Kern sah ihn uberrascht an.
»Mein Lieber«, sagte der Student ruhig. »Sie scheinen noch nicht zu wissen, da? wir im Zeitalter des Bluffs leben. Die Demokratie ist durch die Demagogie abgelost worden. Eine naturliche Folge. Prost!«
Er entkorkte das Zwetschgenwasser und bot dem Studenten mit der Brille ein Glas an.
»Danke, ich trinke nicht«, erwiderte der verlegen.
»Naturlich! Hatte ich mir denken konnen!« Der Blonde kippte das Glas selbst herunter. »Schon deshalb werden die andern euch ewig verfolgen! Wie ist es mit uns beiden, Kern? Wollen wir die Flasche leermachen?«-»Ja.«
Sie tranken die Flasche aus. Dann legten sie sich auf die Pritschen. Kern glaubte, er konne schlafen. Aber er wachte alle Augenblicke wieder auf. Verdammt, was haben sie mit Ruth gemacht, dachte er. Und wie lange werden sie mich hier einsperren?
Er bekam zwei Monate Gefangnis. Korperverletzung, Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt, wiederholter, illegaler Aufenthalt – er wunderte sich, da? er nicht zehn Jahre bekam.
Er verabschiedete sich von dem Blonden, der um dieselbe Zeit freigelassen wurde. Dann fuhrte man ihn nach unten. Er mu?te seine Sachen abgeben und erhielt Gefangniskleidung. Wahrend er unter der Dusche stand, ?el ihm ein, da? es ihn einmal bedruckt hatte, als man ihm Handschellen anlegte. Es schien ihm endlos lange her zu sein. Jetzt fand er die Gefangniskleidung nur praktisch; er schonte so seine Privatsachen.
Seine Mitgefangenen waren ein Dieb, ein kleiner Defraudant und ein russischer Professor aus Kasan, der als Landstreicher eingesperrt worden war. Alle vier arbeiteten in der Schneiderei des Gefangnisses.
Der erste Abend war schlimm. Kern erinnerte sich an das, was Steiner ihm damals gesagt hatte – da? er sich gewohnen werde. Aber er sa? trotzdem auf seiner Pritsche und starrte gegen die Wand.
»Sprechen Sie Franzosisch?« fragte ihn der Professor plotzlich von seiner Pritsche her.
Kern schreckte auf. »Nein.«
»Wollen Sie es lernen?«
»Ja. Wir konnen gleich anfangen.«
Der Professor stand auf. »Man mu? sich beschaftigen, wissen Sie! Sonst fressen einen die Gedanken auf.«
»Ja.« Kern nickte. »Ich kann es au?erdem gut gebrauchen. Ich werde wohl nach Frankreich mussen, wenn ich ’rauskomme.«
Sie setzten sich nebeneinander auf die Ecke der unteren Pritsche. Uber ihnen rumorte der Defraudant. Er hatte einen Bleistiftstummel und bemalte die Wande mit schweinischen Zeichnungen. Der Professor war sehr mager. Die Gefangniskluft war ihm viel zu weit. Er hatte einen roten, wilden Bart und ein Kindergesicht mit blauen Augen. »Fangen wir an mit dem schonsten und vergeblichsten Wort der Welt«, sagte er mit einem wunderschonen Lacheln ohne jede Ironie -»mit dem Wort Freiheit – la liberte.«
KERN LERNTE VIEL in dieser Zeit. Nach drei Tagen konnte er bereits beim Spazierengehen auf dem Hof mit den Gefangenen vor und hinter sich sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. In der Schneiderei memorierte er auf dieselbe Weise eifrig mit dem Professor franzosische Verben. Abends, wenn er mude vom Franzosischen war, brachte ihm der Dieb bei, aus einem Draht Dietriche zu machen und wachsame Hunde zu beschwichtigen. Er lehrte ihn auch die Reifezeiten aller Feldfruchte und die Technik, unbemerkt in Heuschober zu kriechen, um dort zu schlafen. Der De-fraudant hatte einige Hefte der »Eleganten Welt« eingeschmuggelt. Es war au?er der Bibel das einzige, was sie zu lesen hatten, und sie lernten daraus, wie man sich bei diplomatischen Empfangen zu kleiden hatte und wann man zum Frack eine rote oder eine wei?e Nelke zu tragen hatte. Leider war der Dieb in einem Punkte unbelehrbar; er behauptete, zum Frack gehore eine schwarze Krawatte – er habe es in genug Lokalen bei Kellnern gesehen.
Als sie am Morgen des funften Tages herausgefuhrt wurden, stie? der Kalfaktor Kern so heftig an, da? er gegen die Wand taumelte. »Pa? auf, du Esel!« brullte er.
