»Nein. Ich habe ihn nur einen Moment gesprochen. Er ist dann gleich zur Prafektur gegangen.«
»Ich war heute vormittag mit ihm da. Man hatte mich hinbestellt.« Sie nahm ein Papier aus ihrer Manteltasche, strich es glatt und gab es Marill. »Deshalb.«
Es war eine Aufenthaltserlaubnis fur Ruth, gultig fur vier Wochen. »Das Fluchtlingskomitee hat es durchgesetzt. Ich hatte ja noch einen abgelaufenen Pa?. Klassmann kam heute mit der Nachricht. Er hat all die Monate daran gearbeitet. Ich wollte es Ludwig zeigen. Deshalb habe ich auch die Blumen hier auf dem Tisch.«
»So, deshalb!« Marill hielt den Schein in der Hand. »Es ist ein ver?uchtes Gluck und ein verdammtes Elend gleichzeitig«, sagte er. »Aber mehr ein Gluck. Dies hier ist eine Art Wunder. Das kommt nicht leicht wieder. Aber Kern kommt wieder. Glauben Sie das?«
»Ja«, sagte Ruth. »Das eine geht nicht ohne das andere. Er mu? wiederkommen!«
»Gut. Und jetzt gehen Sie mit mir hinaus. Wir essen irgendwo. Und wir werden etwas trinken – auf die Aufenthaltserlaubnis und auf Kern. Er ist ein erfahrener Soldat. Wir alle sind Soldaten. Sie auch. Habe ich recht?«
»Ja.«
»Kern wurde sich funfzigmal mit Jubel ausweisen lassen fur das, was Sie da in der Hand halten, das wissen Sie doch?«
»Ja, aber ich wurde hundertmal lieber nicht…«
»Ich wei?«, unterbrach Marill. »Daruber reden wir, wenn er wieder da ist. Das ist eine der ersten Soldatenregeln.«
»Hat er Geld, um zuruckzufahren?«
»Das nehme ich an. Als alte Kampfer haben wir immer so viel bei uns fur den Notfall. Wenn er nicht genug hat, schmuggelt Klassmann den Rest hinein. Er ist unser Vorposten und unsere Patrouille. Und nun kommen Sie! Manchmal ist es verdammt gut, da? es Schnaps gibt auf der Welt. In der letzten Zeit besonders!«
STEINER WAR SEHR wach und gespannt, als der Zug an der Grenze hielt. Die franzosischen Zollbeamten gingen gleichgultig und rasch durch. Sie fragten nach dem Pa?, stempelten ihn und verlie?en das Abteil. Der Zug fuhr wieder an und rollte langsam weiter. Steiner wu?te, da? in diesem Augenblick sein Schicksal entschieden war; er konnte nicht mehr zuruck.
Nach einer Weile kamen zwei deutsche Beamte und gru?ten. »Bitte Ihren Pa?.«
Steiner nahm das Heft und gab es dem jungeren, der gefragt hatte. »Wozu reisen Sie nach Deutschland?« fragte der andere.
»Ich will Verwandte besuchen.«
»Leben Sie in Paris?«
»Nein, in Graz. Ich habe in Paris einen Verwandten besucht.«
»Wie lange wollen Sie in Deutschland bleiben?«
»Ungefahr vierzehn Tage. Dann fahre ich wieder nach Graz zuruck.«
»Haben Sie Devisen bei sich?«
»Ja. Funfhundert Francs.«
»Wir mussen das in den Pa? eintragen. Haben Sie das Geld aus Osterreich mitgebracht?«
»Nein, ein Vetter in Paris hat es mir gegeben.«
Der Beamte betrachtete den Pa?, dann schrieb er etwas hinein und stempelte ihn.
»Haben Sie etwas zu verzollen?« fragte der andere.
»Nein, nichts.« Steiner nahm seinen Koffer herunter.
»Haben Sie noch gro?es Gepack?«
»Nein, dieses hier ist alles.«
Der Beamte sah ?uchtig in den Koffer. »Haben Sie Zeitungen, Drucksachen oder Bucher bei sich?«
»Nichts.«
»Danke.« Der jungere Beamte gab Steiner den Pa? zuruck. Beide gru?ten und gingen. Steiner atmete auf. Er merkte plotzlich, da? er na? von Schwei? war.
Der Zug begann schneller zu fahren. Steiner lehnte sich zuruck und blickte durch die Scheiben. Drau?en war es Nacht, Wolken zogen rasch und niedrig uber den Himmel, und dazwischen blinkten die Sterne. Kleine, halb erleuchtete Bahnhofe ?ogen voruber. Die roten und grunen Lichter der Signale huschten voruber, und die Schienen glanzten. Steiner lie? das Fenster herunter und sah hinaus. Der feuchte Fahrtwind ri? an seinem Gesicht und an seinen Haaren. Er atmete tief; es schien eine andere Luft zu sein. Es war ein anderer Wind, es war ein anderer Horizont, es war ein anderes Licht, die Pappeln an den Stra?en bogen sich anders und vertrauter, die Stra?en selbst fuhrten irgendwo in sein Herz – er atmete tief, es war ihm hei?, sein Blut klopfte, die Landschaft hob sich und sah ihn an, ratselhaft und doch nicht mehr fremd – verdammt, dachte er, was ist das, ich werde sentimental! Er setzte sich wieder hin und versuchte zu schlafen – aber er konnte es nicht. Die dunkle Landschaft drau?en lockte und rief, sie wurde zu Gesichtern und Erinnerungen, die schweren Jahre des Krieges standen wieder auf, als der Zug uber die Rheinbrucke donnerte; das Wasser, schillernd und mit dumpfem Rauschen dahintreibend, warf hundert Namen hoch, verschollene, tote, fast schon vergessene Namen, Namen von Regimentern und Kameraden, von Stadten und Lagern, Namen aus der Nacht der Jahre, es war ein Anprall, und Steiner stand plotzlich im Sturm seiner Vergangenheit und wollte sich wehren und konnte es nicht.
