Abscheu dachte er an die dicht an dicht liegenden Korper, an die Ubelkeit und das widerliche Essen. Die Ruckreise nach England war noch schlimmer gewesen. Heftige Sturme hatten das Schiff wie einen Korken auf dem Wasser tanzen lassen. Wahrend der Uberfahrt hatte es Momente gegeben, wo er – sich die Seele aus dem Leib
kotzend – uber der Lee-Reling gehangen und sich den Tod herbeigewunscht hatte. Es waren hollische Wochen gewesen, aber ertraglich im Vergleich zu den Zustanden, die hier herrschten.
Der Gestank war uberwaltigend, eine Mischung aus Exkrementen und Verwesung. Ein paar vereinzelte Petroleumlampen und Kerzen verbreiteten trubes Licht. Sollte es so etwas wie einen Hollenschlund geben, dachte Hawkwood, dann ist es dieses Rattenloch.
Von der ehemaligen Messe waren nur noch ein paar Banke und Tische ubrig, an denen ein paar armselige Lumpengestalten hockten. Ratten huschten quietschend uber Boden und Tische. Und es stank.
Hawkwood setzte sich auf das au?erste Ende einer Bank, fuhlte, wie etwas uber seinen Stiefel lief, und trat danach.
»Willst ’nen Grog, Kumpel?«
Hawkwood blickte auf. Der murrischen Miene des Mannes nach zu urteilen, war es ihm sowieso egal, ob der Neuankommling etwas bestellte oder nicht. Hawkwood nickte. Er wurde jedoch in diesem Schweinestall den Becher nicht einmal anruhren. Der Mann knallte einen schmutzigen Blechbecher auf den Tisch und goss eine scharf riechende Flussigkeit ein. Hawkwood wischte sich mit dem Armel ubers Gesicht und legte eine Munze auf den Tisch. Jetzt konnte er nur noch warten.
Was, um Himmels willen, hat Jago dazu veranlasst, einen derart absto?enden Ort fur ihr Treffen zu wahlen, fragte sich Hawkwood wieder.
Au?erhalb von Hawkwoods Blickfeld, nahe am Backbord-Schott, winkte jemand mit gekrummtem Finger den Schankmann zu sich.
»Also?«
Der Schankmann nickte verdrie?lich. »Er ist’s.«
»Bist du dir sicher?«
»Klar. Er ist zwar schluderig gekleidet, aber ich habe die Narbe unter seinem Auge gesehen. Das ist ein knallharter Bastard, wenn du meine Meinung horen willst.«
Eine Munze fiel auf den Tisch. »Die will aber niemand horen, Cooter. Verschwinde!«
Hawkwood starrte missmutig in seinen Becher und fragte sich, ob ihm ein Schluck schaden wurde, als er jemanden neben sich spurte.
»Wartest du auf Jago?«, wisperte jemand neben seinem Ellbogen. Der Gestalt nach war es ein kleiner Junge, die zerfurchte Stirn jedoch war hoch und breit, die Nase flach, die Augen unter den dichten Brauen hingegen waren gro? und weit auseinander stehend. Der Zwerg trug einen Gehrock aus Brokat uber einem schmutzigen Ruschenhemd und gestreifte Hosen mit einem breiten Ledergurtel. Seine Fu?e steckten in Schaftstiefeln. Den Kopf kronte ein zu einem Turban geschlungenes buntes Halstuch. In diesem Kostum hatte er gut an Deck eines karibischen Piratenschiffs gepasst.
Hawkwood musterte den Zwerg misstrauisch. »Wer will das wissen?«
»Ich hei?e Wiesel.«
Hawkwood fragte zogernd: »Wo ist Jago?« Am linken Ohr des kleinen Mannes baumelte sogar eine Kreole aus Gold.
»Er wurde aufgehalten, Geschafte, du verstehst schon. Jago hat mich geschickt. Ich soll dich abholen, damit du dich in der Dunkelheit nicht verirrst. Kommst du jetzt mit, oder was?«
Der Zwerg watschelte o-beinig davon. Hawkwood erhob sich fluchend.
In der normalen Welt ware Wiesel wegen seines Kleinwuchses verhohnt und bedroht worden. Doch hier, in der Enge zwischen den Decks, war er in seinem Element. Im Reich der Blinden ist der Einaugige Konig. Wahrend sein Fuhrer zielsicher dahintrottete, konnte Hawkwood ihm nur muhsam folgen. Immer wieder musste er sich ducken, um vorstehenden Balken auszuweichen.
