»Ich habe schon davon gehort, es aber noch nie probiert«, sagte Babriel. »Hat es eine berauschende Wirkung?«

»Es erfullt seinen Zweck«, erklarte Azzie. »Wie das Leben eben so ist, meine ich.«

Babriel fand diese letzte Bemerkung ziemlich unverstandlich – vorsichtig ausgedruckt. Aber wann hat das Gute schon jemals das Bose verstanden? Er folgte Azzie in das Arbeitszimmer.

»Also schon«, sagte Azzie, »wenn Sie bleiben mussen, dann bleiben Sie. Ich nehme an, Sie wollen hier in meinem Haus wohnen?«

»Es wurde mir meine Aufgabe erleichtern«, erwiderte Babriel. »Ich konnte Miete zahlen…«

»Halten Sie mich fur eine Kramerseele?« unterbrach ihn Azzie beleidigt, obwohl ihm der Gedanke, eine Miete zu verlangen, tatsachlich durch den Kopf gegangen war. »Sie sind mein Gast. Wo ich herkomme, ist die Gastfreundschaft heilig.«

»So ist es auch dort, wo ich herkomme«, sagte Babriel.

»Kunststuck!« schnaubte Azzie geringschatzig. »Fur eine Kreatur des Lichtes ist es selbstverstandlich, das Gastrecht heilig zu halten, fur eine Kreatur der Finsternis hingegen ist so etwas sehr bemerkenswert.«

»Genau das wollte ich gerade selbst sagen«, meinte Babriel.

»Versuchen Sie nicht, sich bei mir einzuschmeicheln«, warnte Azzie. »Ich kenne die Tricks. Und ich verabscheue Sie und alles, wofur Sie eintreten.«

»Genau so sollte es auch sein«, versicherte Babriel lachelnd.

»Sie verabscheuen mich also ebenfalls?«

»Aber ganz und gar nicht! Ich meinte blo?, da? es so fur Sie sein sollte. Sie sind das, was unsere Erzengel ein Original nennen. Es ist ein Privileg fur mich, Sie in ihrem naturlichen Verhalten beobachten zu durfen.«

»Schmeichelein werden Ihnen nichts einbringen«, sagte Azzie, mu?te jedoch zu seinem Arger feststellen, da? er Babriel irgendwie mochte. Er wurde etwas dagegen unternehmen mussen! »Zeig ihm das kleine Zimmer im Dachgescho?«, wies er Frike an.

Frike ergriff eine alte Ollampe und ging tief gebeugt voran. Sein Stock klapperte uber den Boden, und sein Buckel ragte wie ein Wal in die Hohe, der aus dem Wasser auftaucht. Gefolgt von Babriel, kletterte er die Stufen hinauf.

Die Treppe zog sich endlos dahin, an gebohnerten Fluren und den Raumen der unteren Geschosse entlang. Je hoher sie stiegen, desto steiler und schmaler wurde die Treppe. Hier und da fehlte die eine oder andere Trittstufe. Frike humpelte unablassig gebuckt weiter, wahrend Babriel, der gro? war und sich aufrecht hielt, den Kopf einziehen mu?te, um nicht gegen die niedrig angebrachten Deckenbalken zu sto?en. Sein wei?er Umhang schimmerte schwach im Licht der Ollampe.

Schlie?lich erreichten sie den letzten Treppenabsatz dicht unter dem Dach des hohen Hauses. Am Ende eines kurzen dusteren Flurs war eine Tur. Frike offnete sie und trat mit der Lampe ein. Im flackernden gelblichen Licht erkannte Babriel eine kleine Stube mit einer so niedrigen Decke, da? er nicht aufrecht stehen konnte. An einer der schragen Deckenwande war ein winziges vergittertes Fenster angebracht. Das Zimmer enthielt ein eisernes Bettgestell und ein kleines Nachtschrankchen. Der gesamte Raum war kaum langer als das Bettgestell, der Boden mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Es roch nach laufigen Katzen und uralten Motten.

»Sehr hubsch«, stellte Babriel fest.

»Vielleicht ein wenig klein«, meinte Frike. »Vielleicht solltet Ihr den Gebieter bitten, Euch ein Zimmer im dritten Stock zu geben.«

»Nicht notig«, erwiderte Babriel. »Das wird vollkommen ausreichen.«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tur.

»Wer ist da?« fragte Frike.

»Ubernaturlicher Lieferdienst. Eine Zustellung fur den Engel Babriel.«

»Ah, vielen Dank«, sagte Babriel. Er offnete die Tur. Vor ihm stand ein Mann mittlerer Gro?e, der eine Botenmutze trug. Er reichte Babriel ein Blatt Papier und einen Stift. Der Engel unterschrieb den Lieferschein und gab ihn zuruck, worauf der Lieferant an einer Haarstrahne zupfte und verschwand.

»Mein Gepack«, erklarte Babriel. »Wo soll ich es abstellen?«

Frike sah sich skeptisch um. »Vielleicht auf Eurem Bett. Aber dann hattet Ihr keine Schlafstelle mehr.«

»Das wird sich schon finden«, sagte Babriel und zog seinen Koffer in das Zimmer. Es war ein ziemlich gro?er Koffer, und der einzige Stauraum war tatsachlich das Bett, da Babriel und Frike den gro?ten Teil des restlichen Zimmers einnahmen.

