Steiner lachelte und war einen Augenblick wieder wie fruher.
»Das hat gerade geklappt«, sagte er. Dann wandte er sich an Kern. »Leb wohl, Baby. Manchmal geht alles furchtbar langsam, was? Und manchmal verdammt schnell.«
»Ich wei? nicht, ob ich ohne dich noch da ware, Steiner«, sagte Kern.
»Bestimmt. Aber es ist schon, da? du mir das sagst. Dann war die Zeit doch nicht ganz umsonst.«
»Kommen Sie wieder!« sagte Ruth. »Mehr kann ich nicht sagen. Kommen Sie wieder. Wir konnen wenig fur Sie tun; aber alles, alles was wir sind, ist fur Sie da. Immer.«
»Gut. Ich will sehen. Lebt wohl, Kinder. Haltet die Ohren steif.«
»La? uns mit zum Bahnhof gehen«, sagte Kern.
Steiner zogerte. »Marill geht mit. Oder ja, kommt nur mit!« Sie gingen die Treppen hinunter. Drau?en drehte Steiner sich um und sah zu der grauen, abgeblatterten Front des Hotels hinuber. »Verdun…«, murmelte er.
»La? mich deinen Koffer tragen«, sagte Kern.
»Wozu, Baby? Ich kann es selbst ganz gut.«
»Gib ihn mir«, sagte Kern mit einem verzerrten Lacheln. »Ich habe dir heute nachmittag gezeigt, wie kraftig ich geworden bin.«
»Ja, das hast du. Heute nachmittag. Wie lange das her ist!«
Steiner gab ihm den Koffer. Er wu?te, da? Kern etwas fur ihn tun wollte und da? es nichts anderes gab als dieses wenige: den Koffer fur ihn zu tragen.
Sie kamen gerade zur Abfahrt des Zuges zurecht. Steiner stieg ein und lie? das Fenster herunter. Der Zug stand noch; aber Steiner schien den dreien auf dem Bahnsteig durch das Fenster schon auf eine unwiderru?iche Weise von ihnen getrennt. Kern sah mit brennenden Augen auf das harte, hagere Gesicht; er wollte es sich einpragen fur sein ganzes Leben. Es hatte ihn viele Monate begleitet und war sein Lehrer gewesen; was an ihm selbst abgehartet worden war, das verdankte er Steiner. Und jetzt sah er dieses Gesicht, beherrscht und ruhig, freiwillig in seinen Untergang gehen; denn niemand von allen rechnete mit dem Wunder, da? Steiner zuruckkame.
Der Zug fuhr an. Niemand sprach ein Wort. Steiner hob langsam die Hand. Die drei auf dem Bahnhof sahen ihm nach, bis die Wagen hinter einer Kurve verschwanden.
»Verdammt!« sagte Marill schlie?lich heiser. »Kommt, ich mu? einen Schnaps haben. Ich habe viele Menschen sterben sehen, aber ich war noch nie dabei, wenn jemand Selbstmord verubte.«
Sie kehrten zum Hotel zuruck. Kern und Ruth gingen in Ruths Zimmer. »Ruth«, sagte Kern nach einer Weile,»es ist plotzlich leer und man friert – als ware die ganze Stadt ausgestorben.«
ABENDS BESUCHTEN SIE Vater Moritz. Er lag jetzt im Bett und konnte nicht mehr aufstehen. »Setzt euch, Kinder«, sagte er. »Ich wei? schon alles. Es ist nichts daran zu tun. Jeder Mensch hat das Recht, sein Schicksal zu bestimmen.«
Moritz Rosenthal wu?te, da? er nie mehr aufstehen wurde. Er hatte deshalb sein Bett so stellen lassen, da? er aus dem Fenster sehen konnte. Es war nicht viel, was er erblickte: nur ein Stuck der Hauserreihe gegenuber. Aber da er sonst nichts hatte, wurde es viel. Er sah die Fenster auf der anderen Seite, und sie wurden fur ihn der Inbegriff des Lebens. Er sah sie morgens, wenn sie geoffnet wurden, er sah die Gesichter in ihnen erscheinen, er kannte das verdrossene Madchen, das die Scheiben putzte, die mude junge Frau, die nachmittags fast regungslos hinter der weggeschobenen Gardine sa? und auf die Stra?e starrte, und den Kahlkopf im oberen Stock, der abends bei offenem Fenster turnte. Er sah nachmittags das Licht hinter den herabgelassenen Vorhangen erscheinen, er sah Schatten hin und her wandern, er sah Abende, wo alles dunkel lag, wie eine verlassene Hohle, und andere, wo die Lichter lange brannten. Das und der gedampfte Larm der Stra?e war fur ihn die Welt drau?en, zu der nur noch seine Gedanken, nicht mehr sein Korper gehorten – die andere, die Welt der Erinnerungen, hatte er in seinem Zimmer an den Wanden. Mit seiner letzten Kraft und mit Hilfe des Zimmermadchens hatte er alle Fotogra?en und Bilder, die er besa?, mit Rei?nageln dort befestigt.
