beugen, einige der aggressiveren Taktiken aufzugeben, die zu dem schlechten Image der Drachen gefuhrt hatten, und sich unauffallig zu verhalten. Die Drachen beschlossen einstimmig, die uralten Disziplinen des Jagens und Bewachens durch die des Versteckens und Ausweichens zu ersetzen. Steht nicht einfach in der Gegend herum und bewacht Schatze, rieten sie einander. Verschmelzt mit der Landschaft, lebt auf dem Grund von Flussen – denn viele Drachen konnten unter Wasser leben, die sogenannten Kiemendrachen, die sich von Haien, Killerwalen und Mahimahi ernahrten. Die Landdrachen mu?ten sich eine andere Strategie zulegen. Sie versteckten sich in kleinen Bergen, Hugeln und sogar in Baumstammen, gaben ihre ursprungliche Wildheit auf und begnugten sich damit, hin und wieder einen Jager zu erlegen, der in ihr Revier eindrang. Ab und zu kehrte ein Drache zu seinem fruheren Verhalten zuruck, woraufhin er unweigerlich gejagt und schlie?lich getotet wurde. Dann wurde sein Name in der Heldenhalle der Drachen verzeichnet, und den anderen wurde anhand seines Beispiels empfohlen, sich nicht wie er zu benehmen.

Skander war selbst nach Drachenma?staben alt. Deshalb war er auch besonders gerissen und hielt sich von jeglichem Arger fern. Er lebte in Zentralasien, irgendwo in der Nahe von Samarkand, und er war schon vor dem Entstehen der Stadt dort gewesen. Wenn er nicht gefunden werden wollte, hatte man ihn jahrhundertelang suchen konnen, ohne ihn jemals zu Gesicht zu bekommen. Wer ihn jedoch aufspurte, fand einen meistens hilfreichen Drachen von gro?er Weisheit. Allerdings war er auch launisch und neigte zu Stimmungsumschwungen.

Das alles war Ylith bekannt, aber sie mu?te es trotzdem auf einen Versuch ankommen lassen. Sie suchte ein Bundel Hochleistungsbesen von der Sorte zusammen, mit der man fliegen konnte. Diese Besen waren die gro?te Errungenschaft der Hexen. Sie wurden mit Zauberspruchen betrieben, die von der in Byzanz ansassigen Schwesternschaft der Hexen zusammengestellt wurden. Die Kraft der Zauberspruche verlief allerdings in Zyklen, wodurch sie im einen Jahr sehr machtig, im nachsten dagegen nicht so machtig waren. Zauberspruche unterlagen den Naturgesetzen, aber da diese nicht genau verstanden wurden, kam es gelegentlich zu Ausfallen.

Der logischste Ausgangspunkt ihrer Suche schien Ylith der Ort zu sein, an dem sie Skander das letzten Mal gesehen hatte: der Drachenfels. Drachen sind klug genug, um zu wissen, da? die Menschen sie nie an einem Ort namens Drachenfels suchen wurden.

Viele Helden waren durch diese Gegend geritten, die meisten mit den dort gebrauchlichen leichten Krummschwertern bewaffnet, die sowieso nichts gegen einen Drachen hatten ausrichten konnen. Aber Skander hatte trotzdem nicht versucht, sich mit diesen Leichtgewichten anzulegen. Seine sich uberlappenden Schuppen konnten selbst der Gewalt einer Lawine standhalten, und er machte sich keine Sorgen wegen Schwertern, solange sie nicht durch wirklich starke Zauber verstarkt wurden. Aber die Menschen waren hinterlistige Geschopfe: Einen Moment lang sah es so aus, als wurden sie einem auf die Schulter zielen, und – zack – im nachsten Moment hatte man einen Pfeil im Auge. Trotz ihrer au?erordentlich hohen Intelligenz und ihrer jahrhundertelangen Erfahrung neigten Drachen standig dazu, Pfeile in die Augen zu bekommen. Sie hatten den Trick der Menschen, scheinbar in die eine Richtung zu zielen und dann doch eine andere zu wahlen, nie vollkommen durchschaut. Dieses Verhalten widersprach ganz einfach der Kampfpraxis der Drachen und ihrer Vorstellung von der Ethik eines Kriegers.

Aus irgendeinem Grund hatte Ylith Skander am Drachenfels getroffen, als sie bei Verwandten zu Besuch gewesen war, die erst kurzlich von Skythien dorthin gezogen waren. Damals hatte sich Skander eines seltenen Gestaltwandelzaubers bedient, auf den er gesto?en war. Drachen sind immer auf der Suche nach Gestaltwandelzaubern, denn als intelligente Geschopfe sehnen sie sich danach, sich unter die Menschen zu mischen. Auch wenn die Menschen davon nichts wissen, haben sich Drachen in menschlicher Gestalt an vielen herrschaftlichen Hofen der Erde aufgehalten, weil sie dort ihrer Leidenschaft fronen konnen, mit Philosophen zu diskutieren. Noch haufiger aber liegt der Grund fur ihre Ausfluge in die Menschenwelt einfach daran, da? sie der jahrelangen Einsamkeit uberdrussig sind. Was sie so einsam macht, ist ihr Mi?trauen dem jeweils anderen Geschlecht gegenuber. Das, und nicht etwa mangelnde Gelegenheiten oder fehlende Lusternheit, ist auch die Erklarung dafur, warum sich Drachen so selten paaren und noch seltener Junge bekommen. Bei Drachen gibt es keine festgelegten Regeln, welches Elternteil fur die Erziehung der Kinder verantwortlich ist. Es besteht nicht einmal eine Ubereinkunft daruber, wer sie gebaren soll. Die Drachen haben diese instinktiven Verhaltensformen schon vor Jahrhunderten uberwunden. Als vernunftbegabte Geschopfe, die sie mittlerweile geworden waren, stritten sie sich standig uber solche Fragen. Es wird behauptet, da? im Zuge der Klarung dieser Streitfragen ein gro?er Teil der Drachenpopulation ausgeloscht wurde.

