»Das habe ich mir gedacht«, gab der Drache zuruck. »Was sollte dich sonst an diesen abgelegenen Ort fuhren? Was willst du, meine Liebe? Mein altes Feuer ist noch ganz schon hei?. Mochtest du, da? ich irgend jemanden fur dich roste?«

»Ich brauche Augen«, antwortete Ylith und berichtete von Azzie, seinem Marchenprinzen und seiner Prinzessin Rosenrot.

»Augen«, murmelte Skander, und seine Haut, die normalerweise rotlichbraun war, nahm einen kalkwei?en Farbton an. Ylith hatte ihn gerade an eine alte Prophezeiung erinnert.

»Warum bleibst du in dieser Hohle?« wollte Ylith wissen.

»Es ist das Verlangen nach Ruhm«, sagte Skander. »Die Einheimischen werden mich beruhmt machen. Ich habe versprochen, dafur zu sorgen, da? dieser Ort auf den Landkarten verzeichnet wird. Es ist noch nicht passiert, aber es wird geschehen.«

»Wo kann ich ein paar wirklich gute Augen bekommen?« fragte Ylith.

»Augen«, sinnierte Skander. »Nun, Augen gibt es uberall. Wieso machst du dir die Muhe, mich danach zu fragen?«

»Du wei?t, wo es die besten gibt. Alle Drachen wissen das.«

»Ja, naturlich«, bestatigte Skander. »Aber ich wurde es wirklich vorziehen, nicht uber Augen zu sprechen, falls es dir nichts ausmacht.«

»Du mochtest nicht uber Augen sprechen?«

»Nur so ein Aberglaube, schatze ich. Tut mir leid.«

»Mochtest du mir nicht davon erzahlen?«

»Na schon«, sagte der Drache. »Vor langer Zeit in China war mir aufgefallen, da? der Hofmaler bei allen seinen Drachenbildern die Augen immer erst ganz zum Schlu? gemalt hat. Als ich ihn darauf ansprach, erklarte er mir, da? diese Maltechnik den Bildern ein ganz besonderes Leben verleihen wurde und es keinen Sinn hatte, dieses Leben herbeizurufen, bevor alles andere erledigt ware. Ein weiser Mann hatte ihm erzahlt, da? die Augen meinesgleichen der Brennpunkt des Geistes seien. Sie enthalten das Leben, und sie sind das letzte, das stirbt. Spater habe ich diesen weisen Mann aufgesucht, einen alten taoistischen Monch, und er hat mir versichert, da? es stimmt. Er hat mir au?erdem prophezeit, da? eine Hexe, die sich bei mir nach Augen erkundigt, die vollige Umkehrung von Yin und Yang bedeuten wurde.«

»Was bedeutet das?«

»Rosebud…«, erwiderte Skander und schlo? die Augen.

Ylith wartete, aber er sprach nicht weiter. Nach einer Weile rausperte sie sich. »Ah, Skander? Was dann?«

Sie erhielt keine Antwort.

»Schlafst du, Skander?«

Schweigen.

Schlie?lich trat sie an ihn heran und hielt ihm eine Hand vor die Nustern. Sie konnte keinen Atem spuren. Sie kam noch naher und schob die Hand zwischen seine Brustschuppen. Kein Herzschlag.

»O nein!« stie? sie hervor. »Was nun?«

Aber sie wu?te bereits, was zu tun war.

Als sie es erledigt hatte, streichelte sie die Nase des toten Drachen, eine Beruhrung, die er zu Lebzeiten gern gehabt hatte. Armer alter Drache! dachte sie. So alt und weise und nun doch nicht mehr als ein Haufen erkaltenden Fleisches in einer Berghohle.

Sie wu?te, da? bald die Nacht hereinbrechen wurde, und das war keine gute Zeit, wenn man sich in einem fremden Land befand. Die einheimischen Damonen wurden unterwegs sein, und sie konnten erheblichen Arger machen, wenn ihnen der Sinn danach stand. In diesen Tagen herrschte kein gutes Verhaltnis zwischen den europaischen und den asiatischen Damonen, und die Kriege zwischen ihnen warten noch immer auf ihren Chronisten.

Ylith wickelte die Augen in ein kleines Seidentaschentuch und verstaute sie in einem Rosenholzkastchen, das sie stets fur den Transport von zerbrechlichen oder kostbaren Gegenstanden mit sich trug. Dann drehte sie sich um und verlie? die Hohle.

Drau?en angekommen, stand sie hochaufgerichtet da, wahrend das Licht der untergehenden Sonne von den vereisten Gipfeln der hochsten Berge reflektiert wurde. Sie warf die Mahne ihres herrlichen schwarzen Haars zuruck, bestieg ihren Hochleistungsbesen und flog nach Westen davon. Unter ihr schrumpfte das Land des Drachen zusammen.

