Fidelma machte gro?e Augen.

»Ein paar Stunden? Das hei?t, Mella und Gelgeis waren Zwillinge?«

Garb nickte kurz.

»Erzahl mir, was mit Mella passierte«, drangte ihn Fidelma.

»Das ist eine traurige Geschichte, aber eine, die sich heutzutage in den Gemeinschaften an der See haufig ereignet. Es gab einen Uberfall durch ein sachsisches Langschiff, und an dem Tag wurde ein halbes Dutzend junger Frauen weggeschleppt. Mella gehorte auch dazu.«

»Habt ihr versucht herauszufinden, woher das sachsische Sklavenjagerschiff kam?« fragte Eadulf.

Garb wandte sich ihm zu. »Naturlich. Es war ein Schiff aus Mercia.«

»Und habt ihr etwas uber ihr Schicksal erfahren?«

»Kaufleute, die mit Mercia Handel trieben, wurden gebeten, Erkundigungen einzuziehen, und man lie? verlauten, da? Gadra, der Furst von Maigh Eo, den Suhnepreis fur seine Tochter zahlen wurde, wenn sie unversehrt heimkehrte. Leider erhielten wir keine Nachricht.«

»Wann geschah das alles?« fragte Fidelma nachdenklich.

»Ungefahr zur selben Zeit, als wir vom Tod Gelgeis’ erfuhren, vielleicht etwas eher.«

»Und ihr habt nichts mehr von ihr gehort?«

»Doch. Der Kapitan des Schiffes, das uns herbrachte, berichtete uns, was man sich in den Hafen von Mercia erzahlte. Dieses Sklavenschiff, das wohl an den Zeichen auf den Segeln kenntlich war, soll einem gewissen Octha gehort haben. Es soll auf der Ruckfahrt von Eireann mit der ganzen Besatzung untergegangen sein.«

Fidelma schwieg einen Moment und fragte dann: »Ist das jemals bestatigt worden?«

Garb zuckte die Achseln. »Es hatte wenig Zweck, eine solche Geschichte zu erfinden. Ware Octha noch am Leben, hatte er erfahren, da? mein Vater ein Losegeld fur die Ruckkehr Mellas anbot. Es hatte sich fur ihn gelohnt, sie fur den Suhnepreis freizugeben. Aber wir horten nur, da? Octha und seine Manner und alle Gefangenen, die sie gemacht hatten, bei dem Schiffbruch untergegangen seien.« Er seufzte. »Deshalb beklagten und betrauerten wir die arme Mella. Meinen Vater bestarkte das in seinem Vorsatz, Wiedergutmachung fur den Tod von Gelgeis zu fordern.«

»Hast du das Schicksal Mellas mit irgend jemandem erortert, seit ihr hier seid?«

»Botulf kam von sich aus darauf zu sprechen.«

»Woher wu?te Botulf von Mella?«

»Er sagte, in der Nacht, in der Gelgeis starb, habe er sie drau?en vor der Abtei getroffen und sie habe ganz bla? ausgesehen. Sie erzahlte, sie habe gerade einen Wandermonch getroffen und der habe ihr berichtet, was sich ereignet hatte. Sie ging hinaus in die Nacht, und Botulf sah sie nie wieder.«

»Also wu?te Gelgeis von Mellas Geschick, bevor sie selbst verschwand?« forschte Fidelma. »Hast du Botulf gefragt, ob er das gegenuber anderen erwahnt hat?«

Garb verneinte es mit einer Geste. »Botulf sagte uns, da? er uber Gelgeis’ Tod die Geschichte ihrer Schwester vergessen habe, bis wir kamen. Erst dann fiel sie ihm wieder ein.«

»Ich verstehe.« Fidelma blieb nachdenklich. »Waren deine Schwestern sich sehr ahnlich? Als Zwillinge, meine ich?«

Garb lachelte wehmutig.

»Manche Leute konnten sie nicht auseinanderhalten. Sie ahnelten sich wie ein Ei dem anderen. Nur die nachsten Angehorigen konnten sie unterscheiden.«

»Das kann ich mir vorstellen. Deine Familie hat wohl viel Kummer und viele Schicksalsschlage erlitten.«

»Das mag so sein. Aber wir haben ein Sprichwort, da? der Wald die Blatter erneuert, die er abwirft.«

»Darin liegt viel Weisheit, Garb. Man darf sich nicht der Verzweiflung hingeben, denn auf jeden Sturm folgt wieder Sonnenschein.«

Sie hatten in ihrer gemeinsamen Sprache gesprochen, und Eadulf war der Unterhaltung gefolgt, denn er beherrschte die Sprache von Eireann. Ihm fiel auf, da? sie uber mehr Moglichkeiten der Ubertreibung und Ausschmuckung verfugte als die einfachere Ausdrucksweise seiner eigenen Sprache.

Sie schwiegen eine Weile, dann erhob sich Fidelma langsam und blickte Eadulf bedeutungsvoll an. Sie wandte sich wieder an Garb.

