In meinem Zimmer steht hinter dem Tisch ein braunes Ledersofa. Ich setze mich hinein.
An den Wanden sind viele Bilder mit Rei?zwecken festgemacht, die ich fruher aus Zeitschriften geschnitten habe. Postkarten und Zeichnungen dazwischen, die mir gefallen haben. In der Ecke steht ein kleiner eiserner Ofen. An der Wand gegenuber das Regal mit meinen Buchern.
In diesem Zimmer habe ich gelebt, bevor ich Soldat wurde. Die Bucher habe ich nach und nach gekauft von dem Geld, das ich mit Stundengeben verdiente. Viele davon antiquarisch, alle Klassiker zum Beispiel, ein Band kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem, blauem Leinen. Ich habe sie vollstandig gekauft, denn ich war grundlich, bei ausgewahlten Werken traute ich den Herausgebern nicht, ob sie auch das Beste genommen hatten. Deshalb kaufte ich mir »Samtliche Werke«. Gelesen habe ich sie mit ehrlichem Eifer, aber die meisten sagten mir nicht recht zu. Um so mehr hielt ich von den anderen Buchern, den moderneren, die naturlich auch viel teurer waren. Einige davon habe ich nicht ganz ehrlich erworben, ich habe sie ausgeliehen und nicht zuruckgegeben, weil ich mich von ihnen nicht trennen mochte.
Ein Fach des Regals ist mit Schulbuchern gefullt. Sie sind wenig geschont und stark zerlesen, Seiten sind herausgerissen, man wei? ja wofur. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe hingepackt, Zeichnungen und Versuche.
Ich will mich hineindenken in die Zeit damals. Sie ist ja noch im Zimmer, ich fuhle es sofort, die Wande haben sie bewahrt. Meine Hande liegen auf der Sofalehne; jetzt mache ich es mir bequem und ziehe auch die Beine hoch, so sitze ich gemutlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine Fenster ist geoffnet, es zeigt das vertraute Bild der Stra?e mit dem ragenden Kirchturm am Ende. Ein paar Blumen stehen auf dem Tisch. Federhalter, Bleistifte, eine Muschel als Briefbeschwerer, das Tintenfa? – hier ist nichts verandert.
So wird es auch sein, wenn ich Gluck habe, wenn der Krieg aus ist und ich wiederkomme fur immer. Ich werde ebenso hier sitzen und mein Zimmer ansehen und warten. Ich bin aufgeregt; aber ich mochte es nicht sein, denn das ist nicht richtig. Ich will wieder diese stille Hingerissenheit, das Gefuhl dieses heftigen, unbenennbaren Dranges verspuren, wie fruher, wenn ich vor meine Bucher trat. Der Wind der Wunsche, der aus den bunten Bucherrucken aufstieg, soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft, die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; – er soll mir das verlorene Bereitsein meiner Jugend zuruckbringen.
Ich sitze und warte.
Mir fallt ein, da? ich zu Kemmerichs Mutter gehen mu?; – Mittelstaedt konnte ich auch besuchen, er mu? in der Kaserne sein. Ich sehe aus dem Fenster: – hinter dem besonnten Stra?enbild taucht verwaschen und leicht ein Hugelzug auf, verwandelt sich zu einem hellen Tag im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln aus der Schale esse.
Doch daran will ich nicht denken, ich wische es fort. Das Zimmer soll sprechen, es soll mich einfangen und tragen, ich will fuhlen, da? ich hierhergehore, und horchen, damit ich wei?, wenn ich wieder an die Front gehe: Der Krieg versinkt und ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr kommt, er ist voruber, er zerfri?t uns nicht, er hat keine andere Macht uber uns als nur die au?ere!
Die Bucherrucken stehen, nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu mir, – nehmt mich auf – nimm mich auf, du Leben von fruher, – du sorgloses, schones – nimm mich wieder auf – Ich warte, ich warte.
