»War es ein Rauchabgang, bei dem er sich in Nichts auflost hat? Oder ein Feuerabgang, bei dem er vielleicht mit einem leisen Donnerschlag verschwunden ist? Oder ist er zuerst zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpft?«
»Ich wei? es nicht Herrin. Ich habe mir die Augen zugehalten.«
»Du hast dir die Augen zugehalten? Du bist ein Idiot, Frike!«
»Ah, Herrin, aber ich habe zwischen den Fingern durchgelugt.«
»Und was hast du dabei gesehen?«
»Ich habe gesehen, wie der Gebieter sehr dunn geworden und dann seitlich davongeglitten ist.«
»Nach welcher Seite?«
»Nach rechts, Herrin.«
»Ist er gleichma?ig oder mit einer Art Aufundabbewegung weggeglitten?«
»Mit so einer Bewegung.«
»Das ist jetzt sehr wichtig, Frike. Hat er irgendwann die Farbe gewechselt, bevor er vollstandig verschwunden ist?«
»Das ist es, Herrin! Kurz bevor er ins Nichts davongeglitten ist, hat er tatsachlich die Farbe gewechselt!«
»Welche Farbe hat er angenommen?«
»Blau, Gebieterin.«
»Das hatte ich befurchtet«, sagte Ylith. »La? uns jetzt einen Blick in sein Beschworungsbuch werfen.«
Frike hob das schwere Buch auf und legte es auf ein Lesepult, wo Ylith es leichter lesen konnte. Es war noch immer an der Seite aufgeschlagen, die Azzie direkt vor seinem Verschwinden betrachtet hatte. Ylith beugte sich uber die Seite und ubersetzte die Runen schnell.
»Was steht da?« wollte Frike wissen.
»Es ist ein Allgemeiner Losungszauber, Frike. Das ist der Zauberspruch, den Damonen benutzen, wenn irgend etwas oder irgend jemand versucht, sie zu beschworen. Er wird die
»War er nicht schnell genug?«
»Offensichtlich nicht.«
»Beschworen!« rief Frike. »Aber der Meister ist doch selbst ein Beschworer!«
»Naturlich ist er das«, bestatigte Ylith, »und sogar ein sehr guter. Aber jeder, der beschwort, Frike, kann ebenfalls beschworen werden. Das ist eins der grundlegenden Gesetze des Unsichtbaren Reiches.«
»Ich habe davon gehort«, sagte Frike. »Aber wer konnte den Meister auf diese Art beschworen haben?«
»Da gibt es eine Menge Moglichkeiten«, erwiderte Ylith. »Aber der Reihenfolge der Ereignisse nach zu schlie?en, war es wahrscheinlich ein Sterblicher – vielleicht eine Hexe oder ein Alchemist – oder ein anderer Damon, der eine Art Anspruch gegenuber Azzie hatte und ihn deshalb ohne sein Einverstandnis herbeirufen konnte.«
»Aber wann werden wir ihn wiedersehen?« wollte Frike wissen.
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Ylith. »Das hangt davon ab, wer die Beschworung durchgefuhrt hat, welcher Zauberspruch verwendet wurde und was fur eine Verpflichtung Azzie eingegangen ist.«
»Wird er bald zuruckkommen?«
Ylith zuckte die Achseln. »Er konnte jeden Moment wiederkommen oder aber fur Stunden, Tage, Monate, Jahre oder sogar fur immer verschwunden bleiben. Es ist immer schwer, diese Dinge hinterher festzustellen.«
»Ich wurde mit Freuden meinen Hintern opfern, wenn ich ihn damit zuruckbringen konnte!« rief Frike. Er rang voller Kummer und Hilflosigkeit die Hande. Dann zuckte ein Gedanke durch seinen benebelten Verstand. »O nein!« schrie er.
»Was ist?« erkundigte sich Ylith.
»Die Korper!«
»Was ist mit ihnen?«
»Sie laufen Gefahr zu verwesen, Herrin! Heute morgen erst haben wir den letzten Rest Eis verbraucht, und wir haben kaum noch Jauche. Ich habe den Gebieter darauf hingewiesen, gleich nachdem er aufgestanden war, aber er hat nur gesagt: ›Mach dir deswegen keine Sorgen, Frike. Ich werde bei der Abteilung fur Ausrustung und Zubehor Nachschub bestellen, sobald ich mein Nickerchen gehalten habe.‹«
»Nickerchen? Aber du hast gesagt, da? er gerade erst aufgestanden war.«
»Er halt gern direkt nach dem Aufstehen ein Nickerchen, Herrin.«
»Jetzt, wo du es erwahnst, erinnere ich mich auch wieder daran«, murmelte Ylith.
Sie ging in den Teil des Labors, in dem die Korper in ihren sargformigen offenen Behaltern Seite an Seite ruhten und auf ihre Wiedererweckung warteten. Das Eis aus den Hochalpen war geschmolzen. Auf den Boden beider Behalter befanden sich nur noch kleine Jauchepfutzen.
»Dein Gebieter ist sehr nachlassig gewesen«, stellte Ylith fest.
»Er hatte nicht damit gerechnet, beschworen zu werden«, verteidigte Frike sein Herrn und Meister.
»Das nehme ich auch nicht an. Gut, eins nach dem anderen und das Wichtigste zuerst. Wir mussen diese Korper wieder einfrieren, Frike.«
»Wie bitte?«
»Wir mussen eine Moglichkeit finden, ihre Temperatur zu senken.«
»Konnt Ihr Gletschereis herbeizaubern, Herrin?«
»Nein«, sagte Ylith. »Die Beschworungskrafte von Hexen erstrecken sich nicht auf solche Dinge. Gegenstande herbeizuzaubern ist Sache der Damonen. Aber unser Damon ist entfuhrt worden. Das ist eine verfahrene Situation.« Sie ging zum Sofa und setzte sich. »Hor auf zu jammern, Frike, und la? mich nachdenken.«
Nach einer Weile kehrte sie zu den Behaltern zuruck, beugte sich zu den Korpern hinab und beruhrte sie. Sie fuhlten sich noch immer einigerma?en kalt an, aber Ylith wu?te, da? sie schon warmer waren, als sie es eigentlich sein durften. In ein oder zwei Stunden wurden Azzies kostbare Exemplare nur noch verwestes Fleisch sein, das wahrscheinlich von Maden wimmelte. Und dann wurde es auch keine Rolle mehr spielen, ob er wieder zuruckkehrte. Der Wettbewerb wurde fur ihn vorbei sein, noch bevor er begonnen hatte.
»Ich werde etwas wegen dieser Korper unternehmen, Frike«, sagte sie. »Ich werde mit ein paar Leuten sprechen. Du solltest besser nicht zusehen, wie ich abreise. Das ist Frauenmagie und nicht fur mannliche Augen gedacht.«
»Ich bin im Wohnzimmer, wenn Ihr mich braucht«, erwiderte Frike und schlich sich davon.
Ylith machte sich an die Arbeit.
KAPITEL 8
Ylith wahlte einen frisch aufgeladenen Besenstiel aus, vergewisserte sich, da? ihre Schutzamulette dort sa?en, wo sie hingehorten, flog dann zum Fenster hinaus und immer hoher empor in das reine Blau der obersten Atmospharenschichten. Wahrend des Fluges murmelte sie einen personlichen Schutzzauber, denn ihr behagte uberhaupt nicht, was sie zu tun im Begriff war. Aber um die Korper kalt zu halten, war ihr erster Gedanke gewesen, die Harpyien um Hilfe zu bitten.
Harpyien und Hexen gingen freundschaftlich miteinander um. Die Harpyien waren weibliche Damonen, die sich nach dem Zusammenbruch der klassischen Mythologie den Machten der Finsternis angeschlossen hatten. Nicht nur, da? sie Boses taten, allein ihre Gegenwart war schon beangstigend. Ihr Atem stank, und ihre Tischmanieren waren absto?end. Trotzdem hatte Ylith beschlossen, sie aufzusuchen, denn wenn sie auch widerlich waren, verfugten sie doch uber einen wachen Verstand. Es gab viele andere damonische Gottheiten, an die sie sich hatte wenden konnen, aber nur den Harpyien und deren Schwestern, den Sirenen, war zuzutrauen, da? sie sofort verstehen wurden, was Ylith wollte, und daruber hinaus besa?en sie genug Ehrgefuhl, um ein einmal gegebenes Versprechen auch einzuhalten.
Nach einem schnellen Flug passierte Ylith schon bald den Ri?, der das Reich der Menschen von dem der Nicht- oder Ubermenschen trennt.
Im selben Moment fand sie sich in einer gewaltigen Wolkenlandschaft voller verschneiter Hugel und Berge wieder. Flusse durchzogen das Land, an deren Ufern sich kleine Tempel erhoben, die alle aus Wolken bestanden.