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Die mit Messing beschlagene, zerschrammte alte Seekiste trug die Spuren vieler Kriege. Fruher hatte sie einem Major gehort, der bei dem Ruckzug nach Coruna gefallen war. Hawkwood hatte sie ersteigert, denn der Erlos der Versteigerung war der mittellosen Witwe des Gefallenen zugute gekommen.

Die Seekiste war mit Kriegserinnerungen voll gepackt.

Hawkwood klappte den Deckel auf. Ganz oben lag ein gekrummtes, einschneidiges Schwert, das in einer Scheide steckte, eine effiziente Waffe. Die scharfe Klinge war dazu geeignet, Knochen und Muskeln zu durchtrennen. Hawkwood nahm es sehr behutsam heraus und legte es zur Seite.

Darunter lag ein sorgfaltig gefalteter dunkelgruner Waffenrock mit schwarzen Tressen, der oft geflickt worden war.

Neben dem Waffenrock befand sich ein ebenfalls gefaltetes Paar grauer Kavallerie-Kniehosen, das an den Innenseiten mit Leder verstarkt war. Auch sie zeigten deutliche Spuren der Abnutzung. Die Farbe der einst karmesinroten Scharpe war verblasst und der Stoff zerschlissen.

Der schwere und warme Offiziersmantel darunter hatte Hawkwood wahrend der strengen Winter in Spanien vor Wind und Wetter geschutzt. Die Nachte waren manchmal so kalt gewesen, dass der Urin eines Mannes gefroren war, noch ehe er den Boden beruhrte.

Jetzt nahm Hawkwood ein langes, graues, an beiden Enden verschnurtes Wachstuch heraus. Er zogerte kurz, ehe er die Bander aufknotete.

Der Gewehrlauf glanzte hell im Licht der Kerze. Auf der Messingplatte am polierten Schaft war eingraviert: Ezekiel Baker & Son, Waffenschmied Seiner Majestat, London.

Viele Erinnerungen wurden in Hawkwood wach, als er das Gewehr wieder einwickelte und auf sein Bett legte. Mit diesem Gewehr hatte er den spanischen General und Gouverneur von Montevideo erschossen. Es hatte ihn nach Portugal und Spanien begleitet und ihm stets zuverlassig gedient. Wie einen kostbaren Schatz hatte er es gehutet und gepflegt und es sogar nachts an seiner Seite gehabt. Es war ihm naher gestanden als irgendeine Frau.

Die Seekiste enthielt noch mehr Kleidungsstucke und Ausrustungsgegenstande: Hemden, Hute, Gurtel und Stiefel; ein Etui mit Duellpistolen und Formen fur das Gie?en von Kugeln; Pulverbeutel, ein Pulverhorn, ein Bajonett, ein Fernrohr aus Messing – alles Zeugnisse eines langen Soldatenlebens.

Hawkwood nahm das Gewunschte heraus und legte die ubrigen Dinge – einschlie?lich Gewehr und Schwert – wieder in seine Seekiste zuruck. Dann zog er sich an.

Das Rats Nest war eine Spelunke in Shadwell, die Hawkwood keinesfalls als Treffpunkt – nicht einmal tagsuber, geschweige denn nachts – gewahlt hatte. Doch Jago muss Grunde fur seine Wahl gehabt haben, dachte er. Um nicht wie im Noah’s Ark durch seine Kleidung aufzufallen, hatte Hawkwood beschlossen, sich zur Umgebung passend auszustaffieren.

Der Mann, den er dann im Spiegel sah, hatte wenig Ahnlichkeit mit einem Bow Street Runner. Statt Hemd und Halstuch, des ma?geschneiderten Rocks, der eleganten Weste und den dunklen Kniehosen trug Hawkwood jetzt ein zerschlissenes braunes Hemd, eine schabige Wolljacke, eine ausgefranste, am Hosenboden glanzende Hose mit scharlachrotem Saum und ein Paar abgetretene Stiefel. Hawkwood hatte diese Stiefel einem toten franzosischen Offizier ausgezogen, denn franzosischen Stiefeln wurde gute Qualitat nachgesagt.

Dann ging er vor dem Kaminrost in die Hocke und rieb Asche auf seine Kleidung. Er loste seine Haarschleife im Nacken und rieb ebenfalls Asche in sein langes Haar. Er trat vor den Spiegel und betrachtete das Ergebnis. Niemand wurde ihn jetzt fur einen Gesetzeshuter halten. Eher fur einen Gelegenheitsarbeiter oder einen heruntergekommenen Veteran.

Zufrieden mit seiner Verkleidung steckte Hawkwood noch seinen Schlagstock in den Gurtel und verlie? das Zimmer. Uber die Hintertreppe gelangte er in die schmale Passage hinter dem Wirtshaus und verschwand ungesehen in der Nacht.

Hawkwood schlich au?erst vorsichtig durch die immer enger werdenden Gassen. Shadwell lag am ostlichen Ende des Ratcliffe Highway. Weder Lampen noch Fackeln leiteten ihn durch das Stra?engewirr. Er kam sich vollig verloren vor. Kein ehrlicher Mann wagte sich nachts in dieses Viertel.

