft der Seele, jenseits von Willkur, Angst und Rechtlosigkeit.
»Emigranten!« sagte Marill. »Die alle dort waren auch Emigranten! Gejagt, verlacht, ’rausgeschmissen, ohne Bleibe oft, verhungert, manche angepobelt und ignoriert von ihren Zeitgenossen, elend gelebt, elend gestorben – aber seht euch an, was sie geschaffen haben! Die Kultur der Welt! Das wollte ich euch zeigen.«
Er nahm seine Brille herab und putzte sie umstandlich. »Was ist Ihr starkster Eindruck bei diesen Bildern?« fragte er Ruth.
»Der Friede«, sagte sie sofort.
»Der Friede. Ich dachte, sie wurden sagen: die Schonheit. Aber es ist wahr – Friede ist heute Schonheit. Besonders fur uns. Und Ihrer, Kern?«
»Ich wei? nicht«, sagte Kern,»ich mochte eins davon haben und es verkaufen, damit wir was zu leben haben.«
»Sie sind ein Idealist«, erwiderte Marill.
Kern sah ihn mi?trauisch an. »Ich meine das ernst«, sagte Marill.
»Ich wei?, da? es dumm ist. Aber es ist Winter, und ich wurde Ruth einen Mantel kaufen.«
Kern kam sich ziemlich toricht vor; aber ihm ?el wirklich nichts anderes ein, und er hatte die ganze Zeit dran gedacht. Zu seiner Uberraschung fuhlte er plotzlich Ruths Hand in seiner. Sie strahlte ihn an und lehnte sich fest gegen ihn.
Marill setzte seine Brille wieder auf. Dann blickte er sich um. »Der Mensch ist gro? in seinen Extremen«, sagte er. »In der Kunst, in der Liebe, in der Dummheit, im Ha?, im Egoismus und sogar im Opfer – aber das, was der Welt am meisten fehlt, ist eine gewisse mittlere Gute.«
KERN UND RUTH hatten ihr Abendessen beendet. Es bestand aus Kakao und Brot und war seit einer Woche ihre einzige Mahlzeit, abgesehen von der Tasse Kaffee und den zwei Brioches morgens, die Kern in den Zimmerpreis mit eingehandelt hatte. »Das Brot schmeckt heute nach Beefsteak«, sagte Kern. »Nach gutem, saftigem Beefsteak mit gebratenen Zwiebeln dran.«
»Ich fand, es schmeckte nach Huhn«, erwiderte Ruth. »Nach jungem Brathuhn mit frischem, grunem Salat dazu.«
»Moglich. Vielleicht auf deiner Seite. Gib mir eine Scheibe von da. Ich kann gut noch etwas Brathuhn vertragen.«
Ruth schnitt eine dicke Scheibe des langen franzosischen Wei?brots ab. »Hier«, sagte sie. »Es ist ein Schenkelstuck. Oder willst du lieber Brust?«
Kern lachte. »Ruth, wenn ich dich nicht hatte, wurde ich jetzt mit Gott hadern!«
»Und ich wurde ohne dich im Bett liegen und heulen.«
Es klopfte. »Brose«, sagte Kern ziemlich gemutlos. »Naturlich, gerade im Moment zartester Liebesbekenntnisse!«
»Herein!« rief Ruth.
Die Tur offnete sich. »Nein!« sagte Kern. »Das ist doch unmoglich! Ich traume!« Er stand so vorsichtig auf, als wolle er ein Phantom nicht verscheuchen. »Steiner«, stammelte er. Das Phantom grinste. »Steiner!« rief Kern. »Herr des Himmels, es ist Steiner!«
»Ein gutes Gedachtnis ist die Grundlage der Freundschaft – und der Verderb der Liebe«, erwiderte Steiner. »Entschuldigen Sie, Ruth, da? ich mit einer Sentenz eintrete – aber ich habe unten eben meinen alten Bekannten Marill getroffen. Da ist so was unvermeidlich.«
»Wo kommst du her?« fragte Kern. »Direkt aus Wien?«
»Aus Wien. Auf dem Umweg uber Murten.«
»Was?« Kern trat einen Schritt zuruck. »Uber Murten?«
Ruth lachte. »Murten ist der Ort unserer Schmach, Steiner. Ich bin dort krank geworden – und diesen alten Grenzwanderer hat die Polizei erwischt. Ein ruhmloser Name fur uns – Murten.«
Steiner schmunzelte. »Deshalb war ich da! Ich habe euch geracht, Kinder.« Er holte seine Brieftasche hervor und zog sechzig Schweizer Franken heraus. »Hier. Das sind vierzehn Dollar oder etwa dreihundertfunfzig franzosische Francs. Ein Geschenk Ammers’.«
Kern sah ihn verstandnislos an. »Ammers?« sagte er. »Dreihundertfunfzig Francs?«
»Ich erklare dir das spater, Knabe. Steck es ein. Und nun la?t euch mal ansehen!« Er musterte beide. »Hohlwangig, unterernahrt, Kakao mit Wasser als Abendbrot – und keinem hier was gesagt, wie?«
»Noch nicht«, erwiderte Kern. »Immer, wenn es nahe daran war, lud Marill uns zum Essen ein. Als hatte er einen sechsten Sinn.«
»Er hat noch einen mehr. Fur Bilder. Hat er euch nach dem Essen nicht ins Museum geschleppt? Das ist gewohnlich die Bu?e dafur.«