erreichen was! Das mussen Sie wohl zugeben, wie?«
»Naturlich.«. Zwanzig Franken, dachte Kern, sind vier Tage Pension. Vielleicht gibt er auch mehr.
»Da? es dem einzelnen dabei mal schlecht geht, oder bestimmten Gruppen…«, Oppenheim schnaufte kurz,»nun, das sind harte politische Notwendigkeiten! Gro?e Politik kennt keine Sentimentalitat. Das mussen wir hinnehmen…«
»Gewi?…«
»Sehen Sie«, sagte Oppenheim,»das Volk wird beschaftigt. Die nationale Wurde gehoben. Gewi?, es gibt da Ubertreibungen, aber das kommt immer im Anfang vor. Das wird sich geben. Betrachten Sie nur, was aus unserer Wehrmacht geworden ist! So was ist doch einzigartig! Wir sind plotzlich wieder vollwertig. Ein Volk ohne gro?e, schlagkraftige Armee ist nichts, gar nichts!«
»Davon verstehe ich nichts«, erwiderte Kern.
Oppenheim gab ihm einen schiefen Blick. »Das sollten Sie aber!« erklarte er und stand auf. »Gerade im Ausland!« Er haschte nach einer Mucke und zerdruckte sie sorgfaltig. »Die andern haben schon wieder Angst vor uns! Und Angst ist alles, glauben Sie mir das! Nur wenn der andere Angst hat, erreicht man was!«
»Das verstehe ich«, sagte Kern.
Oppenheim trank seinen Traubensaft aus und machte einige Schritte durch seinen Garten. Unten leuchtete der See wie ein blauer, vom Himmel gefallener Schild. »Und was ist mit Ihnen los?« fragte er in verandertem Ton. »Wohin wollen Sie?«
»Nach Paris.«
»Warum gerade nach Paris?«
»Ich wei? nicht. Um ein Ziel zu haben. Es soll besser sein, dort unterzukommen.«
»Warum bleiben Sie nicht in der Schweiz?«
»Herr Kommerzienrat!« Kern war plotzlich atemlos. »Wenn ich das konnte! Wenn Sie mir dazu verhelfen konnten, da? ich hierbliebe! Eine Empfehlung vielleicht, oder da? Sie bereit waren, mir Arbeit zu geben… wenn Sie mit Ihrem Namen…«
»Ich kann gar nichts machen«, unterbrach Oppenheim ihn eilig. »Gar nichts! Uberhaupt nichts. So meinte ich das auch gar nicht. Es war nur eine Frage. Ich mu? politisch vollig neutral sein, in jeder Beziehung. Ich kann mich in nichts einmischen!«
»Es ist doch nicht politisch…«
»Heute ist alles politisch! Die Schweiz ist mein Gastland. Nein, nein, kommen Sie mir nicht mit so was!« Oppenheim wurde immer mi?mutiger. »Was wollten Sie denn sonst noch?«
»Ich wollte fragen, ob Sie etwas von diesen Kleinigkeiten brauchen konnten.« Kern zog ein paar Sachen aus der Tasche.
»Was haben Sie denn? Parfum? Toilettewasser? Kommt nicht in Frage.« Oppenheim schob die Flaschen beiseite. »Seife? Na, ja. Seife kann man ja wohl immer brauchen. Zeigen Sie mal her! Schon. Lassen Sie ein Stuck hier. Warten Sie…« Er griff in die Tasche, zogerte einen Augenblick, schob ein paar Geldstucke zuruck und legte zwei Franken auf den Tisch. »So, ist ja wohl sehr gut bezahlt, was?«
»Es ist sogar zuviel. Die Seife koste nur einen Franken.«
»Na, lassen Sie nur«, erklarte Oppenheim gro?zugig. »Aber erzahlen Sie es nicht weiter. Man wird sowieso schon furchtbar uberlaufen.«
»Herr Kommerzienrat«, sagte Kern ruhig,»eben deshalb mochte ich nur das haben, was die Seife kostet.«
Oppenheim sah ihn etwas uberrascht an. »Na, wie Sie wollen. Ein gutes Prinzip ubrigens. Nichts schenken lassen. Das war auch immer mein Wahlspruch.«
Kern verkaufte nachmittags noch zwei Stuck Seife, einen Kamm und drei Pakete Sicherheitsnadeln. Er verdiente damit insgesamt drei Franken. Mehr aus Gleichgultigkeit ging er schlie?lich in ein kleines Waschegeschaft, das einer Frau Sarah Grunberg gehorte.
Frau Grunberg, eine Frau mit wirrem Haar und einem Zwicker, horte ihn geduldig an.
»Das ist nicht Ihr Beruf, wie?« fragte sie.
