»Ich glaube, ich werde alt«, sagte Moritz Rosenthal. »Ich kann dir nicht mehr die Hand kussen. Du aber ku?t mich furchtlos auf die Wange. Ja, wenn ich noch siebzig ware!«
Edith Rosenfeld sah ihn an und lachelte. Sie wollte ihm nicht zeigen, wie erschrocken sie daruber war, da? er so elend aussah. Und Moritz Rosenthal zeigte ihr nicht, da? er wu?te, wie erschrocken sie war. Er war ruhig und heiter, und er war nach Paris gekommen, um zu sterben.
Er sah sich um. »Bekannte Gesichter«, sagte er. »Wer nirgendwo hingehort, trifft sich uberall wieder. Sonderbare Geschichte! Steiner, wo war es doch das letztemal mit uns? In Wien, richtig! Und Marill! In Brissago und spater Locarno, in Polizeihaft, nicht wahr? Und da ist auch Klassmann, der Sherlock Holmes von Zurich! Ja, mein Gedachtnis funktioniert immer noch einigerma?en. Und Waser! Brose! Und Kern aus der Tschechei! Meyer, der Freund der Carabinieri in Pallanza! Gott ja, Kinder, die alten schonen Zeiten! Jetzt geht’s nicht mehr so. Die Beine wollen nicht mehr.«
Er setzte sich umstandlich hin. »Woher kommen Sie jetzt, Vater Moritz?« fragte Steiner.
»Von Basel. Kinder, ich sage euch eins: meidet das Elsa?! Seid vorsichtig in Stra?burg und ?ieht vor Kolmar! Zuchthausatmosphare. Matthias Grunewald und der Isenheimer Altar haben nichts vermocht. Drei Monate Gefangnis fur illegale Einreise; jedes andere Gericht verurteilt hochstens zu funfzehn Tagen. Beim zweitenmal sechs Monate. Und die Gefangnisse sind Zuchthauser. Also meidet Kolmar und das Elsa?, Kinder. Geht uber Genf!«
»Wie ist Italien jetzt?« fragte Klassmann.
Moritz Rosenthal nahm ein Glas Rotwein, das Edith Rosenfeld vor ihn hingestellt hatte. Seine Hande zitterten stark, als er es hob. Er schamte sich und stellte es wieder zuruck. »Italien ist voll deutscher Agenten«, sagte er. »Nichts mehr fur uns zu machen.«
»Und Osterreich?« fragte Waser.
»Osterreich und die Tschechoslowakei sind Mausefallen. Frankreich ist das einzige Land, das ubriggeblieben ist fur uns in Europa. Seht zu, da? ihr hier bleibt.«
»Hast du etwas von Mary Altmann gehort, Moritz?« fragte Edith Rosenfeld nach einer Weile. »Sie war zuletzt in Mailand.«
»Ja. Sie ist jetzt in Amsterdam als Dienstmadchen. Ihre Kinder sind in einem Emigrantenheim in der Schweiz. In Locarno, glaube ich. Ihr Mann ist in Brasilien.«
»Hast du sie schon gesprochen?«
»Ja, kurz vor ihrer Abreise in Zurich. Sie war uberglucklich, da? alle untergebracht sind.«
»Wissen Sie etwas von Josef Fessler?« fragte Klassmann. »Er wartete in Zurich auf eine Aufenthaltserlaubnis.«
»Fessler hat sich mit seiner Frau erschossen«, erwiderte Moritz Rosenthal so ruhig, als erzahlte er etwas uber Bienenzucht. Er sah Klassmann nicht an. Er blickte auf die Tur. Klassmann antwortete nicht. Auch niemand von den andern. Es war nur einen Moment still. Jeder tat, als habe er nichts gehort.
»Haben Sie Josef Friedmann irgendwo getroffen?« fragte Brose.
»Nein, aber ich wei?, da? er in Salzburg im Gefangnis ist. Sein Bruder ist nach Deutschland zuruckgegangen. Er soll jetzt in einem Schulungs-Konzentrationslager sein.«
Moritz Rosenthal nahm sein Glas mit beiden Handen, vorsichtig wie einen Pokal, und trank langsam.
»Was macht eigentlich der Minister Althoff?« fragte Marill.
»Dem geht es glanzend. Er ist Taxichauffeur in Zurich geworden. Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis.«
»Naturlich!« sagte der Kommunist Waser.
»Und Bernstein?«
»Bernstein ist in Australien. Sein Vater in Ostafrika. Max May hat besonderes Gluck gehabt; er ist Assistent eines Zahnarztes in Bombay geworden. Schwarz naturlich, aber er hat zu essen. Lowenstein hat alle englischen Anwaltsexamina nachgemacht und ist jetzt Advokat in Palastina. Der Schauspieler Hansdorff ist am Staatstheater in Zurich. Storm hat sich erhangt. Kanntest du den Regierungsrat Binder in Berlin, Edith?«
»Ja.«
»Er hat sich scheiden lassen. Der Karriere wegen. Er war mit einer Oppenheimer verheiratet. Die Frau hat sich mit ihren beiden Kindern vergiftet.
