Wahrend Ylith langsam herabsank, erblickte sie Furien und Chimaren und in einem nur ihm vorbehaltenen Tal Behemoth, der schnaubte und mit einer riesigen Klaue nach ihr schlug. Sie entging dem Ungeheuer mit Leichtigkeit und flog weiter in eine Gegend voller blauer Wolken, unter denen alles blaulich und golden gefarbt war wie in den Schleiern eines verschwommenen Traums. Am Ufer eines verschlafenen Flusses entdeckte sie die winzigen Gestalten wunderschoner Frauen und in der Nahe einen Wasserfall, der zu Spiel und Spa? einlud.
Im Landeanflug naherte sich Ylith einer der Regionen, in denen Harpyien und Sirenen zusammenlebten. Sie wurde langsamer und setzte am linken Flu?ufer auf. Es war der Styx, der gro?e Flu?, der aus der tiefsten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft flie?t. An seinen Ufern wuchs eine Vielzahl unbekannter Baume, die auf der Erde noch nicht erschienen waren. Unter diesen Baumen rakelte sich eine Gruppe junger Frauen entspannt im Gras. Es waren acht, Sirenen und mehrere Harpyien. Die Sirenen waren dafur beruhmt, Menschen – vornehmlich Seefahrer – mit ihren su?en Gesangen in den Untergang zu locken. Die Harpyien waren die Weiterentwicklung der Sirenen, schone Frauen mit goldenem Haar, festen, wohlgeformten Brusten, aber auch mit Tischmanieren, die eine Hyane vor Scham hatten erroten lassen. Ihre Aufgabe bestand darin, die Seelen der Verdammten auf die klassische Art zu foltern, indem sie ihnen das Essen aus dem Mund rissen und sie von Kopf bis Fu? mit feurigen Exkrementen besudelten.
Zwar gab sich Ylith selbstbewu?t, aber sie verspurte mehr als nur ein bi?chen Furcht, denn diese uralten Damoninnen fronten merkwurdigen Perversionen, hegten seltsame Gedanken und waren stets nur sehr schwer berechenbar. Trotzdem trat Ylith kuhn vor und sagte: »Schwestern, ich entbiete euch Gru?e aus der Welt der Menschen.«
Eine der Sirenen regte sich. Sie war gro?, aschblond und hatte einen su?en Rosenknospenmund. Kaum zu glauben, da? dies Poldarge war, eine der unheilvollsten chthonischen Wesenheiten.
»Was schert uns die Menschenwelt?« fragte sie. »Unsere Heimat sind die Ufer dieses herrlichen Flusses. Hier unterhalten wir einander durch Lieder und Erzahlungen uber gro?artige vergangene Heldentaten. Und von Zeit zu Zeit fallt uns ein Mann in die Hande, der aus Charons Fahrboot geflohen ist. Die Flu?gottheiten ubergeben ihn uns, und wir spielen mit ihm, bis er den Verstand verliert. Dann essen wir ihn. Jede von uns rei?t sich ihren Anteil aus ihm heraus.«
»Ich dachte mir, da? ihr vielleicht Lust auf ein bi?chen Zerstreuung haben konntet, solange es einem nutzlichen Zweck dient«, sagte Ylith. »Denn wie herrlich dieses Flu?ufer auch sein mag, so mu?t ihr doch manchmal die Menschenwelt vermissen, wo gro?artige Taten vollbracht werden konnen.«
»Was kummern uns menschliche Taten?« fragte Poldarge. »Aber sprich weiter, Schwester. Sag uns, weshalb du gekommen bist.«
Und so erzahlte Ylith vom gro?en Jahrtausendwettkampf, von Azzies Plan, gegen die Machte des Lichtes anzutreten, indem er zwei wiederbelebte Menschen benutzen wollte, um sie ein Marchen mit umgekehrten Vorzeichen und unheilvollem Ausgang spielen zu lassen. Die Sirenen und Harpyien klatschten Beifall. Allein der Gedanke, da? die nachsten tausend Jahre dem Bosen geweiht sein sollten, lie? sie wollustig erschaudern.
»Es freut mich, da? euch die Sache gefallt«, sagte Ylith. »Aber es gibt da ein Problem. Azzie ist verschwunden. Irgend jemand hat ihn beschworen.«
»Also, Schwester, du wei?t, da? wir nichts dagegen unternehmen konnen«, erwiderte Poldarge. »Es ist uns verboten, uns in die Angelegenheiten von Menschen oder Damonen einzumischen, es sei denn, es liegen ganz besondere Umstande vor, was hier aber nicht der Fall ist.«
»Ich bitte euch nicht, Azzie zu suchen«, stellte Ylith klar. »Das werde ich selbst tun. Aber es konnte lange dauern, und in der Zwischenzeit liegen seine Schauspieler fur die Rollen des Marchenprinzen und der Prinzessin Rosenrot unbelebt in ihren Sargen. Und da das Gletschereis aufgebraucht, kaum noch Jauche vorhanden und Azzie nicht da ist, um Nachschub zu besorgen, laufen die Korper Gefahr, in der sommerlichen Warme zu verwesen, was Azzies gro?artiges Possenspiel undurchfuhrbar machen wurde.«
»Das ist ohne Zweifel sehr schade«, sagte Poldarge. »Aber warum erzahlst du uns das alles? Wir haben hier kein Gletschereis.«
»Naturlich nicht«, gab Ylith zuruck, »aber ihr seid Geschopfe der Luft und sehr geubt darin, hilflose Kreaturen aus ihrer Welt zu rei?en und ihrer Verdammnis zuzufuhren.«
»Das ist wahr. Aber was hat das mit eurem Prinzen und eurer Prinzessin zu tun?«
»Ich dachte, ihr konntet mir vielleicht helfen, ihre Korper zu konservieren«, erklarte Ylith. »Was wir brauchen, ist Kalte, die Kalte der hochsten Luftschichten.«
Die Harpyien konferierten eine Weile. »Nun gut, Schwester«, sagte Poldarge schlie?lich, »wir werden uns fur dich um die Korper kummern. Wo befinden sie sich?«
»Im Anwesen des Damons in Augsburg. Um es zu finden…«
»Keine Sorge«, fiel ihr Poldarge ins Wort. »Die Harpyien konnen jeden Ort auf der Erde finden. Kommt, Schwestern, folgt mir!«
Sie breitete ihre dunklen Schwingen aus und scho? in die Hohe. Zwei Harpyien schlossen sich ihr an.
