Das kostet und kostet! Steuern, Miete, Kohlen, Abgaben, Verluste! Fur Sie ist das nichts, aber fur mich is es enorm! Das kommt jeden Tag dazu auf so a Ringelchen!«
»Ich bin ein armer Teufel, ein Emigrant…«
Levi winkte ab. »Wer ist kein Emigrant? Wer kaufen will, ist immer reicher, als wer verkaufen mu?. Na, und wer von uns beiden will kaufen?«
»Zweihundert Francs«, sagte Kern,»und das ist das letzte.«
Levi nahm den Ring, blies darauf und trug ihn fort. Kern steckte das Geld ein und ging zur Tur. Als er sie offnete, schrie Levi von hinten:»Zweihundertfuffzich, weil Sie jung sind und ich ein Wohltater sein will!«
»Zweihundert«, gab Kern von der Tur zuruck.
»Schalom alechem!« gru?te Levi.
»Zweihundertzwanzig.«
»Zweihundertfunfundzwanzig, ehrlich und treu, weil ich morgen Miete zahlen mu?.«
Kern kehrte zuruck und legte das Geld hin. Levi packte den Ring in einen kleinen Pappkasten. »Das Schachtelchen haben Se gratis«, sagte er,»und die hubsche blaue Watte auch. Ruiniert haben Sie mich!«
»Funfzig Prozent«, knurrte Kern. »Wucherer!«
Levi nahm das letzte Wort gar nicht zur Kenntnis. »Glauben Sie mir«, erwiderte er lediglich treuherzig,»in der Rue de la Paix bei Cartier kostet so ein Ring sechshundert. Wert ist er dreihundertfunfzig. Diesmal stimmt’s.«
Kern fuhr zuruck zum Hotel. »Ruth!« sagte er in der Tur. »Es geht machtig aufwarts mit uns! Hier! Der letzte Mohikaner ist heimgekehrt.«
Ruth offnete die Schachtel und sah hinein. »Ludwig«, sagte sie.
»Unnutze Dinge, weiter nichts!« erklarte Kern schnell und verlegen. »Wie sagt Steiner? Sollen die meiste Warme geben. Wollte es auch mal versuchen. Und nun setz ihn auf! Wir essen heute alle zusammen in einem Restaurant. Wie richtige Arbeiter mit Wochenlohn!«
Es war zehn Uhr abends. Steiner, Marill, Ruth und Kern sa?en in der »Mere Margot«. Die Kellner begannen die Stuhle zusammenzustellen und mit Reisigbesen und Wasser den Boden zu fegen. Die Katze an der Kasse dehnte sich und sprang herab.
Die Patronne schlief, fest in eine Strickjacke gewickelt. Nur ab und zu offnete sie ein wachsames Auge.
»Ich glaube, man will uns hier herausschmei?en«, sagte Steiner und winkte dem Kellner. »Es wird auch Zeit. Wir mussen zu Edith Rosenfeld. Vater Moritz ist heute angekommen.«
»Vater Moritz?« fragte Ruth. »Wer ist das?«
»Vater Moritz ist der Veteran der Emigranten«, erwiderte Steiner. »Funfundsiebzig Jahre alt, kleine Ruth. Kennt alle Grenzen, alle Stadte, alle Hotels, alle Pensionen und Privatquartiere, in denen man unangemeldet wohnen kann, und die Gefangnisse von funf Kulturstaaten. Er hei?t Moritz Rosenthal und stammt aus Godesberg am Rhein.«
»Dann kenn’ ich ihn«, sagte Kern. »Ich bin einmal mit ihm von der Tschechoslowakei nach Osterreich gegangen.«
»Ich mit ihm von der Schweiz nach Italien«, sagte Marill.
Der Kellner brachte die Rechnung. »Ich habe mit ihm auch ein paar Grenzen gemacht«, sagte Steiner. »Haben Sie eine Flasche Kognak zum Mitnehmen?« fragte er dann den Kellner. »Courvoisier? Zum Ladenpreis naturlich.«
»Einen Moment. Ich werde die Patronne fragen.«
Der Kellner ging zu der schlafenden Strickjacke hinuber. Sie offnete ein Auge und nickte. Der Kellner kam zuruck, holte eine Flasche von den Regalen und gab sie Steiner, der sie in die Seitentasche seines Mantels steckte.
In diesem Augenblick ging die Tur zur Stra?e auf, und eine schattenhafte Gestalt trat ein. Die Patronne fuhr sich uber den Mund, gahnte und offnete beide Augen.
Die Kellner machten argerliche Gesichter.
Der Mann, der hereingekommen war, ging schweigend wie ein Mondsuchtiger durch die ganze Wirtsstube zu dem gro?en Rost hinuber, an dem uber gluhenden Holzkohlen sich ein paar Brathuhner am Spie? drehten.
Der Mann examinierte die Huhner mit Rontgenaugen. »Was kostet das da?« fragte er dann den Kellner.