KAPITEL 7

Als Ylith Augsburg erreichte, herrschte noch immer Tageslicht, denn mit Hilfe eines gunstigen Ruckenwindes war es ihr gelungen, der Sonne selbst ein Schnippchen zu schlagen. Sie landete vor dem Haupteingang von Azzies Anwesen und schlug heftig mit dem Messingklopfer gegen die Tur. »Azzie! Ich bin zuruck! Ich habe sie!«

Totenstille antwortete ihr. Obwohl es ein Sommernachmittag war, lag Kalte in der Luft. Ylith verspurte eine leichte Nervositat. Ihre Hexensinne verrieten ihr, da? hier irgend etwas nicht stimmte. Sie beruhrte das Schutzamulett aus Bernstein, das sie um den Hals trug, und klopfte erneut.

Endlich wurde die Tur geoffnet. Vor ihr stand Frike, das magere Gesicht zu einer kummervollen Miene verzerrt.

»Frike! Was ist los?«

»Ach, Gebieterin! Es ist etwas Schreckliches passiert!«

»Wo ist Azzie?«

»Das, Herrin, ist ja das Schreckliche. Er ist nicht hier.«

»Nicht hier? Wo ist er dann?«

»Ich wei? es nicht«, sagte Frike, »aber es war nicht meine Schuld.«

»Erzahl mir, was passiert ist.«

»Vor ein paar Stunden«, begann Frike, »hat der Meister eine Losung zubereitet, um das Haar von Prinzessin Rosenrot zu waschen, weil es schmutzig und verfilzt war. Als er damit fertig war, habe ich ihr Haar getrocknet. Ich erinnere mich, da? es kurz nach Mittag war, denn die Sonne stand hoch und hei? am Himmel, als ich hinausgegangen bin, um Feuerholz zu holen…«

»Erzahl weiter«, ermunterte Ylith ihn. »Was ist dann passiert?«

»Als ich mit dem Feuerholz zuruckkam, summte der Gebieter eine frohliche Melodie, wahrend er dem Marchenprinzen die Fingernagel schnitt – Ihr wi?t ja, da? er sich immer sehr viel Muhe mit den Details macht. Plotzlich horte er auf zu summen und blickte sich um. Ich blickte mich ebenfalls um, obwohl ich nichts gehort hatte. Der Meister drehte sich einmal im Kreis herum, und ich konnte schworen, da? er nicht mehr der gleiche Damon war, als er mich wieder ansah. Sein Haar hatte etwas von seinem Glanz verloren, und er war bla? geworden. Ich fragte ihn: ›Habt Ihr etwas gehort, Herr?‹, und er sagte: ›Ja, ein scharfes Gerausch, und das wird mir nichts Gutes bringen. Schnell, hol mir das Gro?e Buch der Zauberspruche!‹ Und wahrend er das sagte, sank er auch schon in die Knie. Ich rannte los, um seinen Befehl auszufuhren. Er hatte nicht mehr die Kraft, das Buch zu offnen – es ist das sehr gro?e in Messing gebundene Buch, das dort vor Euren Fu?en liegt. ›Frike, hilf mir, die Seiten umzublattern‹, sagte er. ›Irgendein heimtuckischer Schwachezauber entdamonisiert mich.‹ Ich half ihm, und er drangte: ›Schneller, Frike, schneller, bevor mich die Kraft vollig verla?t. ‹ Also schlug ich die Seiten noch schneller um, jetzt ganz allein, da die Hand des Meisters herabgefallen war und er nur noch die Augen, aus denen das vertraute Feuer gewichen war, auf die Seiten gerichtet halten konnte. Und dann sagte er plotzlich: ›Halt, genau hier. Jetzt la? mich sehen…‹ Und das war alles.«

»Alles?« fragte Ylith. »Was meinst du mit alles?«

»Alles, was er gesagt hat, Herrin.«

»Das habe ich sehr gut verstanden. Aber was ist dann passiert?«

»Er ist verschwunden, Herrin.«

»Verschwunden?«

»Er hat sich direkt vor meinen Augen aufgelost. Ich war vollig au?er mir, weil ich nicht wu?te, was ich tun sollte. Er hatte mir keine Anweisungen hinterlassen. Also bin ich eine Weile hysterisch geworden und habe dann beschlossen, einfach auf Eure Ruckkehr zu warten.«

»Beschreib mir die Art seines Verschwindens«, verlangte Ylith.

»Die Art?« fragte Frike.

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