»Nein«, entgegnete er lachelnd. »Oder sollte ich?«
Catherine musterte ihn aufmerksam. »Jeder hat etwas zu verbergen, Matthew«, sagte sie, legte die Hand an seinen Hals und zeichnete mit dem Finger die Muttermale nach. »Ist das nicht so?«
Der Lakai starrte Hawkwood verwirrt und misstrauisch an. Hawkwood glaubte, der Diener habe ihn nicht verstanden. Deshalb wiederholte er: »Special Constable Hawkwood mochte Lord Mandrake sprechen.« Er hielt ihm seinen Ausweis unter die Nase. Auch wenn der Diener nicht lesen konnte, wurde ihm das offizielle Siegel auf dem Dokument wohl Zutritt zum Haus verschaffen.
Da seine Nacht mit der liebeshungrigen Catherine keine Erkenntnisse gebracht hatte, au?er der Tatsache, dass Lord Mandrake fluchtige, wenn nicht sogar enge Beziehungen zu den meisten Regierungsmitgliedern pflegte, hatte Hawkwood beschlossen, den direkten Weg einzuschlagen und dem Haus Mandrake einen Besuch abzustatten.
Nachdem der Lakai seinen Ausweis kritisch gepruft hatte, sagte er: »Seine Lordschaft ist nicht zu Hause.«
»Wann wird er zuruckerwartet?«
Der Diener zogerte, durch Hawkwoods scharfen Ton noch vorsichtiger geworden.
»Also?«, sagte Hawkwood und steckte den Ausweis wieder in seinen Schlagstock.
»Ich bin mir nicht sicher. Seine Lordschaft ist fort, verstehen Sie?«
»Ja.« Hawkwood war zunehmend verargert. »Das hast du mir ja eben gesagt. Wo ist er?«
»Auf seinem Landsitz in Northwich. Ich glaube, der Comte wollte einen Ausflug aufs Land machen.«
»Der Comte?«
»Der Hausgast Seiner Lordschaft, der Comte de Rochefort.«
Der in Montaignes Lekture vertiefte Franzose, der am Abend des Balls ein so ungewohnliches Interesse an Hawkwood gezeigt hatte. Wie dem Comte wohl der Norden gefallen wird?, fragte sich Hawkwood. Northwich liegt in Cheshire, weit weg von den modischen Salons und Verlockungen der Hauptstadt. Naturlich werden dort Fuchsjagden veranstaltet, doch wie ich den Comte einschatze, ist er ein Mann, der korperlich anstrengende Aktivitaten nicht sonderlich liebt und eher dem Wurfel- und Kartenspiel zugeneigt ist.
Als der Diener die Haustur schlie?en wollte, stellte Hawkwood seinen Fu? dazwischen und rief: »Nicht so hastig, Freundchen!« Dann schob er den Mann beiseite, trat in die weite Eingangshalle und bemerkte sofort, wie still es in dem herrschaftlichen Haus war. Welch ein Kontrast zu meinem ersten Besuch hier, dachte Hawkwood. An jenem Abend hatten alle Raume im Lichterglanz gestrahlt und waren mit Musik, Stimmengewirr und Lachen erfullt gewesen.
»Sir, ich protestiere!« Weil Hawkwood jedoch nicht reagierte, trottete der Diener zwangslaufig durch das Erdgeschoss hinter ihm her. Ihre Tritte hallten in den hohen Korridoren wider. Kein Zweifel, dachte Hawkwood, der Vogel ist ausgeflogen. Als er Stimmen horte, folgte er dem Klang, traf aber nur auf Dienstboten, die letzte Arbeiten verrichteten, Kamine auskehrten und Schutzbezuge uber Mobel legten.
»Wann sind die Herrschaften abgereist?«
Lord Mandrake sei zusammen mit seiner Frau, seinem Gast und einem Berg Gepack am fruhen Morgen aufgebrochen. Schon kurz nach Sonnenaufgang, wie sich herausstellte.
Sei es ublich, fragte Hawkwood den Diener scharf, dass Lord Mandrake in dieser Jahreszeit zu seinem Landsitz im Norden reise? Und wenn ja, gehore es auch zu den Gewohnheiten Seiner Lordschaft, im Morgengrauen aufzubrechen?
Die Antworten des Dieners waren wenig hilfreich. Lord Mandrake besuche seine Landereien, wann immer er Lust dazu habe. Und was die fruhe Abreise betreffe, so sei es eine weite Reise, und je fruher die Familie aufbreche, umso fruher erreiche sie ihr Ziel.
Nur mit Muhe unterdruckte Hawkwood seinen Arger uber die mangelhaften Auskunfte. Dann kam ihm eine Idee.