Moritz Rosenthal dachte eine Zeitlang nach. »Das ist ungefahr alles, was ich wei?«, sagte er dann. »Die andern irren umher wie immer. Es sind nur noch viel mehr geworden.«
Marill schenkte sich einen Kognak ein. Er benutzte ein Wasserglas dazu, das die Aufschrift trug: Gare de Lyon. Es war eine Erinnerung an seine erste Verhaftung, und er schleppte es immer mit sich herum. Er trank das Glas mit einem Ruck aus. »Eine aufschlu?reiche Chronik!« erklarte er dann. »Es lebe die Vernichtung des Individuums! Bei den alten Griechen war Denken eine Auszeichnung. Dann wurde es ein Gluck. Spater eine Krankheit. Heute ist es ein Verbrechen. Die Geschichte der Kultur ist die Leidensgeschichte derer, die sie schufen.«
Steiner grinste ihn an. Marill grinste zuruck. Im selben Augenblick begannen drau?en die Glocken zu lauten. Steiner blickte in die Gesichter rundum – die vielen kleinen Schicksale, die vom Wind des Schicksals hierher zusammengeweht worden waren -, und er hob sein Glas. »Vater Moritz!« sagte er. »Konig der Wanderer, letzter Nachkomme Ahasvers, ewiger Emigrant, sei uns gegru?t! Wei? der Teufel, was dieses Jahr uns bringen wird! Es lebe die unterirdische Brigade! Solange man da ist, ist nichts verloren!«
Moritz Rosenthal nickte. Er hob sein Glas Steiner entgegen und trank. Im Hintergrund des Zimmers lachte jemand. Dann wurde es still. Alle sahen sich mit verlegenen Gesichtern an, als seien sie auf etwas Verbotenem ertappt worden. Von drau?en auf der Stra?e kamen Rufe. Feuerwerk knallte. Taxis hupten larmend voruber. Auf einem Balkon des Hauses gegenuber brannte ein kleiner Mann in Weste und Hemdsarmeln eine Schale mit Grunfeuerpulver ab. Die ganze Front leuchtete auf. Das grune Licht blendete in das Zimmer Edith Rosenfelds hinein und machte es unwirklich – als ware es nicht mehr ein Raum in einem Hotel in Paris, sondern eine Kabine in einem versunkenen Schiff, tief unter Wasser.
DIE SCHAUSPIELERIN BARBARA Klein sa? in einer Ecke an einem Tisch in der Katakombe. Es war spat, und nur zwei elektrische Birnen uber den Durchgangsturen brannten noch. Sie sa? in einem Sessel vor einem Palmenarrangement, und wenn sie sich zurucklehnte, griffen die Palmblatter wie starre Hande in ihr Haar. Sie fuhlte es jedesmal und zuckte mit dem Kopf – aber sie hatte nicht mehr die Kraft, aufzustehen und sich anderswo hinzusetzen.
Von der Kuche her kam der Larm von Geschirr und die jammernde Akkordeonmusik eines Radios. Station Toulouse, dachte Barbara Klein. Station Toulouse. Ein neues Jahr. Ich bin mude. Station Toulouse. Ich will nicht mehr leben. Station Toulouse. Was wu?ten sie alle davon, wie mude man sein konnte.
Ich bin nicht betrunken, dachte sie. Meine Gedanken sind nur schon langsamer. Langsam wie die Fliegen im Winter, in denen der Tod wachst. Er wachst wie ein Baum in mir. Er wachst wie ein Baum von Adern, die allmahlich erfrieren. Jemand hat mir ein Glas Kognak gegeben. Der, den sie Marill nennen, oder der andere, der dann weggegangen ist. Ich sollte warm sein. Aber ich bin nicht einmal kalt. Ich fuhle mich nur nicht mehr.
Sie sa? da und sah wie durch eine Glaswand jemand auf sich zukommen. Er kam naher, und sie sah ihn nun genauer; aber es war immer noch Glas dazwischen. Sie erkannte ihn jetzt; es war der, der neben ihr gesessen hatte im Zimmer von Edith Rosenfeld. Er hatte ein scheues, undeutliches Gesicht mit gro?en Brillenglasern und einem verzogenen Mund gehabt und unruhige Hande und er hinkte – aber jetzt hinkte er durch das Glas und hinter ihm schlug es weich und schillernd wieder zusammen wie ein Gelee aus ?ussigem Glas.
Es dauerte lange, ehe sie etwas von dem verstand, was er sagte. Sie sah ihn weggehen mit seinem hinkenden Gang, als schwimme er, und sie sah ihn wiederkommen und neben sich sitzen, und sie trank, was er ihr gab, und sie fuhlte nicht, da? sie es schluckte. In ihren Ohren war ein sanftes Brausen und dazwischen die Stimme, Worte, nutzlose, sinnlose Worte, weither, von einem anderen Ufer. Und dann war es plotzlich kein Mensch mehr, hei?, ?eckig und unruhig, der vor ihr war – es war nur noch irgend etwas Armseliges, sich Bewegendes, etwas Verprugeltes, Flehendes, es waren nur noch gehetzte, verlangende Augen, irgendein Tier, gefangen in dieser Einsamkeit aus Glas und Station Toulouse und fremder Nacht.
»Ja«, sagte sie,»ja…«
Sie wollte, da? er ginge und sie allein lie?e, nur einen Augenblick noch, ein paar Minuten, ein kleines Stuck von der langen Ewigkeit, die vor ihr lag – doch da stand er schon auf und stand vor ihr und beugte sich herunter und nahm ihren Arm und zog sie hoch und zog sie fort, und sie watete durch den Glasschlamm und folgte, und