Ylith sah ihnen hinterher. Es war allgemein bekannt, da? sich Harpyien sehr schnell langweilten. Ylith hatte keine Garantie, da? sie nicht schon bald der Sache uberdrussig werden und zum Flu? und ihrem endlosen Mah- Jongg zuruckkehren wurden. Andererseits aber besa?en sie einen traditionellen Ehrenkodex im Umgang mit Gleichgestellten. Ylith konnte nur hoffen, da? die Harpyien sie zu diesem Kreis zahlten.
Sie schwang sich ebenfalls in die Luft. Sie hatte eine Ahnung, wo Azzie sein konnte.
KAPITEL 9
Niemand hatte daran gedacht, Frike Bescheid zu sagen, da? die Harpyien die Korper wegschaffen wurden. Das erste, was er von der getroffenen Vereinbarung mitbekam, waren zwei der Kreaturen, die durch das Fenster schossen. Er hockte gerade auf einem niedrigen Schemel in Azzies Labor, lauschte dem Tropfeln des schmelzenden Eises und wartete auf Yliths Ruckkehr. Plotzlich klang ein lautes Flattern auf, und Gestank erfullte die Luft.
Um besser fliegen zu konnen, hatten die Harpyien ihre Beine eingezogen, so da? ihre weiten bronzenen Schwingen nur einen Rumpf mit hervorstehenden Brusten und einem Kopf trugen. Sie krachzten mit lauten rauhen Stimmen und entleerten sich uber der gesamten Einrichtung.
Frike heulte auf und kroch eilig unter den Tisch. Die Harpyien kreisten schnatternd und quietschend durch den Raum. Sie entdeckten die Sarge und flatterten auf sie zu.
»Weg da, ihr Ungeheuer!« schrie Frike. Er sturzte sich mit einer Feuerzange auf sie. Die Harpyien fuhren herum, griffen ihn an und trieben ihn mit ihren stahlbesetzten Flugelspitzen und ihren grunen scharfen Klauen aus dem Raum. Frike hastete davon, um Pfeil und Bogen zu suchen. Als er sie endlich fand und ins Labor zuruckgeeilt war, hatten die Harpyen bereits den Prinzen und die Prinzessin ergriffen und waren verschwunden, in den Himmel aufgestiegen und durch den Ri? zwischen der wirklichen und der unwirklichen Welt geschlupft. Frike schuttelte ihnen hilflos die Fauste hinterher und sank auf seinen Schemel. Er hoffte, da? Azzie nicht allzu viele Erklarungen von ihm verlangen wurde, denn er hatte keine Ahnung, was hier eigentlich geschehen war.
Und uberhaupt, wo steckte der Gebieter?
KAPITEL 10
Azzie war in seinem Labor beschaftigt gewesen, als er das vertraute Zupfen bemerkt hatte, da? man immer verspurt, wenn man beschworen wird. Es ist ein Ziehen, das in der Magengegend beginnt, kein unangenehmes Gefuhl, aber die unerfreuliche Ankundigung dessen, was einem bevorsteht. Es mochte noch in Ordnung gehen, beschworen zu werden, wenn man nur so herumsa? und sowieso nicht wu?te, was man tun sollte, aber die Menschen neigten dazu, einen immer gerade dann herbeizurufen, wenn man sich voll auf eine komplizierte Aufgabe konzentrierte.
»Tod und Verdammnis!« stie? er hervor. Der Zeitplan war jetzt schon uberschritten, und Azzie hatte keine Ahnung, wie lange das Schlo? noch stehen wurde, wenn sich niemand darum kummerte und seine altmodischen Zauber ihre Wirkung verloren. Au?erdem mu?ten sein Prinz und seine Prinzessin so schnell wie moglich wiederbelebt werden, bevor sie irreparable Schaden erleiden konnten.
Und hier flog er nun durch die Luft, ohne rechtzeitig seinen Gegenzauberspruch aufsagen zu konnen, um das zu verhindern, was mit ihm geschah. Nicht, da? es ihm mit Sicherheit gelungen ware. Diese allgemeinen Zauberspruche versagten haufig unter ganz speziellen Umstanden.
Wahrend des Ubergangs verlor Azzie das Bewu?tsein. Als er wieder zu sich kam, hatte er Kopfschmerzen. Er versuchte, sich aufzurichten, schien aber auf einem schlupfrigen Untergrund zu liegen. Jedesmal, wenn er aufstand, fiel er sofort wieder hin. Au?erdem verspurte er ein mulmiges Gefuhl im Magen.