Frau zum Teufel ging. Er stand zwischen Skylla und Charybdis. Langsam holte er eine Zigarette hervor und zundete sie an. Er zwang sich eisern, da? seine Hande nicht zitterten. Dann drehte er sich um und schlenderte zu Lilos Platz hinuber.

Lilo blieb an seiner Stelle stehen. Sie schlug einen Vergleich vor. Der Polizist solle noch einmal funf Schusse machen. Umsonst naturlich. Die anderen wollten nicht. Lilo blickte zu Kern hinuber. Sie sah, da? er bla? war, und sie merkte, da? mehr los war als nur ein Streit um Potzlochs Zauberkugeln. Sie lachelte plotzlich und setzte sich auf den Tisch, dem Polizisten gegenuber.

»So ein fescher Mann wird auch zum zweitenmal gut schie?en«, sagte sie. »Kommen Sie, probieren Sie es! Funf Freischusse fur den Schutzenkonig!«

Der Polizist reckte geschmeichelt den Kopf aus dem Kragen. »Wer so eine Hand hat, der hat keine Angst«, sagte Lilo und legte ihre schmale Hand auf die kraftige, rotlich behaarte des Feldwebels.

»Angst! Kennen wir nicht!« Der Polizist warf sich in die Brust und lachte holzern. »Ware ja noch schoner!«

»Das habe ich mir gedacht!« Lilo sah ihn bewundernd an und reichte ihm das Gewehr.

Der Polizist nahm es, zielte sorgfaltig und scho?. Eine Zwolf. Befriedigt blickte er Lilo an. Sie lachelte und lud das Gewehr wieder. Der Polizist scho? 58 Ringe.

Lilo strahlte ihn an. »Sie sind der beste Schutze seit Jahren hier«, erklarte sie. »Ihre Frau braucht wahrhaftig keine Angst zu haben.«

»Hab’ noch keine Frau.«

Sie sah ihm in die Augen. »Wohl nur, weil Sie nicht wollen.«

Er schmunzelte. Seine Freunde larmten. Lilo ging, ihm den Picknickkorb holen, den er gewonnen hatte. Er strich sich den Schnurrbart und sagte mit kleinen, kalten Augen plotzlich zu Kern:»Ich krieg’s schon ’raus mit Ihnen! Ich komme einmal in Uniform wieder!«

Dann nahm er grinsend seinen Korb und zog mit seinen Freunden weiter.

»Hat er Sie erkannt?« fragte Lilo rasch.

»Ich wei? nicht. Ich glaube nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Aber vielleicht er mich irgendwann.«

»Gehen Sie vorlau?g wieder weg. Besser, er sieht Sie nicht mehr. Sagen Sie es Steiner.«

DER POLIZIST KAM am selben Tag nicht wieder. Aber Kern beschlo?, noch abends abzufahren.

»Ich mu? weg«, sagte er zu Steiner. »Ich habe das Gefuhl, da? sonst etwas passiert. Ich war jetzt zwei Tage hier. Ich bin wieder in Ordnung, glaube ich, meinst du nicht auch?«

Steiner nickte. »Fahr ab, Baby. Ich will in ein paar Wochen auch weiter. Mein Pa? ist uberall besser als hier. In Osterreich wird es gefahrlich. Ich habe so allerhand gehort in den letzten Tagen. Komm, wir gehen zu Potzloch.«

Direktor Potzloch war wutend wegen des Picknickkorbes. »Ein Wert von drei?ig Schilling, junger Mann, netto, Einkauf en gros«, trompetete er. »Sie ruinieren mich!«

»Er geht ja«, sagte Steiner und erklarte ihm die Sachlage. »Es war reine Notwehr«, schlo? er. »Ihr Familienerbstuck ware verloren gewesen.«

Potzloch erschrak nachtraglich und verklarte sich dann. »Also gut, das ist was anderes.« Er zahlte Kern seine Gage aus und fuhrte ihn darauf vor die Schie?bude. »Junger Mann«, sagte er,»Sie sollen Leopold Potzloch kennenlernen, den letzten Menschenfreund! Suchen Sie sich hier von den Sachen was aus! Als Andenken. Zum Verkaufen naturlich. Ein ordentlicher Mensch behalt keine Andenken. Verbittern nur das Leben. Sie werden doch etwas handeln, wie? Suchen Sie aus! A discretion…«

Er verschwand in der Richtung des Panoramas der Sensationen. »Tue es ruhig«, sagte Steiner. »Schund geht immer. Nimm kleine, leichte Sachen. Tue es rasch, ehe Potzloch es bereut.«

Aber Potzloch bereute nicht. Im Gegenteil: er gab auf die Aschbecher, Kamme und Wurfel, die Kern sich ausgesucht hatte, freiwillig noch drei kleine nackte Gottinnen aus echtem Bronzeersatz hinzu. »Wird Ihr gro?ter Erfolg sein in kleineren Stadten«, erlauterte er und griff hohnlachend nach seinem Zwicker. »Der Mensch der Kleinstadt kennt die dumpfe Brunst. Kleinstadt ohne Bordell naturlich! Und nun Gott befohlen, Kern! Ich mu? zu einer Konferenz gegen die hohe Lustbarkeitssteuer. Lustbarkeitssteuer! Typisch fur dies Jahrhundert! Anstatt eine Pramie dafur auszusetzen!«

Kern packte seine Koffer. Er wusch seine Strumpfe und seine Hemden und hangte sie zum Trocknen auf. Dann a? er mit Lilo und Steiner zu Abend.