An der Wand uber dem Bett hingen verblichene Fotogra?en seiner Familie; seiner Eltern, seiner Frau, die vor vierzig Jahren gestorben war, das Bild eines Enkels, der mit siebzehn Jahren gestorben war; das Bild der Schwiegertochter, die nur funfunddrei?ig Jahre alt geworden war – Tote, zwischen denen Moritz Rosenthal uralt und gelassen selbst den Tod erwartete.
Die Wand gegenuber war mit Landschaftsbildern bedeckt, Fotos vom Rhein, von Burgen, Schlossern und Weinbergen, bunte Ausschnitte aus Zeitungen dazwischen, Sonnenaufgange und Gewitter uber dem Rhein, und zum Schlu? eine Serie von Bildern aus dem Stadtchen Godesberg am Rhein.
»Ich kann mir nicht helfen«, sagte Moritz Rosenthal verlegen,»ich sollte eigentlich Bilder aus Palastina hier hangen haben; wenigstens ein paar dazwischen, aber ich mache mir nichts draus.«
»Wie lange haben Sie in Godesberg gelebt?« fragte Ruth.
»Bis zu meinem achtzehnten Jahre. Dann zogen wir weg.«
»Und spater?«
»Spater war ich nie wieder da.«
»Das ist lange her, Vater Moritz«, sagte Ruth.
»Ja, da warst du noch nicht auf der Welt. Vielleicht wurde deine Mutter damals erst geboren.«
Sonderbar, dachte Ruth, meine Mutter wurde geboren, als diese Bilder schon Erinnerungen waren im Gehirn hinter dieser Stirn vor mir, und sie hat ihr schweres Leben gelebt und ist ausgeloscht worden. Immer noch geistern dieselben Erinnerungen hinter dieser alten Stirn, als waren sie starker als manches Leben.
Es klopfte.
Edith Rosenfeld trat ein. »Edith«, sagte Moritz Rosenthal,»meine ewige Liebe! Woher kommst du?«
»Von der Bahn, Moritz. Ich habe Max fortgebracht. Er fahrt nach London und von da nach Mexiko.«
»Dann bist du jetzt allein, Edith…«
»Ja, Moritz, jetzt habe ich sie alle untergebracht, und sie konnen arbeiten.«
»Was soll Max in Mexiko machen?«
»Er geht als Arbeiter. Aber er will versuchen, in den Autohandel zu kommen.«
»Du bist eine gute Mutter, Edith«, sagte Moritz Rosenthal nach einer Weile.
»Ich bin wie jede, Moritz.«
»Was wirst du jetzt tun?«
»Ich werde mich etwas ausruhen. Dann habe ich wieder Arbeit. Es gibt ein Baby hier im Hotel. Vor vierzehn Tagen geboren. Die Mutter mu? bald wieder arbeiten. Da werde ich zur Adoptiv-Gro?mutter.«
Moritz Rosenthal richtete sich ein wenig auf. »Ein Baby? Vierzehn Tage alt? Das ist dann ja schon ein Franzose! Habe ich mit achtzig Jahren nicht geschafft.« Er lachelte. »Kannst du es denn in den Schlaf singen, Edith?«-»Ja.«
»Mit den Liedern, mit denen du meinen Sohn damals in den Schlaf gesungen hast. Es ist lange her, Edith. Alles ist plotzlich so lange her. Willst du mir nicht wieder einmal eines davon vorsingen? Manchmal bin ich auch schon wie ein Kind, das schlafen mochte.«
»Welches denn, Moritz?«
»Das Lied vom armen Judenkind. Es ist vierzig Jahre her, da? du es gesungen hast. Du warst sehr schon und jung damals. Du bist immer noch schon, Edith.«
Edith Rosenfeld lachelte. Dann richtete sie sich ein wenig auf und begann mit ihrer bruchigen Stimme ein altes jiddisches Lied zu singen. Ihre Stimme klirrte etwas, wie die dunne Melodie einer alten Spieldose. Moritz Rosenthal legte sich zuruck und lauschte. Er schlo? die Augen und atmete ruhig. Leise sang die alte Frau in dem kahlen Raum die schwermutige Melodie der Heimatlosigkeit und die traurigen Worte dazu:
Ruth und Kern sa?en schweigend und horten zu. Uber ihren Kopfen rauschte der Wind der Zeit – vierzig Jahre, funfzig Jahre wehten im Gesprach der alten Frau mit dem alten Mann voruber, und es erschien den beiden Alten als selbstverstandlich, da? sie vergangen waren. Aber mitten darin hockten die beiden zwanzigjahrigen Leben, fur