gebracht.

Mandrakes Lagerhauser lagen verstreut zwischen dem London Dock in Wapping, den West India Docks, nordlich der Isle of Dogs und den Grand Surrey Docks in Rotherhithe.

»Sieht aus, als hatten wir uns geirrt«, sagte Hawkwood enttauscht. »Lee wurde auf keinen Fall das Risiko eingehen, sein Unterseeboot in einem dieser Docks zu verstecken. Da herrscht zu viel Verkehr.«

James Read nickte bedruckt. »Ich furchte, Sie haben Recht. Nicht einmal unser Mr. Lee ware derart dreist. Obwohl wir die Gebaude trotzdem durchsuchen lassen sollten. Ich veranlasse die Flusspolizei, diskret Nachforschungen anzustellen.«

Noch immer ziemlich niedergeschlagen, sagte der Richter zu seinem Sekretar: »Danke, Mr.Twigg. Ihre Akten waren wie immer au?erst aufschlussreich. Aber mir scheint, wir mussen woanders nach Hinweisen suchen.«

Es irritierte ihn, als Ezra Twigg nicht reagierte, sondern fasziniert auf ein Dokument starrte. Sobald der Sekretar merkte, dass er beobachtet wurde, blickte er auf und sagte: »Verzeihen Sie, Sir.«

»Mr. Twigg, was ist mit Ihnen?«, fragte James Read besorgt.

Der kleine Mann blinzelte wie eine Eule. »Ahm … ich glaube, ich habe etwas entdeckt, Sir.«

»Und was konnte das sein, Mr. Twigg?«

Der Sekretar schwenkte triumphierend das Dokument in der Luft. »Da ist noch ein Lagerhaus, Sir.«

Der Oberste Richter packte Twigg derart hart am Arm, dass sein Sekretar zusammenzuckte.

»Es ist allein meine Schuld, Sir. Als ich eben noch einmal das Verzeichnis der Liegenschaften Seiner Lordschaft durchging, ist mir aufgefallen, dass der Holzplatz nicht aufgefuhrt ist.«

»Welcher Holzplatz?«

»Nun, Sir, als Lord Mandrake seine Geschafte in die neuen Docks verlagerte, hat er andere Liegenschaften verkauft. Dazu gehorten …« Twigg las vom Dokument ab: »… Lagerhauser am Griffin’s Kai, an der Battle Bridge, am Brewers Quay und am New Bear Quay. Und noch zwei Lagerhauser am Phoenis Kai, in Wapping und an der Trinity Street in Rotherhithe. Alle verkauft, Sir, alles aufgefuhrt, bis auf eins. Seine Lordschaft hat auch Holz aus dem Osten importiert. Seine Gesellschaft hatte dafur ein separates Lagerhaus mit dazugehorigem Holzplatz. Ich kann keinen Eintrag fur den Verkauf dieser Liegenschaft finden.«

»Und wo liegt dieses Lagerhaus, Mr.Twigg?«

Pause.

»In Limehouse, Sir.«

Einen Kilometer flussaufwarts von Deptford.

Der Oberste Richter las Hawkwoods Gedanken. »Nehmen Sie Sergeant Jago mit!«, befahl er.

»Wollen Sie nicht den Kapitan der Thetis warnen?«, erkundigte sich Hawkwood.

James Read dachte kurz nach. »Das konnte problematisch werden. Sollte Lee tatsachlich Freunde in hoher gestellten Positionen haben, ware Lee gewarnt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Und wir wollen auch keine unnotige Panik auslosen. Au?erdem glaubt Lee, Sie seien tot. Das konnte fur uns von Vorteil sein. Nein, Gentlemen, solange wir nicht wissen, wer Freund oder Feind ist, sind wir auf uns allein gestellt. Das hei?t, Hawkwood, Sie mussen Lee und sein Unterseeboot finden und ihn daran hindern, seinen teuflischen Plan auszufuhren. Unter allen Umstanden. Es gibt kein Pardon. Haben Sie mich verstanden, Hawkwood? Sie haben vollig freie Hand!«

»Na, denn mal los«, sagte Hawkwood. »Komm, Nathaniel. Es gibt Arbeit.« Er drehte sich noch einmal zu dem Obersten Richter um und fragte: »Wo konnen wir Sie kontaktieren?«

James Read uberlegte kurz. »Ich fahre nach Deptford. Dort konnen Sie mich erreichen.«

»Werden Sie den Prinzregenten warnen?«

»Ich werde mit seinen Beratern sprechen und ihnen vorschlagen, Seine Konigliche Hoheit moge seinen Besuch auf der Thetis bis zum nachsten Auslaufen verschieben. Und jetzt machen Sie sich auf den Weg.«

Nachdem Hawkwood und Jago das Amtszimmer verlassen hatten, sahen sich der Oberste Richter und sein Sekretar nachdenklich an.

»Ich furchte, Mr. Twigg«, flusterte James Read, »uns stehen schwere Zeiten bevor.«

Twigg nickte nur. Seine Augen hinter den dicken Brillenglasern funkelten. Die Jagd war eroffnet, da roch der kleine Mann Blut.

