Die Tur offnete sich. Es war nicht der Kalfaktor mit dem Essen – es war der Aufseher. »Kern…«, sagte er.

Kern stand auf.

»Kommen Sie mit! Besuch!«

»Wahrscheinlich der Prasident der Republik«, vermutete Leopold.

»Vielleicht Klassmann. Er hat ja Papiere. Moglich, da? er was zu essen mitbringt.«

»Butter!« sagte Leopold inbrunstig. »Ein gro?es Stuck. Gelb wie eine Sonnenblume!«

Moenke grinste. »Mensch, Leopold, du Lyriker! Jetzt denkst du sogar an Sonnenblumen!«

Kern blieb an der Tur stehen, als hatte er einen Schlag empfangen. »Ruth!« sagte er atemlos. »Wie kommst denn du hierher? Haben sie dich gefa?t?«

»Nein, nein, Ludwig!«

Kern warf einen raschen Blick auf den Aufseher, der teilnahmslos in einer Ecke lehnte. Dann ging er eilig zu Ruth hinuber.

»Um Gottes willen, geh sofort wieder, Ruth«, ?usterte er auf deutsch. »Du wei?t nicht, was los ist! Sie konnen dich jeden Moment verhaften, und das hei?t vier Wochen Gefangnis und beim zweitenmal sechs Monate! Also geh schnell – schnell!«

»Vier Wochen?« Ruth sah ihn erschrocken an. »Vier Wochen mu?t du hier bleiben?«

»Das macht doch nichts! Das war eben Pech! Aber du… la? uns nicht leichtsinnig sein! Jeder kann dich nach Papieren fragen! Jede Sekunde!«

»Aber ich habe doch Papiere!«

»Was?«

»Ich habe eine Aufenthaltserlaubnis, Ludwig!«

Sie holte den Zettel aus ihrer Tasche und gab ihn Kern. Er starrte auf das Papier. »Christus!« sagte er dann nach einer Weile langsam. »Es ist Tatsache! Wahr und wahrhaftig! Das ist ja, als wenn ein Toter aufersteht! Es hat also doch einmal geklappt! Wer war es? Die Fluchtlingshilfe?«

»Ja. Die Fluchtlingshilfe und Klassmann.«

»Herr Aufseher«, sagte Kern,»ist es einem Stra?ing erlaubt, eine Dame zu kussen?«

Der Aufseher blickte ihn trage an. »Von mir aus, so lange Sie wollen«, erwiderte er. »Hauptsache, da? sie Ihnen dabei kein Messer oder keine Feile zusteckt!«

»Das lohnt sich nicht fur die paar Wochen.«

Der Aufseher rollte sich eine Zigarette und zundete sie an.

»Ruth!« sagte Kern. »Habt ihr denn etwas von Steiner gehort?«

»Nein, nichts. Aber Marill sagt, das ware auch unmoglich. Er wird sicher nicht schreiben. Er kommt einfach wieder. Plotzlich ist er wieder da.«

Kern sah sie an. »Glaubt Marill das wirklich?«

»Wir alle glauben es, Ludwig. Was sollen wir sonst tun?«

Kern nickte. »Ja, was sollen wir wirklich anderes tun! Er ist ja erst eine Woche fort. Vielleicht kommt er durch.«

»Er mu? durchkommen. Ich kann mir nichts anderes denken.«

»Zeit«, sagte der Aufseher. »Schlu? fur heute.«

Kern nahm Ruth in die Arme.

»Komm wieder!« ?usterte sie. »Komm rasch wieder! Bleibst du hier in der Sante?«

»Nein. Sie transportieren uns ab. Zur Grenze.«

»Ich werde versuchen, noch eine Erlaubnis zu bekommen, dich zu besuchen! Komm wieder! Ich liebe dich. Komm rasch! Ich habe Angst! Ich mochte mitfahren!«

»Das kannst du nicht. Dein Recepisse gilt nur fur Paris. Ich komme wieder.«

»Ich habe Geld hier. Es steckt unter meinem Achselband. Nimm es heraus, wenn du mich ku?t.«

»Ich brauche nichts. Ich habe genug bei mir. Behalte es! Marill wird auf dich aufpassen. Vielleicht ist Steiner auch bald zuruck.«

»Zeit!« mahnte der Aufseher. »Kinder, er geht ja nicht zur Guillotine!«

»Leb wohl!« Ruth ku?te Kern. »Ich liebe dich. Komm wieder, Ludwig!«

Sie sah sich um und holte ein Paket von der Bank. »Hier ist etwas zu essen. Sie haben es unten kontrolliert. Es ist in Ordnung«, sagte sie zu dem Aufseher. »Leb wohl, Ludwig!«

»Ich bin glucklich, Ruth! Gott im Himmel, ich bin so glucklich uber deine Aufenthaltserlaubnis. Das ist ein Paradies hier jetzt!«

»Also los!« sagte der Aufseher. »Zuruck ins Paradies.«

Kern nahm sein Paket unter den Arm. Es war schwer. Er ging mit dem Aufseher zuruck. »Wissen Sie«, sagte dieser nach einer Weile nachdenklich. »Meine Frau ist sechzig und hat einen leichten Buckel. Manchmal fallt mir das auf.«

Der Kalfaktor mit den E?napfen stand gerade vor der Zelle, als Kern zuruckkam. »Kern«, sagte Leopold mit einem trostlosen Gesicht. »Wieder mal Kartoffelsuppe ganz ohne Kartoffeln.«

»Das ist eine Gemusesuppe«, erklarte der Kalfaktor.

»Du kannst auch sagen, Kaffee«, erwiderte Leopold. »Ich glaube dir alles.«

»Was hast du in dem Paket?« fragte der Westfale Moenke Kern.

»Was zu essen. Ich wei? nur noch nicht, was.«

Leopolds Gesicht wurde zu einer strahlenden Monstranz. »Mach’s auf! Rasch!« Kern loste die Bindfaden.

»Butter!« sagte Leopold andachtig.

»Wie eine Sonnenblume!« erganzte Moenke.

»Wei?es Brot! Wurste! Schokolade!« fuhr Leopold ekstatisch fort. »Und da… ein ganzer Kase!«

»Wie eine Sonnenblume«, wiederholte Moenke.

Leopold achtete nicht darauf. Er richtete sich auf. »Kalfaktor!« sagte er gebieterisch. »Nehmen Sie Ihren elenden Fra? und…«

»Halt!« unterbrach Moenke. »Nicht zu eilig! Diese Osterreicher! Dadurch haben wir 1918 den Krieg verloren! Geben Sie die Napfe her«, sagte er zu dem Kalfaktor.

Er nahm sie und stellte sie auf eine Bank. Dann packte er die anderen Sachen daneben und betrachtete das Stilleben. Uber dem Kase stand mit Bleistift von einem fruheren Zelleninsassen an die Wand geschrieben:»Alles ist verganglich… sogar lebenslanglich!«

Moenke grinste. »Wir betrachten die Gemusesuppe einfach als Tee«, erklarte er. »Und nun essen wir einmal zu Abend wie gebildete Menschen! Was meinst du dazu, Kern?«

»Amen!« erwiderte der.

»ICH KOMME MORGEN wieder, Marie.«

Steiner beugte sich uber das stille Antlitz und richtete sich auf.

Die Schwester stand an der Tur. Ihre schnellen Augen huschten uber ihn hinweg; sie blickte ihn nicht an. Das Glas in ihrer Hand zitterte und klirrte leise.

Steiner trat auf den Korridor hinaus. »Stehenbleiben!« kommandierte eine Stimme.

Rechts und links von der Tur standen zwei Leute in Uniform, Revolver in den Handen. Steiner blieb stehen. Er erschrak nicht einmal.

»Wie hei?en Sie?«

»Johann Huber.«

»Kommen Sie mit ans Fenster.«

Ein dritter trat an ihn heran und sah ihn an. »Es ist Steiner«, sagte er. »Kein Zweifel. Ich kenne ihn wieder. Du kennst mich ja wohl auch, Steiner, was?«

»Ich habe dich nicht vergessen, Steinbrenner«, erwiderte Steiner ruhig.

»Wird dir auch schwerfallen«, kicherte der Mann. »Herzlich willkommen zu Hause! Freue mich wirklich, dich wiederzusehen. Wirst ja jetzt wohl ein bi?chen bei uns bleiben, was? Wir haben ein wunderschones, neues Lager, mit allem Komfort.«

»Das glaube ich.«

»Handschellen!« kommandierte Steinbrenner. »Zur Vorsicht, mein Su?er. Mir wurde das Herz brechen, wenn

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