Sie sa?en in der Kantine der Weltausstellung. Es war Zahltag gewesen. Kern legte die dunnen Papierscheine rund um seinen Teller. »Zweihundertsiebzig Francs!« sagte er. »In einer Woche verdient! Und das schon zum drittenmal! Es ist ein glattes Marchen.«
Marill betrachtete ihn eine Weile amusiert. Dann hob er sein Glas Steiner entgegen. »Wir wollen einen Schluck des Abscheus auf das Papier trinken, lieber Huber! Es ist erstaunlich, was fur eine Macht es uber den Menschen bekommen hat! Unsere Urvater zitterten vor Donner und Blitz, vor Tigern und Erdbeben – unsere Mittelvater vor Schwertern, Raubern, Seuchen und Gott – wir aber zittern vor dem bedruckten Papier – sei es als Geldschein oder als Pa?. Der Neandertaler wurde mit der Keule erschlagen; der Romer mit dem Schwert; der Mensch des Mittelalters mit der Pest – uns aber kann man schon mit einem Stuck Papier ausloschen.«
»Oder zum Leben bringen«, erganzte Kern und betrachtete die Noten der Bank von Frankreich rund um seinen Teller.
Marill sah ihn schief an. »Was sagst du zu diesem Knaben?« fragte er Steiner. »Macht sich, was?«
»Und wie! Er gedeiht im rauhen Wind der Fremde. Mordet sogar schon Pointen.«
»Ich kannte ihn noch als Kind«, erklarte Marill. »Zart und trostbedurftig. Vor ein paar Monaten.«
Steiner lachte. »Er lebt in einem labilen Jahrhundert. Da kommt man leicht um – aber man wachst auch schnell.«
Marill nahm einen Schluck des leichten, roten Weins. »Ein labiles Jahrhundert!« wiederholte er. »Die gro?e Unruhe! Ludwig Kern, ein junger Wandale der zweiten Volkerwanderung.«
»Stimmt nicht«, erwiderte Kern. »Ich bin ein junger Halbhebraer beim zweiten Auszug aus Agypten!«
Marill sah Steiner anklagend an. »Dein Schuler, Huber«, sagte er.
»Nein – das Aphoristische hat er von dir, Marill! Im ubrigen erhoht ein sicherer Wochenlohn den Witz jedes Menschen. Es lebe die Heimkehr der verlorenen Sohne zum Gehalt!« Steiner wandte sich an Kern. »Steck das Geld in die Tasche, Baby, sonst ?iegt es weg. Geld siebt das Licht nicht.«
»Ich werde es dir geben«, sagte Kern. »Dann ist es gleich weg. Du bekommst ohnehin noch viel mehr von mir zuruck.«
»Untersteh dich! Um Geld zuruckzunehmen, bin ich noch lange nicht reich genug!«
Kern sah ihn an. Dann steckte er das Geld in die Tasche. »Wie lange sind heute die Geschafte offen?« fragte er.
»Warum?«
»Heute ist doch Silvester.«
»Bis sieben, Kern«, sagte Marill. »Wollen Sie Schnaps einkaufen fur heute abend? Der ist hier in der Kantine billiger. Ausgezeichneter Martinique-Rum.«
»Nein, keinen Schnaps.«
»Aha! Sie wollen dann anscheinend wohl am letzten Tage des Jahres auf den Pfaden burgerlicher Sentiments wandeln, was?«
»So ungefahr.« Kern stand auf. »Ich will zu Salomon Levi. Vielleicht ist er heute auch sentimental und hat labilere Preise.«
»In labilen Jahrhunderten steigen die Preise«, erwiderte Marill. »Aber immer los, Kern! Gewohnheit ist nichts – Impuls alles! Und vergessen Sie uber dem Schachern nicht, um acht Uhr ist das Abendessen der alten Krieger der Emigration bei der Mere Margot!«
SALOMON LEVI WAR ein behendes, wieselartiges Mannchen mit einem schutteren Ziegenbart. Er hauste in einem dunklen, gewolbeartigen Raum, zwischen Uhren, Musikinstrumenten, gebrauchten Teppichen, Olgemalden, Hausrat, Gipszwergen und Porzellantieren. Im Schaufenster waren billige Imitationen, kunstliche Perlen, silbergefa?ter alter Schmuck, Taschenuhren und alte Munzen sinnlos durcheinander aufgestapelt.
Levi erkannte Kern sofort wieder. Er hatte ein Gedachtnis wie ein Hauptbuch und schon manches gute Geschaft dadurch gemacht.
