»Sieht nicht so aus.«
Sie gingen zusammen hinuber. Unter den kahlen Baumen wartete ein Mann von etwa funfzig Jahren. »Sind Sie Steiner?« fragte er.
»Nein«, sagte Steiner. »Warum?«
Der Mann ?xierte ihn ?uchtig. »Ich habe einen Brief fur Sie. Von Ihrer Frau.«
Er nahm einen Brief aus seiner Brieftasche und zeigte ihn Steiner. »Sie kennen ja wohl die Handschrift.«
Steiner fuhlte, da? er ruhig stand, mit aller Kraft, aber innen war plotzlich alles lose und bebte und ?og. Er konnte die Hand nicht heben; er glaubte, sie wurde weg?iegen.
»Woher wissen Sie, da? Steiner in Paris ist?« fragte Marill.
»Der Brief kommt aus Wien. Jemand hat ihn aus Berlin mitgebracht. Dann hat er Sie zu erreichen versucht und gehort, da? Sie in Paris sind.« Der Mann zeigte auf ein zweites Kuvert. Josef Steiner, Paris, stand darauf, in Lilos gro?er Handschrift. »Er hat mit noch anderer Post den Brief an mich geschickt. Ich suche Sie seit einigen Tagen. Im Cafe Maurice habe ich endlich gehort, da? ich Sie hier ?nden kann. Sie brauchen mir nicht zu sagen, ob Sie Steiner sind. Ich wei?, da? man vorsichtig sein mu?. Sie brauchen nur den Brief zu nehmen. Ich will ihn los werden.«
»Er ist fur mich«, sagte Steiner.
»Gut.«
Der Mann gab ihm den Brief. Steiner mu?te sich Muhe geben, ihn zu nehmen; er war anders und schwerer als alle Briefe der Welt. Aber als er den Umschlag zwischen den Fingern fuhlte, hatte man ihm die Hand abschlagen mussen, um ihn wiederzubekommen. »Danke«, sagte er zu dem Mann. »Sie haben viel Muhe gehabt.«
»Macht nichts. Wenn wir schon Post bekommen, ist sie wichtig genug, um jemand zu suchen. Gut, da? ich Sie gefunden habe.«
Er gru?te und ging.
»Marill«, sagte Steiner, vollkommen au?er sich. »Von meiner Frau! Der erste Brief! Was kann das sein? Sie sollte doch nicht schreiben!«
»Mach ihn auf…«
»Ja. Bleib hier sitzen. Verdammt, was mag sie haben?«
Er ri? den Umschlag auf und begann zu lesen. Er sa? wie ein Stein und las den Brief zu Ende; aber sein Gesicht begann sich zu verandern. Er wurde bleich und schien einzufallen. Die Muskeln an den Backen spannten sich, und die Adern traten hervor.
Er lie? den Brief sinken und sa? eine Zeitlang schweigend und starrte zu Boden. Dann blickte er nach dem Datum. »Zehn Tage…«, sagte er. »Sie liegt im Krankenhaus. Vor zehn Tagen hat sie noch gelebt…«- Marill sah ihn an und wartete.
»Sie sagt, sie sei nicht zu retten. Deshalb schreibt sie. Es sei ja nun egal. Sie sagt nicht, was sie hat. Sie schreibt… du verstehst… es ist ihr letzter Brief…«
»In welchem Krankenhaus liegt sie?« fragte Marill. »Hat sie es geschrieben?«
»Ja.«
»Wir werden sofort anrufen. Wir rufen das Krankenhaus an. Unter irgendeinem Namen.«
Steiner stand etwas taumelnd auf. »Ich mu? hin.«
»Ruf erst an. Komm, wir fahren zum Verdun.«
Steiner meldete die Nummer an. Nach einer halben Stunde klirrte das Telefon, und er ging in die Kabine, wie in einen dunklen Schacht. Als er herauskam, war er na? von Schwei?.
»Sie lebt noch«, sagte er.
»Hast du mit ihr gesprochen?« fragte Marill.
»Nein, mit dem Arzt.«
»Hast du deinen Namen gesagt?«
»Nein, ich habe gesagt, ich sei ein Verwandter von ihr. Sie ist operiert worden. Sie ist nicht mehr zu retten. Drei, vier Tage noch hochstens, sagt der Arzt. Deshalb hat sie auch geschrieben. Sie dachte nicht, da? ich den Brief so rasch bekame. Verdammt!« Er hatte den Brief immer noch in der Hand und sah sich um, als hatte er noch nie in dem schmutzigen Vorraum des Verdun gestanden. »Marill, ich fahre heute abend.«
Marill sah ihn an. »Bist du verruckt geworden, Kind?« fragte er dann leise.
