Jago, ebenfalls auf sein Ruder gestutzt, amusierte sich uber Hawkwoods Unbehagen.
Um moglichst unauffallig in das Lagerhaus eindringen zu konnen, hatten die beiden beschlossen, uber den Fluss zu rudern. Sechs Penny und Hawkwoods Ausweis hatten einen Fahrmann an der Anlegestelle Ratcliff Cross davon uberzeugt, ihnen sein Boot zu uberlassen.
Jetzt lie?en sie sich etwa funfzig Meter von den Limehouse Docks entfernt treiben. Hawkwood blickte uber seine linke Schulter in Richtung der westlichen Zufahrten zu den Kanalen und Buchten der ausgedehnten West India Docks. Dahinter wurde die Themse noch breiter und floss dann nach Suden in Richtung Deptford und Isle of Dogs.
Kurz nach Sonnenaufgang herrschte bereits reges Treiben auf der Themse. Leichter, Barken, Bumboote, Kutter und Kohlenschiffe dumpelten dicht gedrangt im Wasser und warteten auf eine Gelegenheit, ihre Ladung zu loschen und neue Fracht an Bord zu holen. Weiter unten ragten die hohen Masten der gro?en Handels- und Kriegsschiffe in den Himmel.
Am Ufer herrschte ebenso dichtes Gedrange. Landungsstege bogen sich unter dem Gewicht von Kohlensacken, Tabakballen, Holzbalken und von Kisten mit gackerndem und blokendem Vieh. Die Geruche spiegelten die Vielfalt der Handelsguter wider und vermengten sich mit den scharfen, atzenden Schwaden der Kalkbrennereien und Teerofen.
Plotzlich richtete sich Jago auf und deutete mit dem Kopf zum Ufer. »Land in Sicht, Cap’n.«
Hawkwood drehte sich und folgte Jagos Blick.
Das Lagerhaus unterschied sich nur durch ein Brett mit verblasstem Namen, das uber dem Kai angenagelt war, von den Nachbargebauden. Es lag direkt neben der Zufahrt zum Limekiln Dock mit seinen Kornspeichern und Lagern, wie sie uberall entlang des Flusses vom Tower bis Tilbury zu sehen waren.
Beide Manner griffen gleichzeitig nach den Rudern. »Na, so was«, murmelte Jago leise, als sie sich der Boschung naherten. »Schauen Sie mal da ruber.«
Ein schmaler Kanal und ein Ladekai trennten das zweistockige Gebaude von dem angrenzenden Lagerhaus. Am Ende der Fahrrinne, unter einem niedrigen Steinbogen, direkt in Wasserhohe war das Lagerhaus mit einem robusten Tor versehen.
Jago grinste. »Ist doch praktisch, oder? Denken Sie dasselbe wie ich?«
Hawkwood ruderte wortlos weiter zu einer verwitterten Treppe, die zum Kai hinauffuhrte. Als der Bug des Boots gegen die unterste Stufe stie?, zog er sein Ruder ein und griff nach seiner Jacke. Jago stand auf.
»Du bleibst hier, Nathaniel!«, befahl Hawkwood.
»Sagen Sie das noch mal«, murrte Jago.
Hawkwood drehte sich um, einen Fu? auf dem Dollbord.
»Ich gehe allein da rein.«
»Von wegen!«, wehrte sich Jago.
Als Hawkwood die Treppe betrat, schaukelte das Ruderboot gefahrlich. Jago hatte Muhe, das Gleichgewicht zu halten, und fluchte: »Herrgott noch mal!«
»Du musst hier Stellung halten«, sagte Hawkwood.
»Und wenn Sie Arger kriegen?«, fragte Jago wutend. »So, wie letzte Nacht, als Sie sich allein in diesem Rattennest rumgetrieben haben?«
»Gib mir eine Stunde. Sollte ich bis dahin nicht zuruck sein, dann benachrichtige Richter Read.«
»Und was passiert dann?«
»Er wei?, was zu tun ist.«
»Verdammt noch mal«, fluchte Jago wieder. »Sieht so Ihr gro?artiger Plan aus?«
»Ja. Es sei denn, du hast einen besseren.«
Jago starrte den Excaptain noch immer wutend an und schuttelte dann den Kopf. »Im Moment fallt mir keiner ein.«
Hawkwood griff unter seine Jacke, holte seinen Schlagstock hervor und gab ihn Jago. »Da, nimm den.«
»Was soll ich denn
»Vielleicht brauchst du ihn. Sollte mir etwas passieren, musst du den Richter benachrichtigen. Da konnte er dir ein paar Turen offnen.«
Nur widerstrebend nahm Jago den Schlagstock.
