»Gibst du mir noch ein Glas?« fragte sie Steiner.
»Soviel du willst, mein melancholisches Steppenkind. Ruth, wie ist es mit Ihnen?«
»Auch noch einen.«
»Gebt mir auch noch einen«, sagte Kern. »Ich habe Gehaltserhohung bekommen.«
Sie tranken und a?en dann die warmen Kohl- und Fleischpasteten. Hinterher hockte Steiner sich auf sein Bett und rauchte. Kern und Ruth setzten sich auf das Lager Kerns am Boden. Lilo ging hin und her und raumte ab. Ihr Schatten schwankte gro? uber die Wande des Wagens. »Sing etwas, Lilo«, sagte Steiner nach einer Weile.
Sie nickte und nahm eine Gitarre, die in der Ecke an der Wand hing. Ihre Stimme, die heiser war, wenn sie sprach, wurde klar und tief, wenn sie sang. Sie sa? im Halbdunkel. Ihr sonst unbewegtes Gesicht belebte sich, und die Augen bekamen einen wilden und schwermutigen Glanz. Sie sang russische Volkslieder und die alten Wiegenlieder der Zigeuner. Nach einer Zeitlang horte sie auf und sah Steiner an. Das Licht spiegelte sich in ihren Augen.
»Sing weiter«, sagte Steiner.
Sie nickte und griff einige Akkorde auf der Gitarre. Dann begann sie zu summen, kleine, einformige Melodien, aus denen manchmal Worte aufstiegen wie Vogel aus dem Dunkel weiter Steppen, Lieder der Wanderschaft, der ?uchtigen Ruhe unter Zelten, und es schien, als wurde auch der Wagen im unruhigen Licht der Lampions zu einem Zelt, rasch aufgeschlagen in der Nacht, und morgen mu?ten sie alle weiter.
Ruth sa? vor Kern und lehnte sich an ihn; ihre Schultern beruhrten seine hochgezogenen Knie, und er spurte die glatte Warme ihres Ruckens. Sie legte den Kopf zuruck gegen seine Hande. Die Warme stromte durch seine Hande in sein Blut und machte ihn hil?os vor fremden Wunschen. Es wollte etwas herein und hinaus, ein Dunkles, es war in ihm und au?er ihm, es war in der tiefen, leidenschaftlichen Stimme Lilos und in dem Atem der Nacht, in der verworrenen Flucht seiner Gedanken und in der leuchtenden Flut, die ihn plotzlich hob und trug. Er legte seine Hande wie eine Schale um den schmalen Nacken vor ihm, der ihm willig entgegenkam.
ES WAR STILL drau?en, als Kern und Ruth fortgingen. Die Buden waren schon mit ihren Zeltplanen verhangt, der Larm war verstummt, und uber Rummel und Geschrei, uber das Knallen der Schusse und die schrillen Rufe der Achterbahnen war lautlos wieder der Wald gewachsen und hatte den bunten und grauen Aussatz der Zelte unter sich begraben.
»Willst du schon nach Hause?« fragte Kern.
»Ich wei? nicht. Nein.«
»La? uns noch hierbleiben. Herumgehen. Ich wollte, es wurde nie morgen.«
»Ja. Morgen ist immer Angst und Ungewi?heit. Wie schon es hier ist.«
Sie gingen durch das Dunkel. Die Baume uber ihnen regten sich nicht. Sie waren in ein weiches Schweigen wie in unsichtbare Watte gepackt. Die Blatter machten nicht das geringste Gerausch.
»Vielleicht sind wir die einzigen, die noch wach sind…«
»Ich wei? nicht. Die Polizisten sind immer langer wach…«
»Hier gibt es keine Polizisten. Hier nicht. Hier ist Wald. Wie schon es ist zu gehen! Man horte die Fu?e gar nicht.«
»Ja, man hort nichts.«
»Doch, dich hore ich. Aber vielleicht bin ich es auch. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es war ohne dich.«
Sie gingen weiter. Es war so still, da? die Stille zu raunen schien – als ware sie ohne Atem und warte auf etwas ungeheuer Fremdes von weit her.