»Was gibt’s?« fragte er sofort kampfbereit, weil er ohne weiteres annahm, Kern wollte wieder etwas verkaufen. »Sie kommen zu einer schlechten Zeit!«
»Wieso? Haben Sie den Ring schon verkauft?«
»Verkauft, verkauft?« jammerte Levi. »Verkauft sagen Sie, wenn ich mich nicht verhort habe. Oder habe ich mich geirrt?«
»Nein.«
»Junger Mann«, zeterte Levi weiter,»lesen Sie denn keine Zeitungen? Leben Sie auf dem Mond und wissen Sie nicht, was in der Welt vorgeht? Verkauft! So alten Plunder! Verkauft! Wie Sie das sagen, so gro?machtig dahin, wie der Rothschild. Wissen Se, was dazu gehort, da? mer was verkauft?« Er machte eine Kunstpause und erklarte dann pathetisch:»Da? ein femder Mensch kommt und was haben will und da? er dann seine Borse aus der Tasche zieht…«, Levi holte ein Portemonnaie hervor,»sie offnet«- er offnet es -»und bares, koscheres Geld herausnimmt«- er zuckte einen Zehnfrankenschein -,»es hinlegt«- der Schein wurde auf dem Tisch glattgestrichen -»und dann die Hauptsache«- Levis Stimme kletterte ins Falsett -,»sich dauernd von ihm trennt!« Levi steckte den Schein wieder ein. »Und wofur? Fur irgendeinen Fummel, irgend’ne Sache. Bares, koscheres Geld! Da? ich nicht lache! Nur Verruckte und Gojim machen so was. Oder ich Ungluckseliger mit meiner Leidenschaft furs Geschaft. Also was haben Sie diesmal? Viel kann ich nicht geben. Ja, vor vier Wochen, das waren noch Zeiten!«
»Ich will nichts verkaufen, Herr Levi. Ich mochte den Ring wiederkaufen.«
»Was?« Levi sperrte einen Moment den Mund auf, wie eine hungrige Goldammer im Nest. Der Bart war das Nest. »Ah, ich wei? schon, tauschen wollen Se. Nee, junger Mann, das kenn’ ich! Ich habe vor ’ner Woche noch Pech damit gehabt, ’ne Uhr, gut, sie ging nicht mehr, aber Uhr ist Uhr schlie?lich, gegen ein bronzenes Tischschreibzeug und einen Fullfederhalter mit Goldspitze. Was soll ich Ihnen sagen? ’reingelegt haben se mich vertrauensseligen Narren – der Fullfederhalter funktioniert nicht. Gut, die Uhr geht auch hochstens a Viertelstund, aber es is doch langst nicht dasselbe, wenn a Uhr nich geht oder a Fullhalter. A Uhr bleibt a Uhr trotzdem, aber a Fullhalter, der leer ist, haben Sie Gedanken? Das ist doch a Widersinn, das is doch, als war’ er gar nich da. Was wollten Se denn tauschen?«
»Gar nichts, Herr Levi. Ich habe kaufen gesagt. Kaufen.«
»Mit Geld?«
»Ja, mit barem Geld.«
»Aha, ich wei? schon! Irgendso ungarisches oder rumanisches oder entwertetes osterreichisches Geld oder In?ationsscheine naturlich, wer kennt sich denn da aus! Erst neulich hat so einer mit’m gewichsten Schnurrbart wie Karl der Gro?e…«
Kern holte einen Hundertfrancschein hervor und legte seine Brieftasche auf den Tisch. Levi erstarrte und stie? einen hohen P?ff aus. »Sie sind bei Kasse? Das erstemal, da? ich so was sehe! Junger Mann, die Polizei…«
»Verdient!« sagte Kern. »Ehrlich verdient. Und nun, wo ist der Ring?«
»Momenterl!« Levi rannte fort und kam mit dem Ring von Ruths Mutter zuruck. Er putzte ihn mit seinem Rockarmel blank, blies behutsam darauf, putzte ihn noch einmal und legte ihn dann auf ein Stuck Samt, als ware er ein zwanzigkaratiger Diamant. »A scheenes Stick«, sagte er andachtig. »A wirkliche Raritat!«
»Herr Levi«, sagte Kern. »Sie haben uns damals hundertfunfzig Francs fur den Ring gegeben. Wenn ich Ihnen hundertachtzig wiedergebe, haben Sie zwanzig Prozent verdient. Das ist ein guter Vorschlag, was?«
Levi horte nichts. »Ein Stuck zum Verlieben«, traumte er verzuckt. »Kein moderner Schund. Ware! Reelle Ware! Ich wollte es selbst behalten. Ich habe so a kleine Sammlung, privat, fur mich personlich!«
Kern zahlte hundertachtzig Francs auf den Tisch.
»Geld!« sagte Levi verachtlich,»was ist heute Geld? Bei der Entwertung! Sachwerte, das ist richtig. So a Ringelchen, da hat man Freude daran, und es steigt noch im Wert. Doppelte Freude! Und grad Gold ist so gestiegen«, meinte er sinnend. »Vierhundert Francs ware billig fur so ein schones Stuck. Liebhaberpreise konnt man dafur haben!«
Kern erschrak. »Herr Levi!«
»Ich bin ein Mensch«, sagte Levi entschlossen,»ich trenne mich. Ich will Ihnen die Freude machen. Ich will nichts verdienen, weil heute Silvester ist! Dreihundert Francs, fertig, und wenn ich verblute.«
»Das ist ja das Doppelte!« sagte Kern emport.
»Das Doppelte! Das sagen Sie so dahin, ohne zu wissen, was Sie reden. Das Doppelte ist die Halfte, sagt schon der Rabbi Michael von Howorodka irgendwo. Haben Sie schon mal was von Spesen gehort, junger Mann?