»Sei traurig, Kleiner«, sagte Steiner. »Es ist dein Recht. Die alten griechischen Helden weinten mehr als eine sentimentale Narrin unserer Tage. Sie wu?ten, da? man es nicht herunterfressen soll. Wir haben als Ideal die unbeugsame Courage einer Statue. Gar nicht notig. Sei traurig, dann bist du es bald los.«

»Traurigkeit ist manchmal – letztes Gluck«, sagte Lilo ruhig und gab Kern einen Teller Borschtsch mit Sahne.

Steiner lachelte und strich ihr ubers Haar. »Letztes Gluck fur dich, kleiner Kosmopolit, soll vorlau?g eine gute Mahlzeit sein. Die alte Soldatenweisheit. Und du bist ein Soldat, vergi? das nicht. Ein Vorposten. Eine Patrouille. Ein Pionier des Weltburgertums. Zehn Zollgrenzen kannst du mit einem Flugzeug an einem Tage uber?iegen; jede hat die andere notig-und alle panzern sich mit Eisen und Pulver bis an den Hals gegeneinander. Das bleibt nicht. Du bist einer der ersten Europaer – vergi? das nicht. Sei stolz darauf.«

Kern lachelte. »Alles ganz schon. Ich bin auch stolz darauf. Aber was mache ich heute abend, wenn ich allein bin?«

ER FUHR MIT dem Nachtzuge ab. Er nahm die billigste Klasse und den billigsten Zug und kam auf Umwegen bis Innsbruck. Von da ging er zu Fu? weiter und wartete auf ein Auto, das ihn mitnehmen sollte. Er fand keins. Abends ging er in ein kleines Gasthaus und a? eine Portion Bratkartoffeln; das sattigte und kostete wenig. Nachts schlief er in einem Heustadel. Er wandte dabei die Technik an, die der Dieb im Gefangnis ihm beigebracht hatte. Sie war erstklassig. Am nachsten Morgen fand er ein Auto, das ihn bis Landeck mitnahm. Der Besitzer kaufte ihm fur funf Schilling eine der Gottinnen Direktor Potzlochs ab. Abends begann es zu regnen. Kern blieb in einem kleinen Gasthof und spielte Tarock mit ein paar Holzfallern. Dabei verlor er drei Schilling. Er argerte sich so daruber, da? er bis Mitternacht nicht einschlafen konnte. Aber dann fand er es noch argerlicher, da? er zwei Schilling fur den Schlaf bezahlt hatte und auch noch darum kam; daruber schlief er ein. Morgens ging er weiter. Er hielt ein Auto an, aber der Fahrer verlangte funf Schilling Fahrgeld von ihm. Es war ein Austro-Daimler im Werte von 15 000 Schilling. Kern verzichtete. Spater nahm ihn ein Bauer ein Stuck auf seinem Wagen mit und schenkte ihm ein gro?es Butterbrot. Abends schlief er im Heu. Es regnete, und er lauschte lange auf das monotone Gerausch und roch den herben und erregenden Duft des nassen, garenden Heus. Am nachsten Tag erkletterte und uberschritt er den Arlbergpa?. Er war sehr mude, als er oben von einem Gendarmen abgefa?t wurde. Trotzdem mu?te er den Weg zuruck neben dem Fahrrad des Gendarmen her bis St. Anton machen. Dort sperrte man ihn eine Nacht ein. Er schlief keine Minute, weil er furchtete, man wurde herausbekommen, da? er in Wien gewesen sei, und ihn zuruckschicken und dort verurteilen. Aber man glaubte ihm, da? er uber die Grenze wollte und lie? ihn am nachsten Morgen laufen. Er gab jetzt seinen Koffer als Frachtgut bis Feldkirch auf, weil der Gendarm ihn daran erkannt hatte. Einen Tag spater war er in Feldkirch, holte seinen Koffer, wartete bis nachts, zog sich aus und uberschritt den Rhein, Koffer und Kleider in den hoch erhobenen

Handen. Er war jetzt in der Schweiz. Er marschierte zwei Nachte, bis er die gefahrliche Zone hinter sich hatte. Dann gab er seinen Koffer auf der Bahn auf und fand bald darauf ein Auto, das ihn bis Zurich mitnahm.

ES WAR NACHMITTAGS, als er am Hauptbahnhof ankam. Er lie? seinen Koffer an der Gepackaufbewahrungsstelle. Er wu?te Ruths Adresse; aber er wollte nicht tagsuber zu ihrer Wohnung gehen. Eine Zeitlang blieb er am Bahnhof; dann erkundigte er sich in einigen judischen Geschaften nach der Fluchtlingsfursorge. In einer Strumpfwarenhandlung bekam er die Adresse der Kultusgemeinde und ging hin.

Ein junger Mensch emp?ng ihn. Kern erklarte ihm, da? er gestern uber die Grenze gekommen sei.

»Legal?« fragte der junge Mann.

»Nein.«

»Haben Sie Papiere?«

Kern sah ihn erstaunt an. »Wenn ich Papiere hatte, ware ich nicht hier.«

»Jude?«

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