schnuffelte herum wie ein Spurhund. Schlie?lich horte Azzie eine brummende Stimme sagen: »Schon gut, ich bin ja schon wach«, und kurz darauf tauchte die heroische marmorwei?e Gestalt von Hermes vor ihm auf. Der Gott kammte noch immer sein langes braunes Haar und wirkte mehr als nur ein bi?chen ungehalten.
»Mein lieber Azzie, du solltest es eigentlich besser wissen, als einen solchen Dringlichkeitszauber zu benutzen, um mich herbeizurufen. Wie du wei?t, haben auch wir Geistberater unser privates Leben. Es ist nicht angenehm, alles fallen und liegen lassen zu mussen, um dem Ruf eines jungen Damons wie dir zu folgen.«
»Es tut mir leid«, versicherte Azzie. »Aber du hast dich in der Vergangenheit mir gegenuber immer so gro?zugig gezeigt… und jetzt stehe ich vor einem sehr schwierigen Problem.«
»Na schon, dann la? mal horen«, sagte Hermes. »Ich nehme nicht an, da? du zufallig irgendwo ein Glas Jauche auf treiben kannst.«
»Aber sicher«, erwiderte Azzie. Er schenkte einen Pokal voll, der aus einem kompakten Amethyst herausgeschnitzt war, und berichtete uber seine Probleme mit dem Marchenprinzen, wahrend Hermes an seiner Jauche nippte.
»Mal sehen…«, murmelte der Gott. »Ja, ich erinnere mich an einige alte Schriften zu diesem Thema. Was dein Marchenprinz tut, wird als das klassische ›Held-verweigert-Heldentat-Syndrom‹ bezeichnet.«
»Ich wu?te gar nicht, da? Helden so etwas tun konnen«, bekannte Azzie.
»Oh, doch. Dieses Verhalten ist sogar recht weit verbreitet. Wei?t du irgend etwas uber die Familie deines Helden?«
»Er hat keine Familie!« protestierte Azzie. »Ich habe ihn ganz allein erschaffen.«
»Ja, das wei? ich«, entgegnete Hermes. »Aber erinnere dich, was wir uber seine Beine in Erfahrung gebracht haben. In allen Korperteilen schlummern Erinnerungen, besonders in Herzen.«
»Er hat das Herz eines Feiglings«, raumte Azzie ein. »Den Rest der Familie habe ich mir nie genauer angesehen.«
»Ich werde das fur dich erledigen«, sagte Hermes. Er verschwand, nicht etwa in einer Rauchwolke, wie es gewohnliche Damonen taten, sondern in einem hellen Auflodern von Flammen. Azzie bewunderte seinen Abgang. Da war etwas, das er wirklich gern lernen wurde.
Kurz darauf kehrte Hermes auch schon wieder zuruck. »Es ist, wie ich vermutet habe. Dein Kadaver mit dem Herzen eines Feiglings war der mittlere von drei Sohnen.«
»Und? Was hat das zu bedeuten?«
»Gema? den Alten Lehren ist der mittlere Sohn gewohnlich der wertloseste. Der alteste Sohn erbt das Konigreich. Wenn alles seinen geregelten Gang geht, zieht der jungste Sohn in ein gefahrvolles Abenteuer und erringt dabei ein anderes Konigreich. Der mittlere Sohn ist einfach nur faul und unternimmt kaum etwas. So sorgt die Natur dafur, das alles im Gleichgewicht bleibt.«
»Beim Hollenfeuer!« rief Azzie aus. »Ich habe es mit einem mittleren Sohn zu tun, der auch noch ein Feigling ist! Was soll ich machen?«
»Da er noch unfertig ist, besteht Hoffnung, seine Einstellung zu verandern. Vielleicht konntest du ihn davon uberzeugen, da? er ein jungerer Sohn ist. Dann ware er fur seine Aufgabe besser geeignet.«
»Wird ihn das davon abhalten, ein Feigling zu sein?«
»Ich furchte, nein«, bekannte Hermes. »Naturlich ware es hilfreich, wenn du ihm Geschichten uber die Kuhnheit seiner Vorfahren erzahlst. Aber seine Feigheit ist ein ihm innewohnender Charakterzug, den man nicht durch Ermahnungen beseitigen kann.«
»Was schlagst du also vor?« fragte Azzie.
»Das einzige bekannte Heilmittel gegen Feigheit«, sagte Hermes, »ist ein Kraut, das Mutia sempervirens genannt wird.«
»Wo wachst es?« wollte Azzie wissen. »Und wirkt es wirklich?«
»Seine Wirkung steht au?er Frage. Mutia, oder Nervenkraut, wie man es auch nennt, erfullt einen Mann mit Draufgangertum und Zielstrebigkeit. Aber man mu? es in kleinen Dosen verabreichen, sonst verwandelt es Tapferkeit in Tollkuhnheit, und der Held wird getotet, noch bevor er richtig losgelegt hat.«
»Es fallt mir schwer, mir den Prinzen als tollkuhn vorzustellen.«
»Verabreiche ihm eine Dosis von der Gro?e eines kleinen Fingernagels, und du wirst ein uberraschendes Ergebnis erzielen. Aber denk auch daran, es ist immer ratsam, es mit einem Gegenmittel wie zum Beispiel Ruhium zu kombinieren, dem Kraut fur vorausschauende Aufmerksamkeit.«
»Ich werde daran denken«, versicherte Azzie. »Wo kann ich dieses Mutia finden?«
»Das ist das eigentliche Problem«, gestand Hermes. »Im Goldenen Zeitalter gab es eine ganze Menge davon, und niemand machte sich die Muhe, es zu essen, denn damals war kein Mut erforderlich, sondern nur die Fahigkeit, sich zu vergnugen. Dann kam das Bronzene Zeitalter, in dem die Menschen einander bekampften, gefolgt vom Eisernen Zeitalter, in dem sie nicht nur gegeneinander, sondern auch gegen alles andere kampften. Damals nahmen sie das Kraut in gro?en Mengen zu sich, was einer der Grunde dafur ist, warum die Menschen dieser Zeit so draufgangerisch waren. Allerdings hatten diese viel zu wild gefuhrten Kriege die Menschheit beinahe ausgeloscht. Mit dem Klimawechsel, den das neue Zeitalter mit sich brachte, starb die Mutiapflanze aus. Und heute findet man sie nur noch an einem Ort.«
»Sag mir, wo der ist«, bat Azzie.
