die ein Jahr schon etwas Unendliches und fast Unausdenkbares war, und sie spurten etwas wie eine schattenhafte Angst: da? alles verging und vergehen mu?te und da? es auch nach ihnen einmal greifen wurde…
Edith Rosenfeld stand auf und beugte sich uber Moritz Rosenthal. Er schlief. Sie betrachtete das gro?e Greisengesicht eine Zeitlang. »Kommt«, sagte sie dann,»wir wollen ihn schlafen lassen.«
Sie loschte das Licht aus, und sie gingen ohne Gerausch hinaus auf den ?nsteren Korridor und tappten zu ihrem Zimmer hinuber.
KERN FUHR GERADE eine schwere Karre voll Erde vom Pavillon fort zu Marill hinuber, als er von zwei Herren angehalten wurde.
»Einen Moment, bitte! Sie auch«, sagte der eine zu Marill.
Kern stellte umstandlich die Karre zu Boden. Er wu?te, was los war. Diesen Ton kannte er; in der ganzen Welt ware er sofort aus tiefstem Schlaf aufgesprungen, wenn er diesen leisen, ho?ichen und unerbittlichen Ton neben seinem Bett gehort hatte.
»Wollen Sie uns, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?«
»Ich habe sie nicht bei mir«, erwiderte Kern.
»Wollen Sie uns vorher, bitte, Ihre Ausweispapiere zeigen?« sagte Marill.
»Aber gewi?, gern! Hier, das genugt wohl, nicht wahr? Polizei. Der Herr ist Kontrolleur des Arbeitsministeriums. Sie verstehen: die gro?e Anzahl franzosischer Arbeitsloser zwingt uns zu einer Kontrolle…«
»Ich verstehe, mein Herr. Ich kann Ihnen leider nur eine Aufenthaltserlaubnis zeigen; eine Arbeitserlaubnis habe ich nicht; Sie haben sie auch sicher nicht erwartet…«
»Sie haben ganz recht, mein Herr«, sagte der Kontrolleur ho?ich,»wir haben das nicht erwartet. Aber es genugt uns. Sie konnen weiterarbeiten. Die Regierung will in diesem besonderen Falle beim Bau der Ausstellung die Bestimmungen nicht allzu streng nehmen. Entschuldigen Sie bitte die Storung.«
»Bitte, es ist doch Ihre P?icht.«
»Darf ich Ihren Ausweis sehen?« fragte der Kontrolleur Kern.
»Ich habe keinen.«
»Kein Recepisse?«
»Nein.«
»Sie sind illegal eingewandert?«
»Ich hatte keine andere Moglichkeit.«
»Ich bedaure sehr«, sagte der Mann von der Polizei,»aber Sie mussen mit uns zur Prafektur kommen.«
»Ich habe damit gerechnet«, erwiderte Kern und sah Marill an. »Sagen Sie Ruth, da? ich geschnappt worden bin; ich komme so schnell zuruck, wie ich kann. Sie soll keine Angst haben.«
Er hatte deutsch gesprochen. »Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich noch einen Augenblick unterhalten wollen«, erklarte der Kontrolleur zuvorkommend.
»Ich werde fur Ruth sorgen, bis Sie wiederkommen«, sagte Marill auf deutsch. »Hals- und Beinbruch, alter Junge. Lassen Sie sich uber Basel abschieben. Uber Burgfelden wieder herein. Telefonieren Sie vom Gasthof Steiff zum Hotel Steiff in St. Louis um ein Taxi bis Mulhausen und von dort bis Belfort. Das ist der beste Weg. Wenn man Sie in die Sante bringt, schreiben Sie mir, sobald Sie konnen. Klassmann wird au?erdem aufpassen. Ich rufe ihn sofort an.«
Kern nickte Marill zu. »Ich bin fertig«, sagte er dann.
Der Vertreter der Polizei ubergab ihn einem Manne, der in der Nahe gewartet hatte. Der Kontrolleur sah Marill lachelnd an. »Hubsche Abschiedsworte«, sagte er in perfektem Deutsch. »Sie scheinen unsere Grenzen gut zu kennen.«
»Leider«, erwiderte Marill.
MARILL SASSMIT Waser in einem Bistro. »Kommen Sie«, sagte er,»lassen Sie uns noch einen Schnaps nehmen! Verdammt, ich traue mich nicht ins Hotel! Das erstemal, da? mir so was passiert! Was nehmen Sie? Einen Fine oder einen Pernod?«
»Fine«, erklarte Waser mit Wurde. »Das Anisettezeug ist fur Weiber.«
»Nicht in Frankreich.« Marill winkte dem Kellner und bestellte einen Kognak und einen Pernod pur.