»Sag mal, hatte Seine Lordschaft je Probleme mit seinen Uhren?«
Der Diener blinzelte verstandnislos. »Uhren?«
»Ja, mit seinen Uhren, verdammt noch mal! Gab es in seinem Haushalt Uhren, die repariert werden mussten?«
»Ahm, nein, Sir. Nicht, dass ich wusste.« Es war offensichtlich, dass der Diener allmahlich anfing, an Hawkwoods Verstand zu zweifeln.
Na ja, es ist eben auch nur ein Schuss ins Blaue gewesen, dachte Hawkwood und marschierte zur Haustur zuruck. Der Diener schloss mit sichtlicher Erleichterung die Tur hinter ihm. Hawkwood blieb auf der Treppe stehen und uberlegte. Es bestand kaum Zweifel daran, dass Lord Mandrake London in unangemessener Eile verlassen hatte.
Was hatte ihn zu dieser ubersturzten Abreise veranlasst?
Ein Zufall, der fur seine Ermittlungen nicht relevant war? Oder steckte eine Verschworung dahinter?
»Denn du bist von Erde und zu Erde sollst du werden. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er bluht wie eine Blume auf dem Felde, wenn der Wind daruber geht, ist sie nimmer
da … Die Gnade des Herrn aber wahrt von Ewigkeit zu Ewigkeit …«
Mit flacher, teilnahmsloser Stimme leierte der Pfarrer die Predigt herunter. Hawkwood hatte das Gefuhl, die Trauerfeier fur seinen ermordeten Kollegen sei eine lastige Pflicht, und wunschte sich spontan, dass Reverend Fludde trotz seiner etwas schrillen und schneidenden Rhetorik die Predigt gehalten hatte. Er starrte auf den Sarg in dem offenen Grab hinunter und fragte sich, ob zu seinem Begrabnis auch nur so wenige Trauernde kommen wurden. Wahrscheinlich, dachte er wehmutig.
Jetzt, am Spatnachmittag, drangen nur vereinzelte Sonnenstrahlen durch das dichte Geast in den Winkel des kleinen Friedhofs. Das Gesicht von Trauer gezeichnet, stutzte sich James Read neben Hawkwood auf seinen Spazierstock. Au?er Hawkwood und dem Obersten Richter waren nur drei weitere Trauergaste anwesend: der Sekretar Ezra Twigg und neben ihm ein kraftiger, untersetzter Mann, Runner Jeremiah Lightfoot, der noch immer mit dem Begleitschutz fur den Goldtransport der Bank von England beauftragt war. Ein paar Schritte entfernt, im Schatten eines Apfelbaums, stand eine zierliche Frau mit schwarzem Kopftuch. Sie schluchzte leise in ihr Taschentuch. Hawkwood wusste, dass der Mann von Warlocks Schwester bei Almeida gefallen war. Ihr Bruder Henry war also ihr letzter noch lebender Verwandter gewesen. Am Zaun warteten geduldig zwei Pfeife rauchende Totengraber auf ein Zeichen des Pfarrers, um mit ihrer Arbeit beginnen zu konnen.
Die Kosten fur die Beerdigung hatte sozusagen als letzte Ehre fur den verdienten Runner das Amt ubernommen. So hatte Henry Warlock im selben Grab wie seine Frau und sein Sohn bestattet werden konnen, sonst ware er in einem Armengrab verscharrt worden. Hawkwood wusste, dass James Read eine derartige Demutigung fur einen seiner Manner nie zugelassen hatte. Der Oberste Richter kummerte sich um seine Untergebenen.
Da niemand eine Grabrede hielt, faltete der Pfarrer die Hande und nickte den beiden Totengrabern zu.
Wahrend James Read, sein Sekretar und Runner Lightfoot Warlocks Schwester ihr Beileid aussprachen, sah Hawkwood zu, wie die Totengraber Erde auf den Sarg warfen. Der Oberste Richter hatte dafur gesorgt, dass ein tiefes Loch gegraben wurde. Leichenrauber versorgten die medizinische Fakultat zwar hauptsachlich im Winter mit Toten, aber auch zu anderen Jahreszeiten waren Graber nicht vor Leichendieben sicher. Dann stand Hawkwood vor dem Grabhugel. Auf dem schlichten Grabstein waren die Namen von Warlocks Frau und Kind eingemei?elt. Sein Name fehlte noch.
Was fur ein karger Lohn, wenn man funfzehn Jahre Dienst getan hat, dachte Hawkwood bedruckt.
Er spurte auf einmal, dass er beobachtet wurde. Er sah sich um und entdeckte Jenny, das Madchen, das ihn zu Jago gefuhrt hatte, hinter einem der Grabsteine. Als er sie zu sich winkte, schlich sich Jenny vorsichtig heran.
»Ich soll dir das geben …«, sagte sie und druckte ihm einen Zettel in die Hand.
Hawkwood faltete ihn auseinander und glattete ihn. Die Nachricht war kurz: