»Und der alte Mann? Ist der auch tot?«

»Der Uhrmacher?« Lee schuttelte wieder den Kopf. »Nein. Lebendig nutzt er uns mehr als tot.«

Aber Scully hat doch von drei Officers gesprochen, uberlegte Hawkwood. Was hat er damit gemeint?

Und plotzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

»Du warst es«, sagte er zu Scully. »Du hast die Postkutsche uberfallen.«

Als Exmatrose kannte Scully naturlich die Uniform eines Leutnants.

»Du hast den Kurier erschossen und ihm die Hand abgehackt.«

Scully grinste selbstgefallig. Das genugte Hawkwood als Antwort.

William Lee verzog das Gesicht. »Ja, leider ist es zu dieser exzessiven Gewaltanwendung gekommen. Wir konnten doch nicht zulassen, dass die Konstruktionsplane den Jungs von der Admiralitat in die Hande fallen. Oh, ich wei?, das Marineministerium ist im Besitz von Fultons fruheren Planen, aber die sind seitdem wesentlich verbessert worden. Wir wollen es euch doch nicht zu leicht machen. Alle Achtung vor eurem Spion. Er hat sich mit Napoleons Mannern eine regelrechte Hetzjagd geliefert. Wir hatten es nur einem glucklichen Zufall zu verdanken, dass wir ihm auf die Spur gekommen sind. Der Schmuggler, den euer Mann in St.Valery bestochen hat, um ihn mit nach England zu bringen, ist auch ein alter Freund von Scully. Er ist Gold wert, nicht wahr?«

»Und wer war dein Partner bei diesem Uberfall, Scully?«, fragte Hawkwood. »Wer hat den Wachmann auf der Kutsche erschossen? Gehorte er auch zu den Meuterern, wie du damals?« Dann sah Hawkwood William Lee an. »Oder waren Sie es?«

»Weder noch, Euer Ehren«, sagte Scully hohnisch und lachte gemein. »Du wurdest es mir nicht glauben, wenn ich es verriete. Wenn du wusstest …«

Jago? Um Gottes willen, doch nicht Nathaniel?

Hawkwood verwarf diesen schrecklichen Verdacht sofort wieder, denn Scullys Komplize konnte weder Lee noch Jago gewesen sein, weil die Reisenden den zweiten Rauber als sehr jung beschrieben hatten. Der Meister und sein Lehrling.

»Jetzt reicht’s!«, warnte Lee.

Hawkwood spurte, wie Scully den Griff auf seiner Schulter schmerzhaft verstarkte. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Blut, dachte er. Scullys Schlag hat mir die Lippen aufgerissen.

Da schnalzte Lee mit der Zunge. »Sehen Sie, Captain, da liegt der Hase im Pfeffer. Ich habe keine Lust mehr, Ihre Fragen zu beantworten. Und das hei?t, Sie werden sterben, ohne die Wahrheit zu erfahren.« Der Amerikaner zuckte bedauernd mit den Schultern. »Es tut mir Leid, Captain, aber mir bleibt keine andere Wahl. Sie sind zu einem Argernis geworden, und wir mussen jedes Risiko ausschlie?en.«

Wir?

»Aber, aber«, fugte Lee beruhigend hinzu. »Warum sind Sie denn so bedruckt? Immerhin haben Sie gute Arbeit geleistet und sind mit Ihren Ermittlungen sehr weit gekommen.«

Weit?, dachte Hawkwood. Nichts habe ich erreicht. Ich bin einer schon fast kalten Spur gefolgt und diesen Leuten in die Falle gegangen – eine todliche Falle.

Lee erhob sich vom Schreibtisch. »Jetzt bist du dran, Scully. Ich uberlass ihn dir.«

»Wir wissen, was ihr mit der Thetis vorhabt«, sagte Hawkwood schnell. Er war verzweifelt.

Lee schuttelte lachelnd den Kopf. »Nein, das wisst ihr nicht. Ihr glaubt nur, es zu wissen.«

»Und ich werde meinen Spa? mit dir haben!«, zischte Scully. »Das schwore ich dir.« Er griff an seinen Gurtel, und als Hawkwood erkannte, dass er keinen Dolch, sondern ein langliches metallenes Werkzeug herauszog, drehte sich ihm der Magen um. Scullys Spezialwaffe, die Ahle.

»Und sieh zu, dass du die Leiche dieses Mal verschwinden lasst«, ermahnte ihn Lee, die Hand schon auf dem Turknauf.

»Wir wollen nicht, dass der Tote entdeckt wird wie der andere. Das war schlampige Arbeit.«

»Keine Sorge«, sagte Scully und lachte glucksend. »Ich habe mir schon das richtige Grab fur ihn ausgesucht.«

»Was auch immer Sie planen, Lee«, machte Hawkwood einen letzten Versuch, »Sie werden nicht damit durchkommen.«

Der Amerikaner lachelte nur.