Kern tat, als ob er sich nicht auf den Fu?en halten konnte. Er wollte auf diese Weise den Kalfaktor gegen das Schienbein treten, ohne da? er bestraft werden konnte. Es hatte dann wie ein Zufall ausgesehen. Doch bevor es dazu kam, zupfte der Kalfaktor ihn am Armel und ?usterte:»Melde dich in einer Stunde zum Austreten. Sag, du hast Bauchkrampfe. Vorwarts!« schrie er dann. »Meinst du, wir konnen auf dich warten?«
Kern uberlegte wahrend des Spazierganges, ob der Kalfaktor ihn mit irgend etwas ’reinlegen wollte. Beide konnten sich nicht leiden. Er besprach die Sache nachher lautlos ?usternd in der Schneiderei mit dem Dieb, der Gefangnisfachmann war.
»Austreten kannst du immer«, erklarte der. »Das ist dein menschliches Recht. Damit kann er dir nichts machen. Manche treten ofter aus, manche weniger, das ist die Natur. Aber pa? nachher auf.«
»Gut. Mal sehen, was er will. Auf jeden Fall ist es eine Abwechslung.«
Kern simulierte Bauchschmerzen, und der Kalfaktor fuhrte ihn hinaus. Er brachte ihn zum Lokus und sah sich um. »Zigarette?« fragte er.
Es war verboten zu rauchen. Kern lachte. »Das ist es also! Nein, mein Lieber, damit kriegst du mich nicht.«
»Ach, halt’s Maul. Meinst du, ich will dich ’reinlegen? Kennst du Steiner?«
Kern starrte den Kalfaktor an. »Nein«, sagte er dann. Er vermutete, da? es eine Falle war, um Steiner zu fangen.
»Du kennst Steiner nicht?«
»Nein.«
»Schon, dann pa? auf. Steiner la?t dir sagen, da? Ruth in Sicherheit ist. Du brauchst keine Sorge zu haben. Wenn du herauskommst, sollst du dich nach der Tschechei ausweisen lassen und zuruckkommen. Kennst du ihn nun?«
Kern spurte plotzlich, da? er zitterte. »Jetzt eine Zigarette?« fragte der Kalfaktor.
Kern nickte. Der Kalfaktor zog eine Schachtel Memphis und ein Paket Streichholzer aus der Tasche. »Hier, nimm! Von Steiner. Wenn du erwischt wirst, hast du sie nicht von mir gekriegt. Und nun setz dich da hinein und rauch eine. Blas den Rauch in die Brille. Ich gebe drau?en acht.«
Kern setzte sich auf die Brille. Er nahm eine Zigarette heraus, brach sie in zwei Teile und zundete die eine Halfte an. Er rauchte langsam und tief. Ruth war in Sicherheit. Steiner pa?te auf. Er starrte auf die schmutzige Wand mit den obszonen Zeichnungen und glaubte, es sei der schonste Raum der Welt.
»Warum hast du mir denn nicht gesagt, da? du Steiner kennst?« sagte der Kalfaktor zu ihm, als er wieder herauskam.
»Nimm eine Zigarette«, sagte Kern.
Der Kalfaktor schuttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage!«
»Woher kennst du ihn denn?« fragte Kern.
»Er hat mich einmal aus einem Senf herausgeholt. Verdammter Senf. Nun komm!«
Sie gingen zuruck in die Schneiderei. Der Professor und der Dieb sahen Kern an. Er nickte und setzte sich. »In Ordnung?« fragte der Professor lautlos.
Kern nickte wieder.
»Also weiter«, ?usterte der Professor in seinen roten Bart. »Aller. Unregelma?iges Verb. Je vais, tu vas, il…«
»Nein«, erwiderte Kern. »Heute wollen wir ein anderes nehmen. Was hei?t: lieben?«
»Lieben? Aimer. Aber das ist ein regelma?iges Verb…«
»Eben deshalb«, sagte Kern.
DER PROFESSOR WURDE nach vier Wochen entlassen. Der Dieb nach sechs; der Defraudant ein paar Tage spater. Er versuchte, Kern in den letzten Tagen zur Homosexualitat zu bekehren; aber Kern war kraftig genug, ihn sich vom Leibe zu halten. Er schlug ihn einmal mit dem kurzen Geraden des blonden Studenten k. o.; dann hatte er Ruhe.
Er war einige Tage allein; dann bekam er zwei neue Zellengenossen. Er erkannte sofort, da? es Emigranten waren. Der eine war alter und sehr schweigsam, der jungere ungefahr drei?ig Jahre alt. Sie trugen abgeschabte Anzuge, denen man die Muhe ansah, mit der sie saubergehalten wurden.
Der altere legte sich sofort auf die Pritsche.
»Wo kommen Sie her?« fragte Kern den jungeren.