»Ich kann es ihr sagen«, schlug Waser vor. »In unseren Kreisen ist so was gang und gabe. Da wird alle Augenblicke mal jemand hopp genommen, und man mu? es der Frau oder seinem Madchen beibringen. Am besten ist es, Sie starten mit der gro?en, allgemeinen Sache, die immer Opfer erfordert.«
»Was fur eine allgemeine Sache?«
»Die Bewegung! Die revolutionare Aufklarung der Massen, selbstverstandlich!«
Marill betrachtete den Kommunisten aufmerksam eine Weile. »Waser«, sagte er dann ruhig,»damit wurden wir wohl nicht weit kommen. So was ist gut fur ein sozialistisches Manifest, aber fur weiter nichts. Ich verga?, da? Sie in politischen Dingen stecken. Trinken wir unsern Schnaps, und dann an die Gewehre! Irgendwie wird es schon gemacht werden.«
Sie zahlten und gingen durch den matschigen Schneebrei zum Hotel Verdun. Waser verschwand in der Katakombe, und Marill stieg langsam die Treppen hinauf.
Er klopfte an Ruths Tur. Sie offnete so schnell, als hatte sie hinter der Tur gewartet. Das Lacheln auf ihrem Gesicht verwischte sich etwas, als sie Marill sah. »Marill…«, sagte sie.
»Ja, den haben Sie wohl nicht erwartet, was?«
»Ich dachte, es ware Ludwig. Er mu? ja auch jeden Augenblick kommen.«
»Ja.«
Marill trat ein. Er sah Teller auf dem Tisch stehen, einen Spirituskocher mit brodelndem Wasser, Brot und Aufschnitt und in einer Vase ein paar Blumen. Er sah das alles, er sah Ruth, die erwartungsvoll vor ihm stand, und er nahm unschlussig, um etwas zutun, die Vase hoch. »Blumen«, murmelte er. »Auch noch Blumen.«
»Blumen sind billig in Paris«, sagte Ruth.
»Ja. Ich meinte das nicht so. Nur…« Marill stellte die Vase so vorsichtig zuruck, als ware sie nicht aus billigem, dickem Pre?glas, sondern aus hauchdunnem Porzellan. »Es macht es nur noch so ver?ucht viel schwerer, das alles…«
»Was?«
Marill antwortete nicht.
»Ich wei? es«, sagte Ruth plotzlich. »Die Polizei hat Ludwig gefa?t.«
Marill drehte sich um, ihr zu. »Ja, Ruth.«
»Wo ist er?«
»In der Prafektur.«
Ruth nahm schweigend ihren Mantel. Sie zog ihn an, stopfte ein paar Sachen in die Taschen und wollte an Marill vorbei, aus der Tur. Er hielt sie auf. »Das ist sinnlos«, erklarte er. »Es hilft ihm und Ihnen nichts. Wir haben jemand in der Prafektur, der aufpa?t. Bleiben Sie hier!«
»Wie kann ich das? Ich kann ihn doch noch sehen! Sie sollen mich mit einsperren! Dann gehen wir zusammen uber die Grenze!« Marill hielt sie fest. Sie war wie eine zusammengezogene Stahlfeder. Ihr Gesicht war bla?, und es schien kleiner geworden vor Anspannung. Dann gab sie plotzlich nach. »Marill…«, sagte sie hil?os,»was soll ich tun?«
»Hierbleiben. Klassmann ist auf der Prafektur. Er wird uns sagen, was passiert. Man kann ihn nur ausweisen. Dann ist er in ein paar Tagen wieder da. Ich habe ihm versprochen, da? Sie hier warten. Er wei?, da? Sie vernunftig sein werden.«
»Ja, das will ich.« Ihre Augen waren voll Tranen. Sie zog ihren Mantel aus und lie? ihn zu Boden fallen. »Marill«, sagte sie,»weshalb macht man das alles mit uns? Wir haben doch niemandem etwas getan!«
Marill sah sie nachdenklich an. »Ich glaube, das ist der ganze Grund«, sagte er. »Tatsachlich, ich glaube, das ist es.«
»Wird man ihn ins Gefangnis bringen?«
»Ich glaube nicht. Wir werden das durch Klassmann erfahren. Wir mussen bis morgen warten.«
Ruth nickte und nahm ihren Mantel langsam vom Boden wieder auf. »Hat Ihnen Klassmann sonst nichts gesagt?«