»Und das bedeutet«, fuhr James Read fort, »wir mussen alle uns zur Verfugung stehenden Mittel einsetzen. Gehen Sie noch einmal in Ihr Archiv, und bringen Sie mir alle Unterlagen, die wir uber Sir Charles Yorke, Admiral Bartholomew Dalryde, Generalinspekteur Thomas Blomefield und Colonel Congreve haben. Hier ist Verrat im Spiel, Mr. Twigg. Und Verrat ist eine Seuche, die ich auszurotten gedenke!«

William Lee neigte den Kopf uber die Blechschussel, tauchte beide Hande in das Wasser und bespruhte sein Gesicht mehrmals. Dann fuhr er sich durch das kurz geschnittene Haar. Tropfen kullerten uber seine Wangen und sein Kinn. Er griff nach dem Handtuch.

Im Spiegel musterte er sein Gesicht, sah die ihm vertrauten Linien, die grauen Schlafen, den Stoppelbart auf Wangen und Kinn. Wahrend er seine Haut trockentupfte, schweifte sein Blick durch das Fenster zu dem breiten grauen Strom.

Unwillkurlich stiegen Erinnerungen an seine Kindheit in ihm auf. Er war auf der Farm seiner Familie an den Ufern eines anderen gro?en Flusses, dem Delaware, in der kleinen hubschen Stadt Fort Penn, nur einen Tagesritt von Wilmington entfernt, aufgewachsen. Dort hatte er zusammen mit seinen Freunden die Bache, Buchten und Deiche erforscht – zu Fu? oder in einem Kanu aus Birkenrinde.

Bis zu jenem entsetzlichen Tag.

Fruh am Morgen war ein Reiterschwadron der Rotrocke uber die Farm hergefallen, hatte die Familie aus den Betten getrieben, ihnen kaum Zeit zum Ankleiden gelassen und dann seinen Vater Samuel und seinen altesten Bruder Robert durch die eingeschlagene Tur nach drau?en und zu der niedrigen Hofmauer gezerrt.

Ein Lieutenant hatte den Schuldspruch verlesen: Widerstand gegen die Krone, Unterstutzung der Rebellenarmee durch Proviant und Unterkunft. Sofortige Bestrafung. Noch ehe die Familienangehorigen das wahre Ausma? des Urteils hatten begreifen konnen, war der knappe Befehl des Lieutenants an das Schie?kommando zu horen gewesen und nur einen Herzschlag spater das Krachen der Musketen.

Die Rotrocke hatten die Leichen an der Mauer liegen lassen. In Lees Gedachtnis hatten sich zwei Gerausche fur immer eingegraben: die Marschschritte der abziehenden Soldaten und die schrillen Klageschreie seiner Mutter.

Anfangs war Lee von einem verzehrenden Rachedurst beherrscht worden. Sein Hass auf die britische Krone hatte wie Feuer in seiner Brust gelodert und sein Verlangen nach Rache nie nachgelassen. Im Verlauf der Jahre, als er reifer wurde, war aus dieser gluhenden Wut eine schwelende Glut geworden, und er hatte gelernt, den richtigen Augenblick abzuwarten. Nie hatte er einen Plan geschmiedet, wann und wie er den Schwur, seine Angehorigen zu rachen, in die Tat umsetzen wurde. Es war nur ein stummes Versprechen, dass irgendjemand irgendwo dafur werde bu?en mussen.

Und eines Tages war Robert Fulton, der Kunstler, Erfinder, Ingenieur, Selbstdarsteller, Philosoph und Revolutionar, in sein Leben getreten. Erst von da an hatte, in der wechselseitigen Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Freiheit und angefeuert von Fultons Genialitat, in ihm allmahlich ein Plan Gestalt angenommen, wie er seinen Rachedurst befriedigen konnte.

Das entfernte Lauten einer Schiffsglocke riss William Lee aus seinen unangenehmen Erinnerungen. Er betrachtete seine Hande und dachte an das Zittern, das ihn erfasste, als er die Nachricht aus dem winzigen Zylinder am Bein der Brieftaube genommen hatte. Der Kaiser hatte ihm die Mitteilung uberbringen lassen, dass die Zeit des Wartens vorbei sei.

Obwohl seit seiner Begegnung mit Napoleon Bonaparte mittlerweile vier Wochen vergangen waren, schien ihm, sie habe erst gestern stattgefunden.

An jenem fruhen Morgen hingen Nebelschleier uber der Seinemundung und hatten dem Ort ein tristes Aussehen verliehen. Eine seltsame Stille hatte auf ihm gelastet, nur vom schrillen Schreien der Wasservogel unterbrochen – perfekt fur den Probelauf: hei? und schwul im Sommer, windgepeitscht und eisig im Winter, vom Festland durch schlammige Wassergraben und tuckisches Sumpfland getrennt. Allein ein Gewirr behelfsma?iger

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