»Nein«, sagte Kern. »Ich glaube, ich bin auch nicht sehr geschickt dafur.«
»Wollen Sie arbeiten? Ich mache gerade Inventur. Zwei bis drei Tage hatte ich zu tun. Sieben Franken am Tag und gutes Essen. Sie konnen morgen um acht kommen.«
»Gern«, sagte Kern,»aber…«
»Ich wei? schon… von mir erfahrt keiner was. Und nun geben Sie mir ein Stuck Seife. Reicht das, drei Franken?«
»Es ist zuviel.«
»Es ist nicht zuviel. Es ist zuwenig. Verlieren Sie den Mut nicht.«
»Mit Mut allein kommt man nicht weit«, sagte Kern und nahm das Geld. »Aber es gibt immer wieder Gluck. Das ist besser.«
»Sie konnen mir jetzt noch ein paar Stunden aufraumen helfen. Einen Franken die Stunde. Nennen Sie das auch Gluck?«
»Ja«, sagte Kern. »Mit Gluck kann man gar nicht weit genug unten anfangen. Um so ofter kommt es.«
»Lernen Sie so was unterwegs?« fragte Frau Grunberg.
»Unterwegs nicht; aber in den Pausen, wenn ich nicht unterwegs bin. Dann denke ich daruber nach und versuche, etwas daraus zu lernen. Man lernt jeden Tag etwas. Manchmal sogar von Kommerzienraten.«
»Verstehen Sie auch was von Wasche?« fragte Frau Grunberg.
»Nur von sehr grober. Ich habe kurzlich in einem Institut zwei Monate lang nahen gelernt. Allerdings nur sehr einfache Sachen.«
»Kann nie schaden«, erklarte Frau Grunberg. »Ich kann sogar Zahne ziehen. Habe es vor zwanzig Jahren mal von einem Dentisten gelernt. Wer wei?… vielleicht mache ich damit noch gelegentlich mein Gluck!«
KERN ARBEITETE BIS zehn Uhr und bekam au?er einem guten Abendessen noch funf Franken ausgezahlt. Das reichte mit dem andern fur zwei Tage und gab ein besseres Gefuhl als hundert Franken des Kommerzienrates Oppenheim.
Ruth wartete auf ihn in einer kleinen Pension, die aus dem Adressenverzeichnis von Binder stammte. Man konnte dort ein paar Tage wohnen, ohne angemeldet zu sein. Sie war nicht allein. Neben ihr am Tisch auf der kleinen Terrasse sa? ein schlanker, alterer Mann.
»Gottlob, da? du da bist«, sagte Ruth und stand auf. »Ich habe schon Angst um dich gehabt.«
»Du mu?t keine Angst haben. Wenn man Angst hat, passiert meistens nichts. Es passiert nur etwas, wenn man gar nicht damit rechnet.«
»Das ist ein Sophismus, aber keine Philosophie«, sagte der Mann, der mit Ruth am Tisch gesessen hatte.
Kern drehte sich nach ihm um. Der Mann lachelte. »Kommen Sie und trinken Sie mit mir ein Glas Wein. Fraulein Holland wird Ihnen sagen, da? ich harmlos bin. Ich hei?e Vogt und war irgendwann einmal Privatdozent in Deutschland. Leisten Sie mir etwas Gesellschaft bei meiner letzten Flasche.«
»Warum bei Ihrer letzten Flasche?«
»Weil ich morgen fur eine Zeitlang in Pension gehe. Ich bin mude. Ich mu? mich etwas ausruhen.«
»Pension?« fragte Kern verstandnislos.
»Ich nenne es so. Man kann auch Gefangnis dazu sagen. Ich werde mich morgen bei der Polizei melden und erklaren, da? ich mich seit zwei Monaten illegal in der Schweiz aufhalte. Dafur bekomme ich dann ein paar Wochen Gefangnis, weil ich schon zweimal ausgewiesen worden bin. Staatspension. Es ist wichtig zu sagen, da? man schon einige Zeit wieder im Lande ist; sonst gilt der Bruch der Einreisesperre als Notstand und man wird nur uber die Grenze abgeschoben.«
Kern sah Ruth an.
»Wenn Sie etwas Geld brauchen… ich habe heute ganz gut verdient.«
Vogt wehrte ab. »Danke, nein, ich habe noch zehn Franken. Das reicht fur den Wein und die Nacht. Ich bin nur mude; ich will mich wieder einmal ausruhen. Und das konnen wir doch nur im Gefangnis. Ich bin zweiundfunfzig Jahre alt und nicht sehr gesund. Ich bin wirklich sehr mude vom Herumlaufen und Verstecken. Kommen Sie, setzen Sie sich beide zu mir. Wenn man so viel allein ist, freut man sich an Gesellschaft.«
Er go? Wein in die Glaser. »Es ist Neuchateler; herb und rein wie Gletscherwasser.«