»Aus Italien.«
»Wie ist es da?«
»Es war gut. Ich war zwei Jahre dort. Jetzt ist es vorbei. Sie kontrollieren alles.«
»Zwei Jahre!« sagte Kern. »Das will was hei?en!«
»Ja, aber hier haben sie mich nach acht Tagen gefa?t. Geht das immer so?«
»Es ist schlimmer geworden im letzten halben Jahr
Der Neue stutzte den Kopf in die Hande. »Es wird uberall schlimmer. Was soll daraus noch werden? Wie ist es in der Tschechoslowakei?«
»Auch schlimmer. Es sind zu viele da. Waren Sie in der Schweiz?«
»Die Schweiz ist zu klein. Man fallt rasch auf.« Der Mann starrte vor sich hin. »Ich hatte doch nach Frankreich gehen sollen.«
»Konnen Sie Franzosisch?«
»Ja, naturlich.« Der Mann wuhlte in seinem Haar.
Kern sah ihn an. »Wollen wir etwas Franzosisch sprechen? Ich habe es gerade gelernt und mochte es nicht vergessen.«
Der Mann blickte erstaunt hoch. »Franzosisch sprechen?« Er lachte trocken auf. »Nein, das kann ich nicht! Ins Gefangnis geworfen werden und dann franzosische Konversation machen – das ist zu absurd! Wahrhaftig, Sie scheinen sonderbare Ideen zu haben.«
»Gar nicht. Ich fuhre nur ein sonderbares Leben.«
Kern wartete noch eine Weile, ob der Mann nicht nachgeben wurde. Dann kletterte er auf seine Pritsche und wiederholte solange unregelma?ige Verben, bis er endlich einschlief.
Er erwachte davon, da? ihn jemand ruttelte. Es war der Mann, der nicht franzosisch sprechen wollte. »Helfen Sie!« keuchte er. »Schnell! Er hat sich erhangt!«
Kern richtete sich verschlafen auf. Im fahlen Grau des fruhen Morgens hing eine schwarze Gestalt mit gesenktem Kopf am Fenster. Er sprang von seiner Pritsche. »Ein Messer! Rasch!«
»Verdammt, nein! Abgenommen! Ich werde ihn hochheben. Streifen Sie den Riemen uber seinen Kopf!«
Kern stieg auf die Pritsche und versuchte, den Erhangten anzuheben. Er war schwer wie die Welt. Er war viel schwerer, als er aussah. Seine Kleider waren kalt und tot wie er. Kern fa?te mit aller Kraft zu. Er konnte ihn nur mit Muhe heben. »Los!« keuchte er. »Riemen lockern! Ich kann ihn nicht lange so halten.«
»Ja.« Der andere kletterte hinauf und machte sich am Halse des Erhangten zu schaffen. Plotzlich lie? er los, schwankte und erbrach sich.
»Ver?uchte Sauerei!« schrie Kern. »Weiter konnen Sie nichts? Machen Sie ihn los! Schnell!«
»Kann’s nicht ansehen!« stohnte der andere. »Die Augen! Die Zunge!«
»Dann kommen Sie ’runter! Heben Sie ihn hoch, und ich werde ihn losmachen!«
Er gab den schweren Korper dem andern in die Arme und sprang auf die Pritsche. Der Anblick war schauderhaft. Das gedunsene, fahle Gesicht, die herausgequollenen, wie zerplatzten Augen, die dicke, schwarze Zunge – Kern griff nach dem dunnen Lederriemen, der tief in den geblahten Hals einschnitt.
»Hoher!« rief er. »Heben Sie ihn hoher!«
Er horte ein Gurgeln unter sich. Der Mann erbrach sich schon wieder. Gleichzeitig lie? er den Erhangten los, dem durch den Ruck die Augen und die Zunge heraustrieben, als mache er sich auf eine grauenhafte Weise uber die machtlosen Lebenden lustig. »Verdammt!« Kern suchte verzweifelt nach irgend etwas, damit der Mann unten zu sich kam. Plotzlich, wie ein Blitz, ?og ihm die Szene zwischen dem blonden Studenten und dem Kalfaktor durchs Gehirn. »Wenn du ver?uchtes Waschweib jetzt nicht sofort zufa?t«, brullte er,»trete ich dir die Eingeweide aus dem Leibe! Los, du elender Feigling!« Gleichzeitig holte er mit dem Fu? aus und spurte, da? er gut getroffen hatte. Er trat noch einmal mit aller Kraft. »Ich schlage dir den Schadel ein!« schrie er. »Heb sofort hoch!«
Der Mann unten schwieg und hob. »Hoher!« tobte Kern. »Hoher, du dreckiger Waschlappen!«
Der Mann hob hoher. Es gelang Kern, die Schlinge zu losen und uber den Kopf des Erhangten zu streifen. »So, jetzt ’runterlassen!«
Beide griffen zu und legten den schlaffen Korper auf die Pritsche. Kern ri? Weste und Hosenbund auf. »Stecken Sie die Klappe ’raus!« sagte er. »Rufen Sie nach der Wache! Ich werde mit kunstlicher Atmung anfangen.«
Er kniete hinter dem schwarzgrauen Kopf, nahm die kalten, toten Hande in seine warmen, lebensvollen und begann die Arme zu bewegen. Er horte das rauhe, krachzende Schlurfen, wenn der Brustkorb sich hob und senkte und horchte manchmal – aber der Atem blieb aus. An der Tur rasselte der Mann, der nicht franzosisch sprechen wollte, mit der Klappe und schrie:»Wache! Wache!« Es hallte dumpf in der Zelle.