»Es sind nun noch funf Nachte, bis Gadra sein rituelles Fasten beginnt. Das la?t uns nicht viel Zeit.«

Garb lehnte sich zuruck und nickte.

»Willst du Cild wirklich dazu bringen, da? er seine Schuld bekennt und meinem Vater Genugtuung leistet?«

»Nur, wenn Cild schuldig ist«, entgegnete Fidelma.

»Und wie willst du beweisen, da? er nicht schuldig ist?«

»Das ist eine Frage, die ich jetzt noch nicht beantworten kann«, stellte Fidelma trocken fest. »Nun mochten wir uns die Ponys ansehen, von denen du gesprochen hast. Je eher wir aufbrechen, desto eher sind wir zuruck.«

Inzwischen war die Sonne aufgegangen, wenn auch eine au?erst fahle, durchsichtige Sonne an einem pa- stellfarbenen Himmel, und Fidelma und Eadulf konnten zum erstenmal die Umgebung in Augenschein nehmen, denn am Vortag waren sie in der Dammerung angekommen und hatten vor dem Dunkelwerden nicht mehr viel gesehen.

Tunstall lag auf einer weiten Lichtung in einem Wald, der sich seit Jahren ungehindert hatte entwik-keln konnen. Die Baume in ihrem Winterkleid wuchsen dicht nebeneinander, und da es zumeist immergrune Baume waren, bildeten sie ein Bollwerk gegen die Au?enwelt, das noch undurchdringlicher war als die Steinmauern von Aldreds Abtei.

Auf der Lichtung standen etwa ein halbes Dutzend Gebaude, gro?e Holzhauser, ahnlich denen, die Fidelma aus Eireann kannte und von denen sie deshalb annahm, sie seien von Monchen aus ihrem Land erbaut worden. Wohngebaude, ein Speisehaus, Vorratshauser, eine Kapelle, Scheunen und Stalle furs Vieh, das Fidelma um die Gebaude herum sah.

Abgesehen von dem inneren Bereich, wo die Bewegungen der Menschen und Tiere den Schnee und die Erde in Schlamm verwandelt hatten, lag noch eine dichte Schneedecke auf den Gebauden und der Lichtung. Trotz der fahlen Sonne und dem klaren Himmel war es nicht warm genug, den Schnee zu schmelzen, der kornig den Boden bedeckte. Jeder Mensch und jedes Tier stie? drau?en den Atem in einer warmen Dampfwolke aus, die einen Moment in der kalten Morgenluft hing, bis sie sich aufloste.

Nach dem, was Fidelma bei der mitternachtlichen Feier gesehen hatte und jetzt erkennen konnte, schatzte sie, da? die Siedlung etwa ein Dutzend Monche und ein halbes Dutzend Krieger beherbergte.

»Eine starke Verteidigung hat der Ort nicht aufzubieten, sollte er mal angegriffen werden«, murmelte sie.

»Du hast einen Blick fur solche Dinge, Schwester?« fragte Garb.

»Ich kenne mich ein bi?chen aus«, antwortete sie kurz, ohne weiter darauf einzugehen. »Denkt daran, da? Abt Cild euch auch aufspuren kann, wenn es uns so leicht gelungen ist.«

»Das stimmt«, gab Garb zu. »Aber Bruder Laisre lebt mit dieser Drohung schon seit Konig Ealdwulf von Ost-Angeln sich den Beschlu? der Synode von Whitby zu eigen machte. Ealdwulf ging noch einen Schritt weiter und befahl allen Monchen, die sich an die Regel von Colmcille hielten, sein Konigreich zu verlassen. Bruder Laisre und seine kleine Schar haben uberlebt trotz aller Versuche, sie zu vernichten.«

»Doch jetzt ist die Gefahr gro?er«, meinte Fidelma. »Cild mu?te eigentlich wissen, da? ihr, du und dein Vater, bei Laisre untergekommen seid.«

Garb umschrieb mit einer ausholenden Armbewegung die ganze Lichtung.

»Sieh dir die Baume an, Schwester. Es sind gute Wachposten.«

»Das habe ich schon getan. So gut sie auch sind, es gibt Pfade zwischen ihnen, und auf solchen Pfaden konnen Manner und Waffen hindurchgelangen.«

»Deshalb hat Laisre eine Reihe von Beobachtungsposten an den Zugangen aufgestellt und Ruckzugswege geplant. Mach dir keine Sorgen, Schwester. Dieses Lager la?t sich nicht leicht uberraschend einnehmen. Nun will ich dir die Ponys zeigen.«

Er fuhrte sie zu einem der Stalle, in dem mehrere Ponys der einheimischen Art standen, die sie schon gut kannte. Es waren robuste, kurze kleine Tiere. Sie musterte sie mit sachkundigem Blick, denn sie war mit Pferden aufgewachsen und hatte beinahe eher reiten als laufen gelernt.

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