Bilder ziehen voruber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und Erinnerungen.
Nichts – nichts.
Meine Unruhe wachst.
Ein furchterliches Gefuhl der Fremde steigt plotzlich in mir hoch. Ich kann nicht zuruckfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig spure ich Furcht, sie zu sehr zu beschworen, weil ich nicht wei?, was dann alles geschehen konnte. Ich bin ein Soldat, daran mu? ich mich halten.
Mude stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der Bucher und blattere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, blattere, nehme neue Bucher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu, hastiger
– Blatter, Hefte, Briefe. Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht. Mutlos. Worte, Worte, Worte – sie erreichen mich nicht. Langsam stelle ich die Bucher wieder in die Lucken. Vorbei. Still gehe ich aus dem Zimmer.
Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr, aber ich troste mich damit, da? einige Tage noch nicht ein Ende zu sein brauchen. Ich habe nachher -spater – Jahre dafur Zeit. Vorlaufig gehe ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewohnt bin. Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er erzahlt mir, da? Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann. »Stell dir vor«, sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus,»ich komme aus dem Lazarett hierher und falle gleich uber ihn. Er streckt mir seine Pfote entgegen und quakt: ›Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?‹ – Ich sehe ihn gro? an und antworte: ›Landsturmmann Kantorek, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen. Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.‹ – Du hattest sein Gesicht sehen mussen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindganger. Zogernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern. Da schnauzte ich etwas scharfer. Nun fuhrte er seine starkste Batterie ins Gefecht und fragte vertraulich › ›Soll ich Ihnen vermitteln, da? Sie Notexamen machen?‹ Er wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich erinnerte ihn auch. ›Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden ware. Ohne Sie hatte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.‹ – Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich ihn zur Kammer und sorgte fur eine hubsche Ausrustung. Du wirst ihn gleich sehen.«
Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt la?t ruhren und besichtigt.
Da erblicke ich Kantorek und mu? das Lachen verbei?en. Er tragt eine Art Scho?rock aus verblichenem Blau. Auf dem Rucken und an den Armeln sind gro?e dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock mu? einem Riesen gehort haben. Um so kurzer ist die abgewetzte schwarze Hose; sie reicht bis zur halben Wade. Dafur sind aber die Schuhe sehr geraumig, eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu schnuren. Als Ausgleich ist die Mutze wieder zu klein, ein furchtbar dreckiges, elendes Kratzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswurdig. Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm:»Landsturmmann Kantorek, ist das Knopfputz? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenugend, Kantorek, ungenugend -«
Ich brulle innerlich vor Vergnugen. Genauso hat Kantorek in der Schule Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall:»Ungenugend, Mittelstaedt, ungenugend.«
Mittelstaedt mi?billigt weiter:»Sehen Sie sich mal Boettcher an, der ist vorbildlich, von dem konnen Sie lernen.«
Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schie?t mir einen Blick zu, als ob er mich fressen mochte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in die Visage, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.
Wie blodsinnig er aussieht mit seinem Kratzchen und seiner Uniform! Und vor so was hat man fruher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder thronte und einen mit dem Bleistift aufspie?te bei den unregelma?igen franzosischen Verben, mit denen man nachher in Frankreich doch nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; – und jetzt steht hier der Landsturmmann Kamorek, jah entzaubert, mit krummen Knien und Armen wie Topfhenkel, mit schlechtem Knopfputz und lacherlicher Haltung, ein unmoglicher Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen mit dem drohenden Bilde auf dem Katheder, und ich mochte wirklich gern mal wissen, was ich machen werde, wenn dieser Jammerpelz mich alten Soldaten jemals wieder fragen darf:»Baumer, nennen Sie das Imparfait von aller -«
Vorlaufig la?t Mittelstaedt etwas Schwarmen uben. Kantorek wird dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenfuhrer bestimmt.
Damit hat es seine besondere Bewandtnis. Der Gruppenfuhrer mu? beim Schwarmen namlich stets zwanzig