»Gib mir deine Hand«, sagte Kern. »Ich habe Angst, da? du plotzlich nicht mehr da bist.«
Ruth lehnte sich an ihn. Er fuhlte ihr Haar an seinem Gesicht. »Ruth«, sagte er,»ich wei?, es ist nichts anderes als ein bi?chen Zusammengehoren in all der Flucht und der Leere – aber fur uns ist das wohl mehr als vieles, das gro?e Namen hat…«
Sie nickte an seiner Schulter. Sie standen eine Weile so. »Ludwig«, sagte Ruth. »Manchmal mochte ich nirgendwo mehr hin. Mich einfach so fallen lassen, in die Erde, und ausloschen…«
»Bist du mude?«
»Nein, nicht mude. Ich bin nicht mude. Ich konnte immer so weitergehen. Es ist so weich. Man sto?t nirgendwo an.«
Es begann zu wehen. Das Laub uber ihnen ?ng an zu rauschen. Kern fuhlte einen warmen Tropfen auf seiner Hand. Ein zweiter streifte sein Gesicht. Er sah auf. »Es fangt an zu regnen, Ruth.«
»Ja.«
Die Tropfen ?elen regelma?iger und dichter. »Nimm meine Jacke«, sagte Kern. »Mir macht es nichts, ich bin es gewohnt.«
Er hangte Ruth seine Jacke uber die Schultern. Sie fuhlte die Warme, die noch darin war, und fuhlte sich plotzlich sonderbar geborgen.
Es horte auf zu wehen. Einen Augenblick schien der Wald den Atem anzuhalten, dann ?ammte ein lautloser, wei?er Blitz durch das Dunkel, ein rascher Donner folgte, und auf einmal sturzte der Regen hernieder, als hatte der Blitz den Himmel aufgerissen.
»Komm schnell!« rief Kern.
Sie liefen dem Karussell zu, das mit seinen heruntergelassenen Zeltwanden wie ein stumpfer Rauberturm undeutlich in der Nacht stand. Kern hob die Zeltplane an einer Stelle hoch, sie krochen beide darunter hinweg und standen, hoch atmend, plotzlich geschutzt wie unter einer riesigen, dunklen Trommel, auf die der Regen herabprasselte.
Kern fa?te Ruths Hand und zog sie mit sich. Ihre Augen gewohnten sich bald an das Dunkel. Gespensterhaft ragten die Umrisse der sich baumenden Pferde auf; die Hirsche waren in ewiger, schattenhafter Flucht versteinert; die Schwane breiteten Flugel voll geheimnisvoller Dammerung, und ruhevoll standen, dunkler im Dunkel, die machtigen Rucken der Elefanten.
»Komm!« Kern zog Ruth zu einer Gondel. Er griff ein paar Samtkissen aus den Wagen und Karossen zusammen und packte sie unten hinein. Dann ri? er einem Elefanten seine goldbestickte Schabracke ab. »So, jetzt hast du eine Decke wie eine Prinzessin…«
Drau?en rollte langgezogen der Donner. Die Blitze warfen einen matten, bleichen Glanz in das warme Dunkel des Zeltes – und jedesmal tauchten dann die bunten Geweihe und Geschirre der Tiere, die friedlich in ewigem Kreise hintereinander paradierten, auf, wie die sanfte, ferne Vision eines verzauberten Paradieses. Kern sah Ruths bleiches Gesicht mit den dunklen Augen, und er spurte, wahrend er sie zudeckte, ihre Brust unter seiner Hand; unbekannt und fremd wieder und erregend, wie in der ersten Nacht im Hotel Bristol in Prag.
Das Gewitter kam rasch naher. Der Donner uberrollte das Trommeln auf dem straffgespannten Zeltdache, von dem das Wasser in Gussen herniederscho?; der Boden bebte bei den heftigen Schlagen, und plotzlich, im nachklingenden Schweigen einer letzten, besonders schweren Erschutterung, loste sich das Karussell und begann sich langsam zu drehen. Langsamer als am Tage, fast unwillig und wie unter einem geheimen Zwang – auch die Musik war langsamer als am Tage und auf eine sonderbare Weise mit Pausen untermischt. Es war nur eine halbe Runde, als ware es einen Augenblick aus dem Schlaf erwacht – dann stand es wieder still, und auch die Orgel schwieg, als ware sie mude auseinandergebrochen, und nur noch Regen rauschte, der Regen, das alteste Schla?ied der Welt.
ZWEITER TEIL
Der Platz vor der Universitat lag in der leeren Mittagssonne. Die Luft war klar und blau, und uber den Dachern kreiste ein Zug unruhiger Schwalben. Kern stand am Rande des Platzes und wartete auf Ruth.
Die ersten Studenten kamen durch die gro?en Turen und gingen die Treppen hinunter. Kern reckte den Kopf, um Ruths braune Baskenmutze zu entdecken. Sie war gewohnlich eine der ersten, die herauskamen. Aber er sah sie nicht. Es kamen plotzlich auch keine Studenten mehr. Im Gegenteil: eine Anzahl von denen, die drau?en