Und durch diese Verwirrung hatten die Helden leichtes Spiel mit den Drachen. Die Vorstellung, da? Ritter – Fleischklo?e in Metallrustungen – sie toten konnten, verbluffte die Drachen, denn die Menschen waren so offensichtlich geistig beschrankt und funktionierten nur auf Grund ihrer hofischen Rituale. Die Menschen siegten jedoch, weil sie sich nur auf das Toten konzentrierten, wahrend kein Drache sich nur auf eine bestimmte Sache beschrankte.

Ylith flog in die Gegend von Samarkand und zog in Yar Digi, das dem Drachenfels am nachsten lag, Erkundigungen ein. Es war ein heruntergekommenes schabiges Dorf, dessen einzige Stra?e nichts au?er Souvenirladen vorzuweisen hatte. Diese Geschafte quollen geradezu uber vor Drachenweisheiten, aber es gab keine Kundschaft. Ylith erkundigte sich nach dem Grund.

»Das liegt daran, da? der lang erwartete Boom fur Drachenweisheiten noch nicht eingetreten ist«, erklarte Achmed, der Besitzer eines Buchladens. »Andere Gegenden ziehen die ganze Aufmerksamkeit auf sich. In Britannien beispielsweise, wo sich seit Jahrhunderten keine Drachen mehr geregt haben, finden Fuhrungen mit Reiseleitern an Orten statt, wo es fruher einmal Drachen gegeben hat, und dort wird hundertmal mehr Umsatz als bei uns gemacht. Ihr wollt wissen, wo der Drache steckt? Irgendwo dort druben in seiner Hohle im Drachenfels, zu dem dieser Pfad fuhrt. Aber solange der Drache keinen Besuch wunscht, ist er anscheinend unauffindbar. Und man wei? nie, was passieren konnte, wenn man ihn doch finden sollte. Er ist sehr launisch.«

Ylith ging in die angegebene Richtung und durfte den Pfad betreten, nachdem sie eine Eintrittsgebuhr entrichtet hatte. Sie folgte dem Weg, der mehrere Biegungen beschrieb, kam an einem kleinen Erfrischungsstand vorbei und erreichte dann den Drachenfels selbst. Nirgendwo konnte sie irgend etwas entdecken, das einer Hohle ahnelte.

Sie blieb erst stehen, als sie ein dumpfes, hallendes Kichern vernahm.

»Skander?« rief sie.

Das Gerausch wiederholte sich.

»Ich bin’s, Ylith!«

Plotzlich bemerkte sie eine schattige Stelle zwischen zwei Felsblocken, die vielleicht mehr als nur ein Schatten war. Sie naherte sich ihm und sah, da? der Schatten in die Tiefe fuhrte und dunkler wurde. Ylith ging weiter.

Sie wu?te nicht mit Sicherheit, an welchem Punkt sie die Grenze uberschritten und die Finsternis im Inneren des Hugels betreten hatte, aber nach einer Weile uberzeugte sie das Echo ihrer Schritte davon, da? sie sich wirklich im Drachenfels selbst befand.

»Skander?« rief sie erneut.

Noch immer erfolgte keine Antwort, doch nun bemerkte Ylith einen schwachen Lichtschimmer schrag rechts vor sich. Sie folgte ihm um eine Biegung, betrat einen Hohlenabschnitt, in dem das Gestein uber ihr und zu beiden Seiten aus sich heraus zu leuchten schien, und beschleunigte ihre Schritte. Der Gang verzweigte sich mehrmals, und jedesmal folgte sie dem helleren Pfad.

Nach geraumer Zeit erreichte sie ein Gewolbe, in der die dunkle schuppige Gestalt, die sie gesucht hatte, auf dem Boden lag und sie anstarrte. Waren Skanders Augen nicht gewesen, hatte sie ihn in seiner Reglosigkeit vielleicht ubersehen. Direkt unter dem Eingang des Gewolbes blieb sie nervos stehen.

»Skander, ich bin’s, Ylith«, sagte sie.

Er legte den Kopf schief und kniff die Augen ein wenig zusammen.

»Ja, du bist es tatsachlich«, stellte er dann fest. »Wie lange ist es her?«

»Ziemlich lange. Was tust du?«

»Ich habe von der Renaissance getraumt.«

»Was ist eine Renaissance?«

»Entschuldige, ich bringe wohl die Jahrhunderte durcheinander«, erwiderte Skander. »Die Renaissance kommt erst spater. Das ist das Problem mit dem Wissen um die Zukunft. Man kann nicht mehr heute von morgen unterscheiden.«

»Skander, ich brauche Hilfe«, sagte Ylith.

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