»Sechsundzwanzig Francs.«
»Und das da?«
»Sechsundzwanzig Francs.«
»Kosten alle sechsundzwanzig Francs?«
»Ja.«
»Warum sagen Sie mir das nicht gleich?«
»Weil Sie mich nicht gleich danach gefragt haben.«
Der Mann sah auf. Durch das Mondsuchtige brach einen Moment eine gesunde Wut durch. Dann deutete er auf das gro?te Huhn. »Geben Sie mir das da!«
Kern stie? Steiner an. Steiner sa? aufmerksam da. Um seinen Mund zuckte es.
»Mit Salat, Bratkartoffeln, Reis?« fragte der Kellner.
»Mit nichts. Mit Messer und Gabel. Geben Sie es her.«
»Das Poulet!« sagte Kern leise. »Das alte Poulet, tatsachlich!«
Steiner nickte. »Er ist es! Das Poulet aus dem Gefangnis in Wien.«
Der Mann lie? sich an einem Tisch nieder. Er nahm seine Brieftasche heraus und uberzahlte sein Geld. Dann steckte er sie wieder fort und entfaltete feierlich die Serviette. Vor ihm prangte das gebratene Huhn. Der Mann hob die Hande wie ein Priester, als wolle er es segnen. Eine strahlende, wilde Genugtuung umschwebte ihn. Dann hob er es von der Schussel auf seinen Teller hinuber.
»Wir wollen ihn nicht storen«, grinste Steiner leise. »Er hat sich sein Brathuhn sicher hart verdient.«
»Im Gegenteil, ich schlage vor, da? wir sofort ?uchten!« erwiderte Kern. »Ich habe ihn bisher zweimal erlebt. Beide Male im Gefangnis. Jedesmal war er verhaftet worden im Moment, wo er ein Brathuhn essen wollte. Danach mu? die Polizei jede Sekunde kommen!«
Steiner lachte. »Dann aber los! Lieber bei der Silvesterfeier der vom Schicksal Enterbten als in der Polizeiwache der Prafektur!«
Sie brachen auf. An der Tur sahen sie sich noch einmal um. Das Poulet loste gerade einen braunen, knusprigen Schenkel vom Korper des Huhnes los, betrachtete ihn wie ein Pilger das Heilige Grab und bi? andachtig, dann aber entschlossen und mit einer ungeheuren Gefra?igkeit hinein.
EDITH ROSENFELD WAR eine zierliche, wei?haarige Frau von Sechsundsechzig Jahren. Sie war vor zwei Jahren mit sieben Kindern nach Paris gekommen. Sechs davon hatte sie untergebracht. Der alteste Sohn war als Arzt in den chinesischen Krieg gegangen, die alteste Tochter, die Philologin in Bonn gewesen war, hatte durch die Fluchtlingshilfe eine Stelle als Dienstmadchen in Schottland bekommen, der zweite Sohn hatte in Paris sein franzosisches Staatsexamen in Jura gemacht; als er keine Praxis fand, war er Kellner im Carlton Hotel in Cannes geworden, der dritte hatte sich in die Fremdenlegion gemeldet, der nachste war nach Bolivien ausgewandert, und die zweite Tochter lebte auf einer Orangenp?anzung in Palastina. Ubriggeblieben war nur noch der jungste Sohn. Fur ihn suchte die Fluchtlingshilfe eine Moglichkeit, als Chauffeur nach Mexiko zu kommen.
Die Wohnung Edith Rosenfelds bestand aus zwei Zimmern – einem gro?eren fur sie und einem kleinen, in dem der letzte Sohn, der Autofanatiker Max Rosenfeld, wohnte. Als Steiner, Marill, Kern und Ruth ankamen, waren schon ungefahr zwanzig Personen in den beiden Zimmern versammelt – alles Fluchtlinge aus Deutschland, einige mit, die meisten ohne Arbeitserlaubnis. Diejenigen, die es sich leisten konnten, hatten etwas zu trinken mitgebracht. Fast alle den billigen franzosischen Rotwein. Steiner und Marill sa?en wie zwei Eckpfeiler dazwischen mit Kognak. Sie schenkten freigebig davon ein, um uber?ussige Sentimentalitat zu verhuten.
Moritz Rosenthal kam um elf Uhr. Kern kannte ihn kaum wieder. Er schien zehn Jahre alter geworden zu sein in kaum einem Jahr. Sein Gesicht war gelb, ohne einen Tropfen Blut, und er ging muhsam an einem Ebenholzstock mit einer altmodischen Elfenbeinkrucke.
»Edith, meine alte Liebe«, sagte er,»da bin ich wieder. Ich konnte nicht fruher kommen. Ich war sehr mude.«
Er beugte sich nieder, um ihr die Hand zu kussen. Es gelang ihm nicht. Edith Rosenfeld stand auf. Sie war leicht wie ein Vogel. Sie hielt seine Hand und ku?te ihn auf die Wange.