Je tiefer die beiden in den Schiffsbauch eindrangen, umso dunkler wurde es. Und sie waren nicht allein. Es war unmoglich, die Anzahl der Personen an Bord auch nur annahernd schatzen zu wollen. An Bord eines Handels-, Passagier- oder Kriegsschiffs hingen die Hangematten ordentlich aufgereiht nebeneinander, und die Mannschaft schlief Kopf an Fu?, um Platz zu sparen. Aber im
Dann stieg Hawkwood plotzlich ein verlockender, su?licher Geruch in die Nase. Und als er in einem der voll gepferchten Kabuffs ein schwaches Gluhen und die Pfeifen sah, wusste er sofort Bescheid.
Er hatte Opiumhohlen in den Kellern von St. Giles und den elenden Matratzenlagern in Wapping gesehen. Mit den Orientalen – Chinesen und ostindischen Matrosen – hatte sich dieses Laster auch in Europa ausgebreitet. Diese Menschen, von der Welt vergessen, fristeten ein derart kummerliches Dasein, dass vielen nur der Ausweg ins Verbrechen oder in die Bettelei blieb. Andere wiederum suchten Zuflucht in einer weniger anstrengenden Lebensform.
Schiffe der elisabethanischen Levante-Gesellschaft hatten dieses schwarze Zeug als Erste ins Land gebracht. Damals war dieser Handel von turkischen Kaufleuten kontrolliert worden. Jetzt transportierte die Ostindische Gesellschaft das Opium – ein florierendes Geschaft – nach England. Uberwacht und im Auftrag legitimer Unternehmen wie der Apotheker-Vereinigung wickelten Makler ihre Geschafte in der Mincing Lane ab. Es gab sogar Auktionen in
Hawkwood fielen die ausgemergelten Korper und ausdruckslosen Augen der apathisch daliegenden Opiumraucher auf. Ein Suchtiger steckte gerade ein Kugelchen Opium auf eine Nadelspitze, hielt sie vorsichtig uber die Kerzenflamme und steckte dann die klebrige Masse in ein Loch in dem eiformigen Pfeifenkopf. Dann zog der Raucher behutsam an der Pfeife und verursachte dabei ein leise gurgelndes Gerausch. Hawkwood war vollig verblufft von dem Gesichtsausdruck des Mannes. Er sah nicht etwa Hoffnungslosigkeit, sondern eine Heiterkeit, die in dieser stinkenden Umgebung vollig fehl am Platz wirkte.
»Kummere dich nicht um die«, lachte der Zwerg. Sein Lachen klang wie das Gurgeln der Opiumpfeifen.
Ein paar Schritte weiter blieb der kleine Mann vor einer schweren Holztur stehen. »Da sind wir. Das ist die Kajute des Kapitans«, sagte Wiesel augenzwinkernd. »Mal sehen, ob er zu Hause ist.«
Wiesel offnete die Tur, und Hawkwood folgte ihm in die Kajute.
Sie war niedrig und hatte gro?e Bullaugen im Heck. Vom Deckbalken hing eine Laterne, die die sparlichen Mobel beleuchtete: einen Tisch, ein paar Stuhle und eine ziemlich ladierte Kommode. In der Koje lagen ein paar schmuddelige Decken auf der fleckigen Matratze.
»Wird aber auch Zeit, verdammt noch mal! Wir hatten dich schon aufgegeben!«, zischte jemand hinter Hawkwoods Rucken. Aus dem Halbschatten neben einem der Bullaugen trat eine Gestalt: fein geschnittene, gut erkennbare Gesichtszuge, kurzes graues Haar.
Hawkwood drehte sich intuitiv um und griff gleichzeitig nach dem Schlagstock unter seiner Jacke. Aber seine Reaktion kam zu spat, denn schon spurte er kalten Stahl an seiner Kehle und sah das breite Grinsen auf dem Gesicht des Gnomen.
»Ruhr dich nicht, Kumpel, sonst schlitz ich dir die Kehle auf! Der Abschaum da drau?en wird mit Vergnugen deine Innereien mit dem Loffel rauskratzen.«
Als Hawkwood trotz der Warnung den Kopf leicht zur Seite neigte, erkannte er Scully – den stiernackigen, glatzkopfigen Schlager, der sich mit Jago in der Kneipe angelegt hatte. Scully grinste triumphierend.
Und Hawkwood schoss ein Gedanke durch den Kopf, genauso schmerzhaft wie ein Messerstich.
Warum hat mich ausgerechnet mein ehemaliger Waffengefahrte Nathaniel Jago verraten?