Er war allein im Abteil. Er zundete eine Zigarette nach der anderen an und wanderte hin und her in dem kleinen Raum. Er hatte nicht geglaubt, da? alles noch eine solche Gewalt uber ihn haben konnte. Krampfhaft begann er sich zu zwingen, an morgen zu denken, daran, wie er versuchen mu?te, durchzukommen, ohne Aufsehen zu erregen, an das Krankenhaus, an seine Lage, und wen von seinen Freunden er aufsuchen und fragen konnte.
Aber all das erschien ihm im Augenblick sonderbar neblig und unwirklich – es entwich ihm, wenn er es fassen wollte, sogar die Gefahr, in der er schwebte und der er entgegenfuhr, verblich zu einer abstrakten Vorstellung, sie hatte keine Kraft, sein zitterndes Blut kuhl und zum Nachdenken zu zwingen, im Gegenteil, sie peitschte es mit auf zu einem Wirbel, in dem sich sein Leben wie in einem dunklen Tanz und einer mystischen Wiederkehr zu drehen schien. Da gab er es auf. Er wu?te, es war die letzte Nacht; morgen wurde alles uberschattet sein von dem andern – es war die letzte reine Nacht im Ungewissen, im Sturm des Gefuhls, es war die letzte Nacht ohne das grausame Wissen und die Klarheit des Verderbens. Er gab es auf, zu denken. Er gab sich hin.
Die Nacht entfaltete sich gro? vor dem Fenster des dahinja-genden Zuges. Sie war ohne Ende, sie entfaltete sich uber vierzig Jahre eines Mannes und uber sein Leben, fur das vierzig Jahre die Ewigkeit bedeuteten. Die Dorfer, die voruberglitten, mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundelaut, waren alle die Dorfer seiner Kindheit – er hatte in allen gespielt, uber alle waren seine Sommer und Winter dahingegangen, und die Glocken ihrer Kapellen hatten uberall fur ihn gelautet. Die Walder, die schwarz und verschlafen voruber?ogen, waren alle die Walder seiner Jugend – ihr grungoldenes Dammer hatte seine ersten Streifzuge uberschattet, in ihren glatten Teichen hatte sich sein atemloses Gesicht gespiegelt, wenn er das Leben der ge?eckten Molche mit den roten Bauchen belauerte – und der Wind, der in den Buchen harfte und in den Tannen sang, war der uralte Wind der Abenteuer gewesen. Die matt leuchtenden Stra?en, die wie ein Netz die machtigen Felder uberspannten, waren alle die Stra?en seiner Unruhe gewesen, er war auf ihnen allen gewandert, er hatte an ihren Kreuzungen gezogert, er kannte ihren Abschied und ihre Hoffming und ihre Wiederkehr von Horizont zu Horizont, er kannte ihre Meilensteine und die Gehofte, die an ihnen lagen. Und die Hauser, unter deren Dachern geduckt das Licht gefangen war und wie die Verhei?ung von Warme und Heimat rotlich aus den Fenstern leuchtete; er hatte in jedem ihrer Fenster gewohnt, er kannte den sanften Druck der Turklinken, er wu?te, wer unter dem Lampengrund wartete, die Stirn ein wenig gesenkt, das goldene, feuerfarbene Haar uberspruht von Funken – sie, deren Gesicht uberall gestanden und gewartet hatte, an allen Stra?en und in allen Winkeln der Welt, verdunkelt manchmal und oft fast unsichtbar, uber?utet von Sehnsucht und Vergessenwollen, das Antlitz seines Lebens, dem er nun entgegenfuhr, das Gesicht, das sich jetzt uber den Nachthimmel ausbreitete, die Augen, die hinter den Wolken schimmerten, der Mund, der vom Horizont her lautlose Worte sprach, die Arme, die er schon fuhlte im Wind, im Wehen der Baume, und das Lacheln, in dem die Landschaft und sein Herz versanken im Ansturm des unendlichen Gefuhls.
Er spurte, wie seine Adern schmolzen und sich offneten, wie sein Blut hinauszustromen schien in den verklarten Strom, der drau?en ?utete und es aufnahm und starker mit ihm zuruckkehrte, der seine Hande trug und sie mit sich nahm zu fernen Handen, die sich ihm entgegenstreckten, diesen kreisenden Strom, der Stuck um