Raume von der Abteilung fur Ausrustung und Zubehor angefordert, die noch immer nicht eingetroffen waren. Er erneuerte seine Bestellung, wobei er den unbegrenzten Kredit seiner Karte ausnutzte, um fur eine unverzugliche Lieferung zu sorgen. Kurz darauf erfolgte ein leiser Knall, und ein brandneuer Warmezauber materialisierte, sauberlich in einer undurchsichtigen Schale verpackt.
»Endlich!« rief Azzie und brach die Schale auf. Der Zauber drang lautlos hervor. Fast augenblicklich erwarmte sich der Raum um zehn Grad.
»Und jetzt zur Erweckungsprozedur«, sagte Azzie. »Schnell, Frike, die Jauche!«
Der Diener beugte sich uber die reglose Prinzessin und spritze ihr Jauche ins Gesicht.
»Nun der Belebungszauberspruch«, verkundete Azzie und rezitierte ihn.
Zuerst lag die zusammengeflickte Kreatur, die sie Prinzessin Rosenrot nannten, starr und bleich wie der Tod vor ihnen, doch dann lief ein kaum wahrnehmbares Zittern uber ihre Wangen. Ihre fein geschwungenen Lippen bewegten und offneten sich, ihre kleine Zunge kam hervor und kostete die Jauche. Die zarten Nasenflugel weiteten sich, der Korper erschauderte und erschlaffte wieder.
»Schnell, setz ihr die Augen ein!« befahl Azzie.
Sie pa?ten problemlos in die Hohlen. Jetzt wurde ein weiterer Zauber erforderlich, um das Augenlicht zu aktivieren. Es war ein seltener Zauber, aber der Abteilung war es trotzdem gelungen, einen auf zutreiben. Wahrend Azzie ihn sang, zuckten Prinzessin Rosenrots Lider, flatterten und offneten sich schlie?lich. Ihre neuen Augen, die wie die dunkelsten Saphire waren, blickten in die Welt hinaus. Ihr Gesicht erwachte zum Leben. Sie sah sich um und stohnte leise.
»Wer seid ihr alle?« fragte sie. Ihre Stimme war laut und ungehalten und hatte einen norgelnden Unterton. Sie gefiel Azzie nicht, aber glucklicherweise mu?te er sich ja auch nicht in sie verlieben. Das war die Aufgabe des Marchenprinzen.
Als neuerschaffenes Geschopf besa? die Prinzessin keinerlei Erinnerungen. Was es erforderlich machte, ihr ein paar Dinge zu erklaren.
»Wer bist du?« fragte Rosenrot erneut.
»Ich bin dein Onkel Azzie«, erwiderte Azzie. »Du erinnerst dich doch bestimmt an mich, oder?«
»Oh, sicher«, sagte Rosenrot, obwohl sie es naturlich nicht konnte. Der Tod hatte ihr alle Erinnerungen genommen, die guten wie die schlechten, und sie war als
»Was geht hier vor, Onkel Azzie? Wo ist Mama?«
Diese Frage war zu erwarten gewesen. Alle Geschopfe setzen voraus, eine Mutter zu haben, und kommen nie auf den Gedanken, da? irgend jemand sie aus einem Haufen Korperteile zusammengeflickt haben konnte.
»Mama und Papa, das hei?t Ihre Koniglichen Hoheiten, sind verzaubert worden«, erklarte Azzie.
»Hast du ›Konigliche Hoheiten‹ gesagt?«
»Ja, Liebes. Und du bist naturlich eine Prinzessin. Prinzessin Rosenrot. Du mochtest deine Eltern doch bestimmt aus ihrem Zauberbann erlosen, nicht wahr?«
»Was? Oh, sicher«, antwortete Prinzessin Rosenrot. »Ich bin also eine Prinzessin!«
»Sie konnen aber erst gerettet werden, nachdem du selbst aus deinem Zauberbann befreit worden bist.«
»Ich bin verzaubert?«
»Genau, Liebes.«
»Gut, dann beseitige den Zauber!«
»Ich furchte, das kann ich nicht«, sagte Azzie. »Dafur bin ich nicht die richtige Person.«
»Oh! Was fur eine Art von Zauber liegt denn auf mir?«
»Ein Schlafzauber. Du schlafst oder schlummerst den ganzen Tag. Deshalb nennt man dich auch die Schlummernde Prinzessin. Nur ein Mann kann den Zauberbann brechen, und das ist der Marchenprinz.«
»Der Marchenprinz? Wer ist das?«
»Niemand, den du kennst, Liebes. Es ist ein netter junger Mann von adliger Herkunft, der erst kurzlich von deiner mi?lichen Lage erfahren hat. Er ist schon auf dem Weg, um dich mit einem Ku? aufzuwecken und dich in ein Leben voller Gluckseligkeit zu fuhren.«
Rosenrot dachte daruber nach. »Das hort sich gut an. Aber bist du dir ganz sicher, da? ich das alles nicht blo? traume?«
»Das ist kein Traum, sieht man einmal davon ab, da? wahrscheinlich alle Erfahrungen, die wir im Schlaf und im Wachen, im Leben und im Tod machen, nur Traume sind. Aber wenn wir diese metaphysischen Betrachtungen beiseite lassen, ist das hier die Realitat, und du bist durch Zauberei in einen fortwahrenden Schlaf versetzt worden. Glaube mir, vertrau mir. Im Moment schlafst du nur deshalb nicht, weil ich mit dir sprechen und dir ein paar Dinge erklaren mu?.«
»Vielleicht funktioniert der Bann gar nicht«, meinte Rosenrot.