Babriel musterte den Verschlag und fragte: »Denkt Ihr, der Koffer pa?t in diese Ecke?«

Frike betrachtete den spitzen Winkel, wo sich die Wande trafen. »Ihr konntet nicht einmal eine tote Maus in diese Ecke quetschen, geschweige denn einen solch gro?en Koffer.«

»Probieren wir es trotzdem«, schlug Babriel vor. Er nahm den Koffer vom Bett und schob ihn in die Ecke. Obwohl zwischen dem Bettende und der Zimmerecke nur eine Handbreit Platz war, rutschte der Koffer immer weiter. Statt ihn aufzuhalten, beulte sich die Wand nach au?en aus, und die anderen Wande wichen im gleichen Ma? zuruck. Auch die Decke hob sich, und schon bald befand sich Frike nicht mehr in der winzigen Kammer, die er gerade erst betreten hatte, sondern in einem relativ geraumigen Zimmer.

»Wie habt Ihr das gemacht?« wollte er wissen.

»Nur so ein kleiner Trick, wie man ihn aufschnappt, wenn man viel in der Welt herumkommt«, erwiderte Babriel bescheiden.

Der Raum war nicht nur gro?er, sondern aus einem nicht sofort ersichtlichen Grund auch heller geworden. Frikes Augen weiteten sich, als er ein merkwurdiges raschelndes Gerausch zu seinen Fu?en horte. Als er die Quelle ausfindig machen wollte, sah er irgend etwas Kleines, ungefahr so gro? wie eine Ratte, aus seinem Blickfeld huschen. Er blinzelte und erkannte, da? der Fu?boden, der fingertief mit Staub und Katzendreck bedeckt gewesen war, jetzt wie frisch gewischt und poliert glanzte. Ihn uberkam ein Anflug von Panik.

»Ich werde dem Gebieter ausrichten, da? Ihr Euch gut eingerichtet habt«, sagte er und eilte davon.

Funf Minuten spater erschien Azzie in Babriels Zimmer. Er fand es doppelt so gro? wie beim letzten Mal vor, von hellem Licht durchflutet, hubsch eingerichtet und nach Weihrauch und Myrrhe duftend. In einer der Seitenwande entdeckte er eine neue Tur, die in ein schon gekacheltes Badezimmer fuhrte, von dem er verdammt genau wu?te, da? es vorher noch nicht dort gewesen war.

Daruber hinaus enthielt das Zimmer jetzt einen Kleiderschrank, dessen Turen offenstanden. Darin hingen Dutzende von Babriels Uniformen in den unterschiedlichsten Schnitten und Ausfuhrungen, einige mit Medaillen, die meisten mit ubergro?en Kragen und weiten Armeln. Babriel war in eine dieser in Wei? und Silber gehaltenen Uniformen geschlupft, zu denen eine spitze Kappe gehorte. Azzie fand, da? der Engel darin so lacherlich aussah, da? er beinahe schon wieder ehrfurchtgebietend erschien.

»Es freut mich zu sehen, da? Sie sich hauslich eingerichtet haben«, sagte er.

»Ich habe mir die Freiheit genommen, das Zimmer ein wenig herzurichten. Aber vor meiner Abreise werde ich es gern wieder in seinen ursprunglichen Zustand zuruckversetzen.«

»Machen Sie sich deswegen keinen Umstande«, erwiderte Azzie. »Hatte ich gewu?t, da? Sie etwas Schickes wollen, hatten Sie etwas Schickes bekommen. Was ist das?« Er deutete auf ein rechteckiges perlmutt- und goldfarbenes Gebilde, das an Babriels Gurtel baumelte.

»Ach, das. Das ist mein Telefon«, erklarte der Engel. »Damit ich mit dem Hauptquartier in Verbindung bleiben kann.«

Azzie starrte das Ding finster an. »Unsere sind noch nicht einmal ausgeliefert worden«, beschwerte er sich.

»Es wird Ihnen gefallen, sobald Sie eins bekommen«, versicherte Babriel.

KAPITEL 7

Das Septemberwetter war ruhig und schon. Azzie gewohnte sich immer mehr daran, Babriel in seinem Haus zu beherbergen. Das Zimmer des Engels dehnte sich standig weiter aus, bis Azzie ihn bitten mu?te, das Wachstum einzugrenzen, weil es durch sein Gewicht und seine Hebelwirkung drohte, das gesamte Haus umkippen zu lassen.

Auch die Ausbildung des Marchenprinzen ging weiter. Der junge Mann schien an Selbstbewu?tsein zu gewinnen. Azzie hatte ihm eine Auswahl der verschiedensten Krauterextrakte und andere exotische Mittel verabreicht, wie zum Beispiel das pulverisierte Horn eines Einhorns, getrocknete Todesfeenschei?e und destillierten Leichenschwei?. Mittlerweile war der Prinz in der Lage, mit den Holzschwertern gegen Frike zu

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