gerochen hatte (der Duft der Speculum ist betorend), buckte er sich und legte ein Ohr auf den Boden. Sein ubernaturlich gutes Gehor verriet ihm, da? sich irgend etwas unter der Erde unablassig bewegte und rhythmisch klopfte. Wie nicht anders zu erwarten, war es das charakteristische Gerausch, das ein Zwerg verursacht, der mit Picke und Schaufel einen Tunnel grabt. Die Zwerge wissen nur zu gut, da? sie sich durch die Gerausche ihrer Grabungen verraten, aber was sollen sie tun? Ein Zwerg mu? nun einmal buddeln, um sich lebendig zu fuhlen.
Azzie stampfte mit dem Fu? auf und sank in den Boden. Die meisten europaischen und arabischen Damonen beherrschen diese Fahigkeit. Unter der Erde zu leben ist genauso naturlich fur sie, wie es fur die Menschen naturlich ist, auf der Erde zu leben. Damonen empfinden die Erde ahnlich wie Wasser. Sie konnen durch sie hindurchschwimmen, auch wenn sie es eindeutig vorziehen, durch Tunnel zu laufen.
Es war kuhl unter der Erde. Das Fehlen von Licht hinderte Azzie nicht daran, seine Umgebung durch eine Art dammriger Infrarotsicht recht gut zu erkennen. Und es ist ziemlich angenehm im Untergrund. Knapp unter der Oberflache gibt es Maulwurfe und Spitzmause, und durch die unterschiedlich dichten Erdschichten kriechen noch eine Menge anderer Geschopfe.
Schlie?lich kam Azzie in einer gro?en Hohle heraus. Phosphorisierendes Felsgestein verstromte ein schwaches Glimmen, und am anderen Ende der Hohle entdeckte er einen einzelnen Zwerg nordeuropaischer Herkunft, der einen ma?geschneiderten Anzug aus grunem und rotem Maulwurfsieder trug, dazu winzige kniehohe Stiefel aus Geckohaut und eine kleine Kappe aus Mausefell auf dem Kopf.
»Ich gru?e dich, Zwerg«, sagte Azzie und richtete sich so weit auf, wie es die felsige Decke zulie?, um den Zwerg einschuchternd zu uberragen.
»Sei gegru?t, Damon«, erwiderte der Zwerg. Er klang nicht gerade sonderlich erfreut daruber, einem solchen Exemplar zu begegnen. »Unterwegs auf einem kleinen Spaziergang, was?«
»Konnte man so sagen. Und du?«
»Ich komme nur zufallig auf der Durchreise hier vorbei«, sagte der Zwerg. »Unterwegs zu einer Wiedersehensfeier in Antibes.«
»Tatsachlich?« fragte Azzie.
»Aber ja.«
»Warum hast du dich dann hier aufgehalten und gegraben?«
»Ich? Gegraben? Nicht da? ich wu?te.«
»Und was hast du dann mit dieser Picke in deiner Hand getan?«
Der Zwerg senkte den Blick und schien erstaunt zu sein, die Picke in seiner Hand zu entdecken. »Ich habe nur aufgeraumt.« Er versuchte, ein paar Felsbrocken mit der Hacke zusammenzuharken, aber da das Werkzeug nicht fur diese Aufgabe gedacht war, machte er dabei keine sonderlich gute Figur.
»Unter der Erde aufraumen?« fragte Azzie. »Wofur haltst du mich, fur einen Volltrottel? Wer bist du uberhaupt?«
»Ich bin Rognir, ein Mitglied der Roifing Zwergensippe aus Uppsala. Unter der Erde sauberzumachen, mag dir absurd erscheinen, aber fur uns Zwerge, denen es gefallt, wenn alles so bleibt, wie es ist, ist das ein ganz naturliches Verhalten.«
»Offengestanden, was du mir da erzahlst, kommt mir au?erst konfus vor«, sagte Azzie.
»Das liegt daran, da? ich nervos bin«, behauptete Rognir. »Normalerweise rede ich ganz vernunftig.«
»Dann tu das auch jetzt«, schlug Azzie vor. »Entspann dich, ich will dir nichts Boses.«
Der Zwerg nickte, wirkte aber nicht uberzeugt. Er traute keinem Damon, und das konnte man ihm auch nicht verdenken. Es herrscht viel Rivalitat im Reich der Geister, von der die Menschen nichts wissen, da kein Homer oder Vigil zugegen war, wenn sich dort bedeutsame Dinge ereigneten. Zwischen Zwergen und Damonen hatte es in letzter Zeit erhebliche Spannungen wegen territorialer Streitfragen gegeben. Die Damonen haben schon immer Anspruch auf die Unterwelt angemeldet, trotz ihrer entfernten Verwandtschaft zu den gefallenen Geschopfen des Lichts. Sie lieben die unterirdischen Bereiche der Erde, die tiefen Hohlen, Sumpflocher, Senkgruben, Grotten und Abgrunde, die unterirdischen Gange, die in ihrer poetischen wenn auch dusteren Art, die Dinge zu betrachten, von einer merkwurdigen Schonheit sind. Die Zwerge ihrerseits erheben ebenfalls Anspruch auf die Unterwelt, da sie sich als deren Kinder begreifen, die spontan aus den sich chaotisch windenden Feuerstromen der Urflamme in den Tiefen der Erde geboren wurden. Das ist naturlich nur eine romantisch verklarte Vorstellung: Die wahre Herkunft der Zwerge ist sehr interessant, aber es fehlt die Zeit, sich an dieser Stelle damit zu befassen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es jedoch, auf die Vorstellungskraft hinzuweisen, die Fahigkeit, eine Idee aufzugreifen und sich stur daran festzuklammern. Wie zum Beispiel im Fall der Zwerge ihr Beharren darauf, frei und ungebunden nach Belieben unter der Erde umherziehen zu durfen, ohne Einschrankungen oder Rucksichtsnahme. Das entspricht allerdings nicht der Einstellung der Damonen. Damonen bevorzugen feste Territorien. Sie stampfen fur sich allein dahin, und andere Geschopfe neigen dazu, ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Zwerge dagegen tun sich zu Gruppen zusammen und buddeln und singen unablassig (sie sind wirklich leidenschaftliche Sanger) mit fliegenden wei?en Barten, die Picke und die Schaufel immer griffbereit. Oft durchqueren sie auf ihren Zugen damonische Versammlungen, denn Damonen halten standig Versammlungen zu doktrinaren Streitfragen ab, auch wenn ihre Diskussionen von den wahren Machtinhabern kaum jemals zur Kenntnis genommen werden. Aber wie auch immer, sie hassen es, dabei belastigt zu werden, und die Zwerge besitzen das unheimliche Talent, bei ihren Grabungen immer wieder die falsche Zeit und den falschen Ort zu wahlen und Damonen zu storen, die gerade tief in Gedanken versunken reglos auf Basaltblocken hocken, die Hande auf die Ohren gelegt, wie es in einigen in Stein gemei?elten Familienportraits der Turme von Notre Dame zu sehen ist. Die Damonen fuhlen sich von den Zwergen bedrangt und behelligt. Es ist schon aus geringeren Anlassen zu Kriegen gekommen.
»Ich glaube, unsere Stamme befinden sich zur Zeit im Frieden«, sagte Azzie. »Jedenfalls bin ich nur aus einem Grund hier, der dich nicht einmal interessieren wird, weil es sich dabei nicht um kostbare Edelsteine handelt.«
»Was genau suchst du?« wollte Rognir wissen.
»Felixit«, antwortete Azzie.
Damals besa?en Schutzzauber und Talismane noch gro?e Kraft. Und es gab eine ganze Menge davon, auch wenn die Zwerge sie an geheimen Orten verbargen, um sie vor den Drachen zu verstecken. Damit hatten sie allerdings keinen gro?en Erfolg, denn die Drachen wu?ten, da? sie da, wo sie Zwerge fanden, automatisch auch auf Gold stie?en. Zwerge und Drachen gehoren zusammen wie Pech und Schwefel, Hering und Sauerrahm, Gut und Bose, Erinnerung und Bedauern. Die Zwerge schufteten schwer, um Felixitgluckssteine aus den Tiefen der Erde zu fordern. Felixit tritt nur in kleinen Mengen in neptunischen Basaltadern auf, der altesten und hartesten Basaltart.
Vor langer Zeit, als alles noch viel besser, glucklicher, schoner und ehrlicher war, im Goldenen Zeitalter, das kurz vor dem Auftreten der Menschheit auf der Weltenbuhne endete, wurde der Glucksbringer Felixit haufig benutzt. Von einigen Seiten wird behauptet, da? die Vorrate von den alten Gottern angelegt wurden, die uber die Erde herrschten, als die Dinge noch keine Namen hatten. Schon damals war Felixit das seltenste Mineral der Welt. Eine winzige Menge reichte aus, um das ihr innewohnende Karma des Glucks und der Heiterkeit auf ihren Besitzer zu ubertragen und so fur ein erfolgreiches Gelingen all seiner Unternehmungen zu sorgen. Deshalb waren die Menschen bereit, dafur zu toten.
Eines ist sicher. Wer einen magischen Gluckstalisman haben will, mu? ihn entweder stehlen (was schwierig ist, da es das Bestreben eines richtigen Gluckstalismans ist, bei seinem Besitzer zu bleiben, und er folglich dazu neigt, mehr als nur ein bi?chen diebstahlresistent zu sein), oder ein Felixitvorkommen in den Tiefen der Erde entdecken und sich selbst einen anfertigen. Man konnte daraus leicht schlie?en, da? mittlerweile alle naturlichen Felixitvorkommen verschwunden sind, weil die Zwerge unter der Erde danach (und nach anderen Dingen) suchen, seit die ersten Menschen auf ihr erschienen sind, aber das ist ein Irrtum. Felixit ist ein solch machtiger Glucksbringer, da? sich selbst die Erde dadurch gesegnet fuhlt und von Zeit zu Zeit in ihrer Verzuckung mehr davon hervorbringt, wenn auch stets nur in kleinen Mengen.
»Felixit!« Rognir stie? ein wenig uberzeugendes Lachen aus. »Was bringt dich auf die Idee, da? es hier Felixit geben konnte?«
»Eine kleine Maus hat es mir geflustert«, erwiderte Azzie in einer schlagfertigen Anspielung darauf, da? Hermes fruher unter anderem als Gott der Mause fungiert hatte, bevor er zusammen mit den anderen olympischen Gottern abgeschafft worden war beziehungsweise eine andere Rolle angenommen hatte. Die Ironie blieb Rognir jedoch verborgen.