»SIE KONNEN DAS Geld ruhig nehmen«, sagte Marill zerstort und traurig. Er hat es mir ausdrucklich fur Sie beide hiergelassen. Ich sollte es Ihnen geben, wenn er nicht zuruckkommt.«
Kern schuttelte den Kopf. Er war gerade angekommen und sa? schmutzig und abgerissen mit Marill in der Katakombe. Von Dijon aus war er als Beifahrer und Gehilfe eines Lastwagenzuges gefahren.
»Er kommt wieder«, sagte er. »Steiner kommt wieder.«
»Er kommt nicht wieder!« erwiderte Marill heftig. »Herrgott, machen Sie es einem doch nicht noch schwerer mit Ihrem dauernden: er kommt wieder! Er kommt nicht wieder! Hier, lesen Sie das!«
Er zog ein zerknittertes Telegramm aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Kern nahm es und glattete es. Es war aus Berlin und an die Wirtin des Verdun gerichtet. »Herzliche Wunsche zum Geburtstag, Otto«, las er.
Er sah Marill an.
»Was hei?t das?« fragte er.
»Das hei?t, da? er geschnappt worden ist. Wir hatten das so verabredet. Einer seiner Freunde sollte das Telegramm schicken. Es war vorauszusehen. Ich habe es ihm gleich gesagt. Und nun nehmen Sie endlich diese dreckigen Lappen!«
Er schob das Geld zu Kern hinuber. »Es sind zweitausendzweihundertvierzig Francs«, erklarte er. »Und hier ist noch etwas!« Er holte seine Brieftasche hervor und nahm zwei kleine Hefte heraus. »Das sind Fahrkarten von Bordeaux nach Mexiko. Mit der ›Tacoma‹. Portugiesischer Frachtdampfer. Fur Sie und Ruth. Fahrt am Achtzehnten. Wir haben sie gekauft von dem ubrigen Geld. Dies hier ist der Rest. Visa sind schon besorgt. Liegen beim Fluchtlingskomitee.«
Kern starrte die Hefte an. »Aber…«, sagte er vollig verstandnislos.
»Nichts aber!« unterbrach Marill ihn argerlich. »Machen Sie keine Schwierigkeiten, Kern! Hat Muhe genug gekostet, das alles! Verdammter Zufall! Kam vor drei Tagen heraus. Das Fluchtlingskomitee hat von der mexikanischen Regierung die Erlaubnis bekommen, hundertfunfzig Emigranten hinuberzuschicken. Voraussetzung, da? sie die Uberfahrt bezahlen konnen. Eines der Wunder, die ab und zu passieren. Klassmann kam damit an. Wir haben sofort gebucht fur Sie beide, bevor alles uberzeichnet ist. Geld fur die Reise war ja da, jetzt gerade. Na, und…«
Er schwieg.
»Yvonne, bringen Sie mir einen Kirsch«, sagte er dann zu der dicken Kellnerin aus dem Elsa?.
Yvonne nickte und schaukelte mit wiegenden Huften zur Kuche hinuber.
»Bringen Sie zwei!« rief Marill ihr nach.
Yvonne wandte sich um. »Hatte ich sowieso gemacht, Herr Marill«, erklarte sie.
»Gut. Wenigstens eine verstandige Seele.«
Marill wandte sich wieder Kern zu. »Verstanden, inzwischen?« fragte er. »Etwas uberraschend, das alles, ich gebe es zu. Wenn Sie die Fahrkarte und das Visum auf der Prafektur vorzeigen, bekommen Sie eine Aufenthaltserlaubnis fur Frankreich bis zu dem Datum, an dem das Schiff ausfahrt. Auch wenn Sie illegal eingereist sind. Das Fluchtlingskomitee hat das erreicht. Sie konnen morgen gleich hingehen. Es ist die einzige Moglichkeit fur Sie, ’rauszukommen aus dem Dreck.«
»Ja. Beim erstenmal einen Monat, beim zweitenmal sechs Monate Gefangnis.«
»Sechs Monate, ja. Und irgendwann wird man immer zum zweitenmal geschnappt, todsicher!« Marill sah auf. Yvonne stand vor ihm und stellte ein Tablett mit zwei Glasern auf den Tisch. Eines war ein normales Glas; das zweite ein Wasserglas, bis oben mit Kirschgeist gefullt.