Kern arbeitete weiter. Er wu?te, da? man es Stunden machen mu?te – aber nach einer Zeitlang horte er auf.
»Atmet er?« fragte der andere.
»Nein.« Kern war plotzlich entsetzlich mude. »Es ist auch sinnlos. Der Mann wollte sterben. Warum soll man ihm das nicht lassen?«
»Aber um Gottes willen…«
»Mensch, seien Sie ruhig!« sagte Kern sehr leise und gefahrlich. Er hatte es nicht ertragen, noch ein Wort zu horen. Er wu?te alles, was der Mann sagen wollte. Aber er wu?te auch, da? der andere sich zum zweitenmal aufhangen wurde, wenn er durchkam. »Versuchen Sie es«, sagte er nach einem Augenblick ruhiger. »Der hier wird schon gewu?t haben, weshalb er nicht mehr wollte.«
Gleich darauf kam die Wache. »Was soll der Radau? Verruckt geworden?«
»Hier hat sich jemand erhangt.«
»Herrgott! Was fur Scherereien! Lebt er noch?«
Der Wachmann offnete die Tur. Er roch stark nach Zervelatwurst und Wein. Seine Taschenlampe blitzte auf. »Ist er tot?«
»Wahrscheinlich.«
»Dann hat’s ja Zeit bis morgen fruh. Soll sich der Sternikosch damit ’rumargern. Ich wei? von nix.«
Er wollte weg. »Halt!« sagte Kern. »Sie holen sofort Sanitater. Von der Unfallwache.«
Der Wachmann starrte ihn an.
»Wenn sie in funf Minuten nicht hier sind, setzt es einen Krach, bei dem Sie Ihren Posten riskieren!«
»Es ist doch moglich, da? er noch gerettet werden kann! Mit Sauerstoff!« rief der andere Gefangene aus dem Hintergrund, wo er schattenhaft die Arme des Erhangten hob und senkte.
»Fangt gut an, der Tag!« murrte die Wache und schob ab.
Einige Minuten spater kamen Sanitater und holten den Erhangten ab.
Kurz darauf erschien die Wache noch einmal. »Ihr sollt Hosentrager, Gurtel und Schnurriemen abgeben.«
»Ich erhang’ mich nicht«, sagte Kern.
»Einerlei, ihr sollt’s abgeben.«
Sie gaben die Sachen ab und hockten sich auf die Pritsche. Es roch sauer nach Erbrochenem. »In einer Stunde ist es hell, dann konnen Sie es wegmachen«, sagte Kern.
Seine Kehle war trocken. Er war sehr durstig. Alles in ihm war trocken und staubig. Er fuhlte sich, als hatte er Kohle und Watte geschluckt. Als wurde er nie wieder sauber werden.
»Furchtbar, was?« sagte der andere nach einer Weile.
»Nein«, erwiderte Kern.
MAN BRACHTE SIE am nachsten Abend in eine gro?ere Zelle, in der schon vier Leute waren. Es schien Kern, als ob es alles Emigranten waren; aber er kummerte sich nicht darum. Er war sehr mude und kletterte auf seine Pritsche. Doch er konnte nicht schlafen. Er lag mit offenen Augen da und starrte auf das kleine Viereck des vergitterten Fensters. Spat, um Mitternacht, kamen noch zwei Leute dazu. Kern sah sie nicht; er horte sie nur rumoren.
»Wie lange dauert das wohl, bis wir hier wieder ’rauskommen?« fragte die Stimme eines der Neuen nach einiger Zeit zaghaft durch das Dunkel.
Es dauerte eine Weile, bis er Antwort bekam.
Dann knurrte eine Ba?stimme. »Kommt drauf an, was Sie gemacht haben. Bei Raubmord lebenslanglich – bei politischem Mord acht Tage.«