Als Hawkwood das Klirren zersplitternden Glases horte, blieb er abrupt stehen und verschmolz mit den Schatten der Nacht. Er drehte das Gesicht halb zur Wand und lauschte. In einiger Entfernung prugelten sich zwei Betrunkene. Der Eine holte mit einer Flasche aus und schlug zu. Der Getroffene sackte in sich zusammen, und als sich der Mann am Boden krummte, trat ihn der andere Raufbold mit der Stiefelspitze brutal gegen den Kopf. Dann durchwuhlte er hastig die Taschen seines Opfers und torkelte davon, den Flaschenhals noch in der Hand.

Hawkwood ging an dem Mann, der jetzt in der Gosse lag, vorbei, ohne sich um ihn zu kummern. Sobald er verschwunden war, wurden Leichenfledderer wie Geier uber den Leblosen herfallen.

Die verwahrlosten, aneinander gebauten Holz- und Steinhauser waren Brutstatten fur alle moglichen Krankheiten. Erst vor kurzem hatte sich hier eine Typhusepidemie ausgebreitet, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die Infektionskrankheit aufs Neue ausbrach und noch mehr Menschenleben forderte.

Hawkwood war diese Gegend zwar nicht fremd, aber er hatte Muhe, sich im Labyrinth dieses Elendsviertels zurechtzufinden. Schlie?lich bog er in eine schmale Gasse ein und ging zum Fluss hinunter.

Am Ufer der Themse angekommen, entdeckte er am Ende des Kais sofort das ausgediente und abgetakelte Schiff. Ein Wald aus Masten reckte sich dem Vollmond entgegen, der wie eine leuchtende, runde Scheibe vor einem dunklen Samtvorhang hing. Uber dem Wasser lag ein dunner Nebelschleier, schaurig wie der Atem eines Drachens. In der gespenstigen Stille klang jedes Gerausch unnaturlich laut: das Scheuern des Schiffsrumpfs an der Kaimauer; das Knirschen einer Ankerkette, wenn die Flut am Schiff zerrte; das Klatschen der Segel gegen die Masten. Vom anderen Themseufer hallte der tiefe Ton einer Schiffsglocke heruber.

Es hie?, das abgetakelte Schiff habe vor Jahren fur die Ostindische Gesellschaft Elfenbein und Musselin transportiert und sei spater wegen einer zu geringen Ladekapazitat ausrangiert worden. Doch manche Leute waren der Meinung, das Frachtschiff habe Sklaven transportiert.

Jedenfalls war das Wrack fruher einmal ein schones Schiff gewesen, das stolz Gischt und Wellen getrotzt und seine Segel in einen azurblauen Himmel gereckt hatte. Jetzt lag es im Schlamm der Themse und faulte vor sich hin.

Niemand konnte sich an den Namen des einst stolzen Seglers erinnern. Die Buchstaben an dem geschwungenen Heck waren langst verblasst. Das Wrack diente jetzt als Unterschlupf fur allerlei Gesindel und wurde nur noch Rats Nest genannt.

Fur Streuner, heimatlose Seefahrer, ausgemusterte Matrosen der Ostindischen Gesellschaft – gro?tenteils Auslander in einem feindlich gesinnten Land – stellte der stinkende Schiffsbauch eine Art Schutz dar. Vollig mittellos in England gestrandet und ohne Kenntnis der Landessprache, hatten diese Manner keine Aussicht auf eine Passage in ihre Heimatlander. Als Fremde an fremden Gestaden hatten diese von der Gesellschaft Ausgesto?enen Zuflucht bei ihresgleichen – den Kairatten – gesucht und gefunden.

Hawkwood naherte sich dem Schiff mit au?erster Vorsicht. Irgendwo im Dunkeln horte er ein Wimmern – ob Tier oder Mensch, konnte er nicht ausmachen.

In der feuchten Luft hing ein widerwartiger Geruch, der nicht vom Fluss kam, sondern durch die Planken des Rumpfs drang. Je naher Hawkwood kam, umso penetranter wurde der Gestank. Als er uber die Gangway an Deck ging, traf ihn dieser pestilenzartige Geruch mit solcher Wucht, dass es ihm den Atem raubte – der Geruch menschlichen Elends.

Uberall an Deck standen provisorische, aus zerbrochenen Spieren, Leinenfetzen, Takelage und Webeleinen zusammengezurrte Unterkunfte: ein Gewirr aus Zelten, Hutten und Schuppen aus Treibholz, noch schabiger als die Lager der umherziehenden Kesselflicker.

Der Gitterrost am Bug war entfernt worden, und an der offen stehenden Luke fuhrte eine steile Leiter nach unten. Daneben hockte jemand, im schwachen Licht einer Petroleumfunzel kaum zu erkennen. Als sich Hawkwood der Gestalt naherte, stellte er fest, dass es sich um einen alten, ausgemergelten Chinesen handelte, der ihm seine klauenartige Hand entgegenstreckte. Hawkwood warf ihm eine Munze zu und stieg in das Loch hinunter.

Mit dem Leben auf See war Hawkwood bestens vertraut. Seine Reise uber den Atlantik nach Buenos Aires zahlte jedoch nicht zu seinen angenehmsten Erfahrungen. Das Leben unter Deck war hart gewesen. Voller

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