»Verlier ihn nicht«, ermahnte Hawkwood ihn. »Ich habe nur den einen.«
»Ich steck ihn mir in den Arsch. Da findet ihn keiner.«
Hawkwood grinste und stieg die Treppe zum Kai hoch. Der Exsergeant sah, wie der Runner sich entfernte, und brummte: »Hoffentlich wei?t du, was du tust, du verruckter Hund!«
Hawkwood hatte zwar kein gutes Gefuhl, Jago zuruckgelassen zu haben, aber es ware dumm gewesen, zu zweit in die Hohle des Lowen zu marschieren.
Weil er keine Zeit gehabt hatte, sich nach dem Treffen mit James Read umzuziehen, fiel er wenigstens in dieser Umgebung nicht auf. Jeder Dockarbeiter wurde ihn in diesem Aufzug fur einen Veteran halten. Also warf ihm niemand neugierige Blicke zu.
Nicht viele Manner fanden geregelte Arbeit am Fluss. Die meisten waren Hilfsarbeiter oder Schauerleute, die in den uberfullten, zum Ufer hinunterfuhrenden Gassen wohnten und vollig vom Schiffsverkehr abhangig waren. Das Be- und Entladen der Schiffe war harte Arbeit und erforderte mehr Muskelkraft als Hirn. Doch keiner der Manner beklagte sich, solange er sich damit ein Dach uber dem Kopf und das Essen auf dem Tisch leisten konnte.
Jetzt kam Hawkwood zu einem hohen Stapel Zuckersacke. Er hievte sich einen davon auf die Schulter und ging einfach weiter. Niemand protestierte. Der Sack eignete sich ausgezeichnet, sein Gesicht dahinter zu verbergen.
Noch immer hatte er keine Ahnung, wie er sich Zugang zu dem Lagerhaus verschaffen sollte. Er hoffte auf eine gunstige Gelegenheit, um sich da irgendwie reinschleichen zu konnen. In dem Moment entdeckte er ein paar Manner, die vor einer Kneipe herumlungerten. Uberall an den Kais gab es vor den Lagerhausern solche Schnapsbuden. Die Wirte besorgten den Mannern nicht nur Alkohol in jeder Form, sondern auch Arbeit auf den Docks. Doch nicht diese Kneipe hatte Hawkwoods Aufmerksamkeit erregt, sondern ein Mann, der eben mit einem Rucksack uber der Schulter aus der Tur trat. Das Gesicht kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte es nicht einordnen. Dann fiel es ihm wieder ein: Dieser Kerl hatte zusammen mit Scully am Tisch in der Arche Noah gesessen.
Das kann doch kein Zufall sein, dachte Hawkwood. Es blieb keine Zeit, sich weiter Gedanken daruber zu machen, denn der Mann ging in Richtung Holzplatz. Hawkwood folgte ihm vorsichtig, den Zuckersack noch immer auf der Schulter.
Einen nervenaufreibenden Augenblick lang glaubte er, der Kerl hatte gemerkt, dass er verfolgt wurde, denn am Ende des Ladekais blieb er abrupt stehen und sah sich um. Hawkwood wandte sich schnell ab und beobachtete dann, dass der Mann weiterging. Er ist vorsichtig, dachte Hawkwood. Er vergewissert sich, dass ihm niemand folgt, und das ist suspekt.
Die beiden naherten sich dem Ende des Kais. Das Lagerhaus und der Holzplatz lagen direkt dahinter. Hier hielten sich nicht viele Menschen auf. Plotzlich bog der Mann zwanzig Schritte vor Hawkwood in einen Durchgang ein. Hawkwood blieb kurz stehen, ruckte den Sack auf seiner Schulter zurecht und bog um die Ecke. Dort fuhrte eine Holztreppe nach unten zu einer Tur. Der Mann stand davor, den Rucksack zu seinen Fu?en, und steckte einen Schlussel ins Schloss. Als Hawkwood mit der Stiefelspitze gegen die oberste Stufe stie?, blickte der Mann auf. Hawkwood konnte sein Gesicht nicht mehr abwenden. Die aufgerissenen Augen und der erschrockene Ausdruck des Kerls verrieten ihm sofort, dass er erkannt worden war.
Sofort schleuderte Hawkwood den Zuckersack nach unten. Er prallte gegen die Brust des Mannes und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Das Messer, das er aus dem Gurtel gezogen hatte, schlidderte uber den Boden. Hawkwood kletterte schnell hinunter und trat ihm kraftig zwischen die Beine. Er stie? einen gurgelnden Laut aus, sank in sich zusammen und presste die Hande auf seinen Unterleib. Hawkwood hob das Messer auf und druckte ihm die Spitze unter das unrasierte Kinn.
»Na, Kumpel, ist das eine Begru?ung fur einen Gesetzeshuter?«
Anstelle einer Antwort kam nur ein leises Wimmern.
Hawkwood buckte sich. »Was hast du gesagt? Ich habe es nicht verstanden.«
Noch ein schmerzvolles Stohnen.