»Das ist fur Sie!« erklarte Yvonne grinsend und zeigte mit dem Daumen auf das Wasserglas. »Zum selben Preis!«
»Danke! Sie sind ein vernunftiges Kind. Viel zu schade, um in einer Ehe zur unvermeidlichen Xanthippe zu werden. Oder zu einer braven Martyrerin. Prost!«
Marill trank auf einen Schluck das halbe Glas aus. »Prost, Kern!« sagte er. »Weshalb trinken Sie denn nicht?«
Er stellte das Glas auf den Tisch und sah Kern zum erstenmal voll ins Gesicht. »Das fehlt noch«, sagte er dann,»da? Sie anfangen zu heulen! Mann, haben Sie denn gar keinen Anstand?«
»Ich heule nicht!« erwiderte Kern. »Und wenn ich heule, so ist es schei?egal! Aber verdammt, all die Zeit habe ich gedacht, Steiner ware wieder hier, wenn ich zuruckkame, und nun packen Sie mir da Geld hin und Fahrkarten, und ich bin gerettet, weil er verloren ist, das ist doch eine ver?uchte Schweinerei, verstehen Sie das denn nicht?«
»Nein! Verstehe ich nicht! Sie reden sentimentalen Quatsch! Ist gar nichts daran zu verstehen. Geht doch immer so! Und nun trinken Sie das da aus! So wie… nun, wie er es ausgetrunken hatte. Zum Teufel, meinen Sie, es geht mir nicht an die Knochen?«
»Ja…«
Kern trank das Glas aus. »Ich bin wieder beieinander«, sagte er. »Haben Sie eine Zigarette, Marill?«
»Naturlich. Hier…«
Kern atmete den Rauch tief ein. Er sah plotzlich, im Halbdunkel der Katakombe, Steiners Gesicht. Etwas ironisch, vorgeneigt, beschienen vom ?ackernden Kerzenlicht, wie damals vor einer Ewigkeit im Gefangnis in Wien, und ihm war, als horte er die ruhige, tiefe Stimme:»Na, Baby?« Ja, dachte er, ja, Steiner!
»Wei? Ruth es?« fragte er.
»Ja.«
»Wo ist sie?«
»Ich wei? nicht. Wahrscheinlich beim Fluchtlingskomitee. Sie wu?te nicht, da? Sie kamen.«
»Nein. Ich wu?te ja selbst nicht genau, wann ich ankommen wurde. Kann man in Mexiko arbeiten?«
»Ja. Was, wei? ich nicht. Aber Sie bekommen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Das ist garantiert.«
»Ich kann kein Wort Spanisch«, sagte Kern. »Oder spricht man da Portugiesisch?«
»Spanisch. Sie mussen es eben lernen.«
Kern nickte.
Marill beugte sich vor. »Kern«, sagte er mit plotzlich veranderter Stimme:»Ich wei?, es ist nicht einfach. Aber ich sage euch: fahrt ab! Denkt nicht nach! Fahrt ab! Macht, da? ihr aus Europa ’rauskommt! Wei? der Teufel, was hier noch werden wird! So eine Chance kommt nicht leicht wieder. Und so viel Geld werdet ihr auch nie wieder zusammenkriegen! Fahrt ab, Kinder! Hier…«
Er trank den Rest seines Glases aus.
»Fahren Sie mit?« fragte Kern.
»Nein.«
»Reicht das Geld nicht fur drei? Wir haben doch auch noch etwas.«
»Darauf kommt es nicht an. Ich bleibe hier. Ich kann Ihnen nicht erklaren, warum. Ich bleibe. Ganz gleich, was wird. Man kann das nicht erklaren. Man wei? es, fertig.«
»Ich verstehe«, sagte Kern.
»Da kommt Ruth«, erwiderte Marill. »Und ebenso wie ich hierbleibe, fahren Sie ab, verstehen Sie das auch?«
»Ja, Marill.«
»Gott sei Dank!«
Ruth blieb eine Sekunde an der Tur stehen. Dann sturzte sie auf Kern zu. »Wann bist du gekommen?«
»Vor einer halben Stunde.«
Ruth hob den Kopf aus einer Umarmung, die endlos und kurzer als ein Herzschlag war. »Wei?t du…?«
»Ja. Marill hat mir alles gesagt.«
Kern sah sich um. Marill war nicht mehr da.
»Und wei?t du auch…?« fragte Ruth zogernd.
»Ja, ich wei? es. Wir wollen nicht davon sprechen jetzt. Komm, wir wollen hier heraus! La? uns auf die Stra?e gehen. Nach drau?en. Ich mochte hier weg. La? uns auf die Stra?e gehen.«
»Ja.«
SIE GINGEN UBER die Champs-Elysees. Es war Abend, und der halbe Mond stand bla? am apfelgrunen Himmel. Die Luft war silbern und klar und so milde, da? die Kaffeehausterrassen voller Gaste waren.
Sie gingen schweigend, eine lange Zeit. »Wei?t du eigentlich, wo Mexiko liegt?« fragte Kern schlie?lich.