»Nein. Ich komme uber die Grenze. Ich habe ja den Pa?.«
»Der Pa? nutzt dir nichts, wenn du druben bist. Das wei?t du doch selbst ganz genau!«
»Ja.«
»Dann wei?t du auch, was es bedeutet, wenn du ’ruberfahrst!«
»Ja.«
»Da? du wahrscheinlich verloren bist.«
»Ich bin auch verloren, wenn sie stirbt.«
»Das ist nicht wahr!« Marill war plotzlich ma?los wutend. »Es klingt roh, was ich dir rate, Steiner, schreibe ihr, telegra?ere ihr, aber bleibe hier.«
Steiner schuttelte abwesend den Kopf. Er hatte kaum zugehort.
Marill packte ihn an der Schulter. »Du kannst ihr nicht helfen. Auch nicht, wenn du hinfahrst.«
»Ich kann sie sehen.«
»Aber Mensch, sie wird entsetzt sein, wenn du kommst! Wenn du sie fragen wurdest, jetzt, sie wurde alles tun, damit du hierbleibst.«
Steiner hatte auf die Stra?e gestarrt, ohne etwas zu sehen. Jetzt wandte er sich rasch um. »Marill«, sagte er, und seine Augen ?atterten,»noch ist sie alles, was es gibt fur mich, sie lebt, sie atmet noch, ihre Augen sind noch da und ihre Gedanken, ich bin noch da hinter ihren Augen – und sie wird tot sein in ein paar Tagen, nichts mehr wird von ihr dasein, sie wird daliegen und es nicht mehr sein, ein zerfallender, fremder Kadaver – aber jetzt, jetzt ist sie doch noch da, sie ist noch da, ein paar Tage noch, die letzten Tage, und ich soll nicht bei ihr sein, begreife doch, da? ich fahren mu?, es geht gar nicht anders, verdammt, die Welt geht zugrunde, wenn ich nicht komme, ich zerbreche einfach, ich sterbe mit!«
»Du stirbst nicht mit. Komm, telegra?ere ihr, nimm mein Geld zu deinem, nimm das von Kern dazu und telegra?ere ihr jede Stunde, ganze Seiten, Briefe, alles – aber bleib hier!«
»Es ist nicht gefahrlich, wenn ich fahre. Ich habe den Pa?, ich komme wieder zuruck damit.«
»Quatsch mir nichts vor! Du wei?t, da? es gefahrlich ist! Sie haben druben eine verdammt gute Organisation.«
»Ich fahre«, sagte Steiner.
Marill versuchte ihn am Arm zu fassen und mitzuziehen.
»Komm, wir saufen ein paar Flaschen Schnaps! Besauf dich! Ich verspreche dir, da? ich alle paar Stunden telefonieren werde.«
Steiner schuttelte ihn ab wie ein Kind. »La? das, Marill. Es sitzt anderswo. Ich wei?, was du meinst. Ich verstehe es auch, ich bin nicht verruckt. Ich wei?, was auf dem Spiele steht, aber auch wenn es tausendmal mehr ware, wurde ich fahren, und nichts konnte mich daran hindern. Verstehst du das denn nicht?«
»Ja«, brullte Marill. »Naturlich verstehe ich es! Ich wurde ja selbst auch fahren!«
STEINER PACKTE SEINE Sachen. Er war wie ein vereister Strom, der aufgebrochen ist. Er konnte kaum begreifen, da? er mit jemand telefoniert hatte, der im gleichen Hause wie Marie gewesen war; es erschien ihm fast unfa?lich, da? seine eigene Stimme so dicht in ihrer Nahe im schwarzen Kautschuk einer Hormuschel gesummt hatte; alles erschien ihm unvorstellbar – da? er packte, da? er einen Zug besteigen wurde und da? er morgen da sein konnte, wo sie war.
Er warf den Rest der wenigen Dinge, die er brauchte, in den Koffer und schlo? ihn zu. Dann ging er zu Ruth und Kern hinuber. Sie hatten alles schon von Marill gehort und erwarteten ihn verstort.
»Kinder«, sagte er,»ich gehe jetzt weg. Es hat lange gedauert, aber ich wu?te eigentlich immer, da? es so kommen wurde. Nicht ganz so«, fugte er hinzu. »Aber das glaube ich auch noch nicht. Ich wei? es nur.«
Er lachelte verstort und traurig. »Leben Sie wohl, Ruth.«
Ruth gab ihm die Hand. Sie weinte. »Ich wollte Ihnen so vieles sagen, Steiner. Aber jetzt wei? ich nichts mehr. Ich bin nur noch traurig. Wollen Sie das mitnehmen?« Sie hielt ihm den schwarzen Pullover hin. »Er ist gerade heute fertig geworden.«