Wachter winkte wieder. »Vater Moritz!« rief eine sanfte, hallende Stimme. Ruf nur, dachte Moritz Rosenthal, ich melde mich nicht.
»Vater Moritz«, rief die Stimme wieder,»komm hinter dem Busch der Muhsal hervor.«
Moritz stand auf. Erwischt, dachte er. Bestimmt kann der Riese schneller laufen als ich; es nutzt nichts, ich mu? hingehen.
»Vater Moritz!« rief die Stimme wieder.
»Kennen tut er mich auch, so ein Pech!« murmelte Moritz. »Ich mu? also hier auch schon mal ausgewiesen worden sein. Das gibt dann nach den neuesten Gesetzen mindestens drei Monate Gefangnis. Hoffentlich ist wenigstens das Essen gut. Und sie geben mir nicht die Familienzeitschrift von 1902 zum Lesen, sondern was Moderneres. Irgendwas von Hemingway mochte ich gerne mal lesen.«
Das Tor wurde immer heller und strahlender, je naher er kam. Was sie jetzt fur Lichteffekte an den Grenzen haben, grubelte Moritz, man kann gar nicht mehr erkennen, wo man ist. Vielleicht haben sie neuerdings alles erleuchtet, um uns besser zu erwischen. Eine Verschwendung!
»Vater Moritz«, sagte der Turhuter,»weshalb versteckst du dich denn?«
»Auch ’ne Frage, dachte Moritz, wo er mich doch kennt und wei?, was mit mir los ist.
»Geh hinein«, sagte der Turwachter.
»Horen Se«, erwiderte Moritz,»bis jetzt bin ich meiner Ansicht nach noch nicht strafbar. Ich habe Ihre Grenzen noch nicht passiert. Oder gilt das hinter mir auch schon mit?«
»Es gilt schon mit«, sagte der Huter.
Dann bin ich verloren, dachte Rosenthal. Es scheint ’ne Insel zu sein, vielleicht ist es Kuba, da wollen ja neuerdings so viele hin.
»Furchte dich nicht«, sagte der Wachter,»es geschieht dir nichts. Geh ruhig hinein.«
»Horen Se«, erwiderte Moritz Rosenthal,»ich will Ihnen gleich die Wahrheit sagen: Ich habe keinen Pa?.«
»Du hast keinen Pa??«
Sechs Monate, dachte Moritz, als er die Stimme grollen horte, und schuttelte ergeben den Kopf.
Der Turhuter hob den Stab. »Dann brauchst du nicht erst zwanzig Millionen Lichtjahre im himmlischen Stehparterre zu bleiben. Du bekommst sofort einen gepolsterten Sessel mit Armlehnen und Flugelstutzen.«
»Alles ganz schon«, erwiderte Vater Moritz,»aber es geht nicht. Ich habe namlich auch keine Einreise- und keine Aufenthaltserlaubnis. Von Arbeitserlaubnis wollen wir gar nicht erst reden.«
»Keine Aufenthaltserlaubnis? Kein Visum? Keine Arbeitserlaubnis?« Der Wachter hob die Hand. »Dann bekommst du sogar eine Loge im ersten Rang, Mitte, mit vollem Blick auf die himmlischen Heerscharen.«
»Das ware nicht schlecht«, sagte Moritz,»besonders, wo ich so gern ins Theater gehe. Aber jetzt kommt das, was alles kaputt macht, und eigentlich wundere ich mich, da? Sie nicht weiter drau?en schon ein Schild haben, da? wir nicht ’reindurfen. Also ich bin ein Jude. Ausgeburgert aus Deutschland. Illegal seit Jahren.«
Der Turhuter hob beide Arme. »Jude? Ausgeburgert? Illegal seit Jahren? Dann bekommst du zwei Engel zu deiner personlichen Bedienung und einen Posaunenblaser dazu.« Er rief in das Tor. »Der Engel der Heimatlosen!« Und eine gro?e Gestalt in blauen Gewandern mit einem Gesicht wie alle Mutter der Welt trat hervor neben Vater Moritz. »Der Engel derer, die viel gelitten haben!« rief der Wachter aufs neue, und eine wei?gekleidete Gestalt mit einem Krug Tranen auf der Schulter trat auf die andere Seite von Vater Moritz.
»Eine Sekunde«, bat der und fragte den Wachter:»Sie sind sicher, mein Herr, da? da drin nicht…?«
»Keine Sorge. Unsere Konzentrationslager sind weiter unten.«
Die beiden Engel nahmen seine Arme, und dann schritt Vater Moritz, der alte Wanderer, der Veteran der Emigranten, getrost durch das Tor, auf ein ungeheures Licht zu, uber das plotzlich rauschend schneller und schneller farbige Schatten ?elen…
»Moritz«, sagte Edith Rosenfeld in der Tur. »Hier ist das Baby. Der kleine Franzose. Willst du ihn sehen?«
Es blieb still. Sie trat vorsichtig naher. Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein atmete nicht mehr.
MARIE ERWACHTE NOCH einmal. Sie hatte den ganzen Vormittag in einer dammernden Agonie gelegen. Jetzt erkannte sie Steiner ganz klar.
»Du bist noch hier?« ?usterte sie erschrocken.
»Ich kann hierbleiben, so lange ich will, Marie.«
»Was hei?t das?«
»Die Amnestie ist herausgekommen. Ich falle darunter. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Ich bleibe jetzt immer hier.«
Sie sah ihn grubelnd an. »Du sagst mir das, um mich zu beruhigen, Josef…«
»Nein, Marie. Die Amnestie ist gestern herausgekommen.« Er wandte sich nach der Schwester um, die im Hintergrund des Zimmers herumhantierte. »Nicht wahr, Schwester, seit gestern besteht keine Gefahr mehr fur mich, erwischt zu werden?«
»Nein« erwiderte die Schwester undeutlich.
»Bitte, kommen Sie doch naher, meine Frau mochte es von Ihnen genau horen.«
Die Schwester blieb gebuckt stehen. »Ich hab’s ja schon gesagt.«
»Bitte, Schwester!« ?usterte Marie.
Es blieb still. »Bitte, Schwester«, ?usterte die Kranke noch einmal.
Die Schwester schob sich unwillig heran. Die Kranke sah sie angestrengt an. »Nicht wahr, ich darf seit gestern immer hierbleiben?« fragte Steiner.
»Ja«, stie? die Schwester hervor.
»Es besteht keine Gefahr fur mich mehr, erwischt zu werden?«
»Nein.«
»Danke, Schwester.«
Steiner sah, wie sich die Augen der Sterbenden verschleierten. Sie hatte keine Kraft mehr, zu weinen. »Jetzt ist alles gut, Josef«, ?usterte sie. »Und jetzt, gerade wo du mich brauchen kannst, mu? ich weg…«
»Du gehst nicht weg, Marie…«
»Ich mochte aufstehen und mit dir gehen konnen.«
»Wir werden zusammen fortgehen.«
Sie lag eine Zeitlang und sah ihn an. Ihr Gesicht war grau, das Skelett arbeitete sich durch, und das Haar war uber Nacht fahl und glanzlos geworden, als sei es erblindet. Steiner sah das alles und sah es doch nicht; er sah nur, da? der Atem noch ging; und solange sie lebte, war sie fur ihn Marie, seine Frau, umgeben vom Schimmer der Jugend und der Gemeinsamkeit.
Der Abend kroch ins Zimmer, und von drau?en, von der Tur her, horte man ab und zu das herausfordernde Rauspern Steinbrenners. Maries Atem wurde ?ach, dann kam er sto?weise, mit Pausen. Endlich wurde er leise und horte auf, wie ein schwacher Wind, der einschlaft. Steiner hielt ihre Hande, bis sie kalt wurden. Er starb mit. Als er aufstand, um hinauszugehen, war er ein gefuhlloser Fremder, eine leere Hulle, die die Bewegung eines Menschen hatte. Er streifte die Schwester mit einem gleichgultigen Blick. Drau?en wurde er von Steinbrenner und dem zweiten in Empfang genommen. »Uber drei Stunden haben wir auf dich gewartet«, knurrte Steinbrenner. »Daruber werden wir uns ofter noch mal unterhalten, da kannst du sicher sein.«
»Ich bin sicher, Steinbrenner, dieser Dinge bin ich bei dir sicher.«
Steinbrenner leckte sich die Lippen. »Du wei?t ja wohl, da? die Anrede fur mich ›Herr Wachtmeister‹ ist, glaube ich, was? Sag ruhig weiter ›Steinbrenner‹ und ›Du‹ zu mir… aber fur jedesmal wirst du wochenlang blutige Tranen weinen, mein Liebling. Ich hab’ ja jetzt Zeit mit dir.«
Sie gingen die breite Treppe hinunter, Steiner zwischen den beiden Wachtern. Es war ein milder Abend, und die bis zum Boden reichenden Fenster der oval geschwungenen Au?enwand waren weit geoffnet. Es roch nach Benzin und einer Ahnung von Fruhling.
»Ich habe ja so unendlich viel Zeit mit dir«, erklarte Steinbrenner langsam und vergnugt. »Dein ganzes Leben, mein Su?er. Und unsere Namen passen so schon… Steiner und Steinbrenner. Mal sehen, was wir daraus noch machen konnen.«
Steiner nickte nachdenklich. Das schrag geschnittene offene Fenster wurde gro?er, kam heran, ganz nahe, er gab Steinbrenner einen Sto? gegen das Fenster hin, sprang gegen ihn, uber ihn und sturzte mit ihm zusammen ins Leere.