»In einem verstaubten Regal der Abteilung fur Ausrustung und Zubehor«, sagte Hermes. »Die letzten Pflanzen wurden getrocknet und dann zur ewigen Aufbewahrung in eine Jauchetinktur eingelegt.«
»Aber ich habe mich bereits nach so etwas bei der Abteilung erkundigt! Dort hat man mir gesagt, da? man noch nie von so etwas gehort hatte!«
»Das sieht ihnen ahnlich«, erwiderte Hermes. »Du mu?t sie irgendwie dazu bringen, eine grundliche Suche in die Wege zu leiten. Es tut mir leid, Azzie, aber das ist das einzige, das dir weiterhelfen kann.«
Das war ein Problem, denn die Abteilung fur Ausrustung und Zubehor verhielt sich zunehmend unkooperativ. Azzie hegte sogar den Verdacht, da? die Leute dort sein Projekt schon langst abgeschrieben hatten, vor sich hin dosten und darauf warteten, da? jemand mit einer neuen Idee kam. Er wu?te, da? er in Schwierigkeiten steckte. Azzie redete mit dem Prinzen, berichtete ihm von den heroischen Taten erfundener Ahnen und drangte ihn, es ihnen in jeder Beziehung gleichzutun. Aber der Prinz zeigte keinerlei Interesse. Selbst als er ihm kleine Portrats von Rosenrot brachte, angefertigt von Damonenkunstlern, die garantiert jeden korperlichen Reiz der Prinzessin festgehalten hatten, zeigte sich der junge Mann vollig gleichgultig und sprach statt dessen davon, eine Modeboutique zu eroffnen, sobald er etwas alter geworden ware.
KAPITEL 6
Es war fruh am Abend. Die Augustsonne hatte den ganzen Tag lang auf das Anwesen in Augsburg herabgebrannt. Azzie sa? in seinem grobgezimmerten bequemen Sessel und las in einem der Rundschreiben, die hin und wieder vom Amt fur Interne Angelegenheiten verschickt wurden. Es enthielt das ubliche Zeug: einen allgemeinen Aufruf an samtliche Mitarbeiter, im offentlichen Interesse Boses zu tun, und eine Auflistung der laufenden hollischen Aktivitaten. Unter anderem war ein Kalender mit den Geburtstagen der Wechselbalger abgedruckt, die in die Wiegen der Menschen gelegt worden waren, wahrend man die echten Kinder entfernt und verandert hatte, um sie den Azteken in der Neuen Welt zu schicken und ihre Bevolkerung zu vergro?ern, deren Blutopfer allgemeine Bewunderung erregt hatten. Es gab Berichte uber Feierlichkeiten angesichts von Feuersbrunsten und Verkaufsveranstaltungen in Hollengruben, eben das ubliche Zeug, hier und da mit Kurznachrichten aufgelockert. Azzie las das Rundschreiben, obwohl es ihn nicht sonderlich interessierte. Manchmal entdeckte man etwas Nutzliches in den lieblos verfa?ten Artikeln, meistens jedoch nicht.
Doch dann, als ihm die Augen zuzufallen drohten und er vor dem Kamin zu dosen begann, ertonte ein gewaltiges Klopfen an der hohen Haupteingangstur des Anwesens. Es drohnte so laut, da? Azzie beinahe aus seinem Sessel aufsprang. Der Marchenprinz, der gerade das Schnittmuster eines griechischen Gewandes von einer Tontafel auf ein Stuck Pergament ubertrug, verschwand wie der Blitz, noch bevor das Echo des letzten Klopfens verklungen war. Nur der alte Frike war reglos sitzen geblieben, was allerdings nicht an seinem Mut lag; der plotzliche Larm hatte ihn vor Angst erstarren lassen, so wie angeblich ein Kaninchen beim Anblick eines Falken erstarrt, der mit drohend gespreizten Schwingen und ausgestreckten Krallen auf es herabsto?t.
»Ziemlich spat fur einen Besucher«, murmelte Azzie nachdenklich.
»Aye, Sire, und au?erdem ziemlich laut«, sagte Frike, der sich weit genug aus seiner Erstarrung gelost hatte, um am ganzen Leib zittern zu konnen.
»Rei? dich zusammen, Mann!« befahl Azzie. »Wahrscheinlich ist es nur ein Reisender, der sich verirrt hat.