»Ich furchte, er funktioniert doch«, sagte Azzie, zog verstohlen den Schlafzauber aus der Tasche und druckte auf den kleinen Knopf, der ihn aktivierte.
Rosenrot gahnte. »Du hast recht. Ich
»Wir werden das Abendessen fur dich bereit halten, wenn du wieder aufwachst«, versprach Azzie.
Die Augen der Prinzessin fielen zu, und kurz darauf schlief sie tief und fest. Azzie trug sie unter Yliths wachsamen Blicken in ihr Schlafzimmer und steckte sie ins Bett.
Wahrend der nachsten Tage zeigte sich, da? es Schwierigkeiten mit Prinzessin Rosenrot geben wurde. Sie wollte einfach nicht auf Azzie horen. Selbst Ylith konnte trotz ihrer ruhigen und klugen Art nicht zu dem Madchen durchdringen, nicht einmal in der Rolle ihrer Tante. An Rosenrots Schonheit bestand kein Zweifel. Ihre Reize lagen nicht zuletzt darin, da? ihre langen Tanzerinnenbeine, samtbraun und unglaublich ebenma?ig, einen alabaster wei?en Korper trugen, auf dem ein blondhaariger Kopf sa?. Die dunklen Beine erweckten den Anschein, als steckten sie in Seidenstrumpfen, was ihrer Schonheit keinen Abbruch tat.
Aber diese langen Beine brachten auch ein Problem mit sich. Sie schienen ihr eigenes Karma zu besitzen. Die Prinzessin unterlag dem Zwang, standig tanzen zu mussen. Azzie mu?te mehrere Zauberspruche ausprobieren, bevor es ihm gelang, diesen Trieb wenigstens einigerma?en zu unterdrucken.
Doch selbst in ihrem Schlummerbann schlafwandelte Prinzessin Rosenrot noch. Ihre langen Beine fuhrten sie von selbst in den gro?en Ballsaal im Erdgescho?, wo sie zu einer Musik, die au?er ihr niemand horen konnte, Flamenco tanzte. Azzie mu?te Vorsorge gegen das Schlafwandeln treffen.
»Ylith, wurdest du im Schlo? bleiben und auf sie aufpassen?« fragte er. »Ich furchte, sie ist etwas labil. Sie konnte sturzen und sich dabei verletzen. Aber sie hat Verstand, und ich bin uberzeugt, da? sie tun wird, was wir von ihr erwarten.«
»Das glaube ich auch«, erwiderte Ylith. »Ubrigens, ich habe den Nikolaus gebeten, Brigitte dieses Weihnachten ein schickes Puppenhaus zu bringen.«
»Oh… danke.«
»Ich erwahne das nur fur den Fall, da? du dein Versprechen vergessen haben konntest.«
»Ich habe es nicht vergessen«, log Azzie. »Trotzdem, vielen Dank. Pa? gut auf sie auf, ja?«
»Ich tue das nur fur dich, Azzie«, sagte Ylith mit schmelzender Stimme.
»Daruber bin ich wirklich sehr froh«, sagte Azzie in einem Tonfall, der seine Worte Lugen strafte. »Aber jetzt mu? ich den Marchenprinzen aufwecken und auf den Weg bringen. Wir sehen uns spater, okay?«
Ylith schuttelte den Kopf, als ihr damonischer Liebhaber mit einem spektakularen Feuerwerkeffekt verschwand. Warum hatte sie sich nur in einen Damon verlieben mussen? Und wenn schon in einen Damon, warum dann ausgerechnet in diesen? Sie wu?te es nicht. Die Wege des Schicksals sind unergrundlich – vorsichtig ausgedruckt.
KAPITEL 3
»Ich hoffe nur, da? uns dieses Exemplar keine Schwierigkeiten bereitet«, sagte Azzie. »Hast du die Drachenaugen zur Hand, Frike?«
»Ja, Meister«, erwiderte Frike. Er offnete den Wildlederbeutel, in dem die Drachenaugen in einem Gemisch aus Jauche, Salzlake und Essig lagen. Bevor er sie herausnahm, wischte er sich die Hande an seinem Kittel ab, denn in dieser Situation schien Hygiene – wie oberflachlich sie damals auch praktiziert wurde – besonders wichtig zu sein.