»Der Teufel wird Ihre Seele holen, Lee!«, rief Hawkwood. »Dafur werden Sie in der Holle schmoren.«

Der Amerikaner sagte uberrascht: »Der Teufel, Captain? Sollten Sie etwa Marlowe gelesen haben? Kenntnisse der klassischen Literatur sind fur einen simplen Gesetzeshuter eher ungewohnlich. Sie versetzen mich immer wieder in Erstaunen, wirklich. Schade, dass ich nicht fruher Ihre Bekanntschaft gemacht habe. Jetzt ist es leider zu spat.« Mit einem entwaffnenden Lacheln fugte er dann hinzu: »Wie sagte doch gleich der gute Dr. Faustus: ›Mein Herz ist so verhartet. Reue kann ich nicht empfinden.‹«

»Die Exekutive wird zu Land und zu Wasser Jagd auf Sie machen«, sagte Hawkwood. »Sie entkommen uns nicht und werden am Galgen enden.«

»Versuchen konnen sie es ja«, sagte Lee. »Aber dann wird es zu spat sein.« Er offnete die Kajutentur. »Ihr Diener, Captain. Ach, ubrigens, wussten Sie, dass Christopher Marlowe in Deptford gestorben ist. Seltsam, nicht wahr? Wegen unbezahlter Zeche kam der gro?e Dichter bei einer Messerstecherei ums Leben, wenn ich nicht irre. Was diesem Ort keine gro?ere Bedeutung verliehen hat. Aber wer wei?. Manchmal geht die Geschichte sonderbare Wege, nicht wahr?« Er steckte sich den Stumpen wieder zwischen die Lippen und verbeugte sich knapp. Dann schloss er die Tur hinter sich.

»Jetzt sind nur noch wir beide ubrig, Euer Ehren«, unterbrach Scully Hawkwoods wirre Uberlegungen und klopfte mit der Ahle auf seine Handflache. Seine Augen waren schwarz und ausdruckslos wie Kohle.

Dr. McGregor hat gesagt, Warlocks Kopf sei durchbohrt worden, musste Hawkwood unwillkurlich denken. Wahrscheinlich von einem Mei?el. Er starrte die spitze Ahle in Scullys Pranke an. Die Tatwaffe! Warum bin ich nur nicht fruher darauf gekommen?

»Dafur wirst du hangen, Scully. Und ein Festmahl fur die Krahen sein.«

»Komisch«, sagte Scully. »Dasselbe hat auch dein Kumpel gesagt. Und was ist mit ihm passiert?«

Hawkwood zerrte vergeblich an seinen Ketten. »Herrgott noch mal, Scully! Der Bastard arbeitet fur die Franzosen!«

»Na und?«

»Das sind unsere Feinde, falls du das vergessen hast.«

»Ich habe uberhaupt nichts vergessen, Euer Ehren. Weder die miserable Heuer noch den miserablen Fra?. Auch nicht die verdammten Arschkriecher, die Offiziere, oder das Auspeitschen. Bist du je ausgepeitscht worden, Captain Hawkwood? Nein, wahrscheinlich nicht. Und dafur soll ich der Koniglichen Marine dankbar sein? Warum glaubst du wohl, bin ich zu den Froschfressern ubergelaufen?« Scully hob drohend die Ahle. »Schluss damit. Mir reicht’s! Jetzt bist du dran.«

Ich habe nur eine Chance, dachte Hawkwood. Ich muss Scully angreifen. Er erwartet, dass ich zuruckweiche, aber Angriff ist die beste Verteidigung. Er spannte seine Muskeln an, und als Scully auf ihn zutrat, packte er mit beiden Handen die Stuhllehne und sprang auf die Fu?e. Scully wich grunzend zuruck. Hawkwood drehte sich um die eigene Achse und knallte Scully den Stuhl an die Hufte.

Wenn ich ihn aus dem Gleichgewicht bringe …

Doch Scully wich seitwarts aus und trat Hawkwood gegen den Oberschenkel. Weil der Runner seinen Sturz nicht mit den Handen abfedern konnte, prallte er mit dem Ellbogen zuerst auf den Boden. Ein hollischer Schmerz zuckte durch seinen Arm. Obszon fluchend beugte sich Scully uber ihn und zog jetzt ein Entermesser aus seinem Gurtel.

»Das war ein netter Versuch, Kumpel. Aber du bist bereits tot. Du wei?t es nur nicht. Zuerst schlage ich dir den Schadel ein, und dann zerhacke ich dich. Die Mullmanner bringen die Stucke flussabwarts und werfen sie zusammen mit dem anderen Dreck ins Wasser.«

Hawkwood konnte sich nicht bewegen. Sein rechter Arm war gelahmt. Er war so wehrlos wie eine auf dem Rucken liegende Schildkrote. Er versuchte, mit beiden Fu?en nach Scully zu treten, aber der Stuhl hinderte ihn daran.

Scully lachte hohnisch. »Hast wohl gedacht, du konntest mich uberrumpeln, wie?« Er jonglierte jetzt mit der Ahle.

»Dein Kumpel war zaher, als er aussah. Ich habe ihm die Ahle in den Kopf gerammt und dachte, er ware

Вы читаете Der Rattenfanger
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату