Hawkwood seufzte. »Also gut. Fangen wir mit deinem Namen an.«

»S … Sparrow«, wisperte der Mann. »W … Will Sparrow.«

»Du bist ein Kumpel von Ahle«, sagte Hawkwood.

Sparrow starrte zu ihm hoch. »A … Ahle ist tot.«

»Das wei? ich«, knurrte Hawkwood. »Ich war dabei, als er starb.«

Sparrow wurde vor Angst aschfahl.

»Also«, sagte Hawkwood, »was hast du hier in dieser Gegend zu suchen? Machst du Botengange fur William Lee? Uberbringst du ihm die Nachricht, dass Ahle tot ist, wie? Ist es so, Sparrow? Ist Lee da drin?« Hawkwood zog den Rucksack zu sich heran und steckte eine Hand hinein. Er ertastete ein paar Flaschen, einen Laib Brot und etwas, das sich wie ein Stuck Kase anfuhlte. »Ist das etwa das Fruhstuck fur eure Bande?«

Hawkwood druckte Sparrow die Messerspitze so fest an den Hals, dass ein Tropfen Blut herausquoll. »Ich glaube, wir sollten uns mal unterhalten, Kumpel. Unter vier Augen, wo uns niemand hort. Was haltst du davon?«

Sparrow blinzelte angstlich, rollte die Augen und stie? einen leisen Zischlaut aus. Da merkte Hawkwood, dass Sparrow an ihm vorbei zur Tur starrte. Der Runner drehte sich zu spat um. Er ahnte einen Schatten uber seinem Kopf, horte ein leises Gerausch und dann traf ihn hinter dem rechten Ohr ein Schlag, der seinen Schadel explodieren lie?.

Noch im Fallen dachte er: Seltsam, dass ich mich zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Stunden uberrumpeln lasse. Das wird allmahlich zu einer hasslichen Angewohnheit. Oder werde ich fur diese Art Spielchen zu alt? Und sein zweiter Gedanke war: Hat der Schlag etwa auch meinem Geruchssinn geschadet? Er hatte schworen konnen, dass er einen schwachen, aber unverkennbaren Zitronenduft gerochen hatte.

Dann verlor er das Bewusstsein.

17

Hawkwood machte muhsam die Augen auf. Da sah er die Ratte. Ein riesiges Biest, mindestens funfzig Zentimeter lang, von der Nase bis zum Schwanz. Weil es in den Lagerhausern reichlich Nahrung gab, war sie fett und hatte ein glanzendes Fell. Furchtlos richtete sich die Ratte auf, hob die Vorderpfoten und schnupperte mit zuckenden Schnurrhaaren. Mehr neugierig als vorsichtig lie? sie sich wieder auf alle viere fallen und huschte uber den Boden. Zwei Meter von Hawkwood entfernt, blieb sie sitzen und sah ihn mit kleinen glanzenden Augen erwartungsvoll an.

Als Hawkwood eine Beruhrung an der Schulter spurte, zuckte er instinktiv zuruck und bereute diese heftige Bewegung sofort, denn ein stechender Schmerz durchfuhr ihn.

»Sachte, mein Junge, sachte«, redete jemand leise und beruhigend auf ihn ein. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf.«

Arme legten sich um seine Schultern, richteten ihn auf, bis er mit dem Rucken an die Wand gelehnt dasa?. Er fasste sich an den Hinterkopf und zuckte wieder zusammen, als er die blutverkrustete Platzwunde beruhrte. Vorsichtig hob er den Kopf.

»Ich nehme an, Sie sind Mr.Woodburn«, sagte der Runner.

Der altere Mann blickte zuerst angstlich auf ihn hinunter, dann lachelte er. »Ihren Namen kenne ich leider nicht, Sir. Denn ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.«

»Ich hei?e Hawkwood.«

»Nun, Mr. Hawkwood, was fuhrt Sie in meine bescheidene Unterkunft?«

»Ich habe Sie gesucht«, sagte Hawkwood.

»Ach, tatsachlich?«, erwiderte der alte Mann.

»Ich bin einer der Special Constables, ein so genannter Runner.«

Der Hoffnungsschimmer, der kurz in Woodburns Augen aufflackerte, wich gleich wieder einem Ausdruck der Resignation. Der Uhrmacher musterte Hawkwoods unrasiertes Gesicht, das strahnige Haar, die verdreckte Kleidung, und nickte weise.

»Nun, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, mein Junge. Ich wunschte mir allerdings, wir waren uns unter gunstigeren Umstanden begegnet.« Dann machte er eine einladende Geste. »Setzen Sie sich aufs Bett, damit ich Ihre Kopfwunde begutachten kann. Ich nehme an, Sie sind denselben Grobianen in die Hande gefallen, die mich hier gefangen halten.«

Wahrend der alte Mann Hawkwood beim Aufstehen half und ihn zum Bett fuhrte, sah sich der Runner um. In dem kleinen Verlie? gab es au?er einer Pritsche in der Ecke nur noch einen Tisch und einen Stuhl. Auf dem Tisch standen eine Schale, ein Krug und ein Blechbecher, daneben ein Teller mit Brot und Kase, Proviant, den Sparrow in seinem Rucksack gehabt hatte. Durch ein kleines, vergittertes Fenster hoch oben in der gegenuberliegenden Wand fiel ein Sonnenstrahl. Hatte Hawkwood es nicht besser gewusst, ware er sich wie in einer Zelle in Newgate vorgekommen.

Josiah Woodburn klopfte auf die Pritsche. »Setzen Sie sich, mein Junge. Setzen Sie sich.«

Wahrend der Uhrmacher seine Wunde untersuchte, machte sich Hawkwood ein Bild von dessen Zustand. Sein Gesicht war blass, sein Rock und seine Kniehose wirkten zwar ordentlich, waren aber stellenweise schmutzig. Hawkwood erkannte in ihm einen Mann, der auch unter widrigsten Umstanden bemuht war, seine Wurde und seine Fassung zu bewahren.

Josiah Woodburn schnalzte mitfuhlend mit der Zunge. »Mir scheint, Sie haben schon ein paar Kriege mitgemacht. Aber auch diese Verletzung werden Sie uberleben. Es ist nur eine Platzwunde.« Dann tatschelte er vaterlich Hawkwoods Knie. »Nun erzahlen Sie mal, wie Sie mich gefunden haben.«

Hawkwood wollte gerade anfangen zu erzahlen, als der alte Mann die Hand hob und sagte: »Erst muss ich mich um Archimedes kummern. Er ist ein Qualgeist, solange er nicht sein Fruhstuck bekommt.«

Archimedes? Hawkwood brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass die Ratte gemeint war. Das Nagetier sa? tatsachlich noch da, zuckte mit den Schnurrhaaren und starrte die beiden Manner keck, mit funkelnden Augen an. Der alte Mann brach ein Stuck Kase ab und warf es auf den Boden. Die Ratte sprang hinterher, biss in den Brocken und verschwand damit durch einen schmalen Spalt in einer der Ecken.

»So«, sagte der Uhrenmacher zufrieden, »jetzt wird sie uns nicht mehr belastigen. Nun erzahlen Sie, wie Sie mich gefunden haben. Ist Officer Warlock die Flucht gelungen?«

Hawkwood fuhlte sich, als hatte Reuben Benbow ihm einen Aufwartshaken verpasst. »Warlock war hier?«, fragte er und starrte den Uhrmacher fassungslos an.

»Ja, naturlich. Vor seiner Flucht haben wir …«

Der alte Mann verstummte, als er den Ausdruck in Hawkwoods Gesicht sah.

Hawkwood fasste sich wieder und hakte nach: »›Vor seiner Flucht‹, was hei?t das?«

Erst als Josiah Woodburn nach Luft schnappte, merkte Hawkwood, dass er dessen Handgelenk mit schmerzhaftem Griff umklammert hatte. Er lie? es sofort los.

»Aber ich dachte, die Behorden hatten Sie hierher geschickt, nachdem Officer Warlock …«

»Officer Warlock ist tot«, sagte Hawkwood. »Diese Schufte haben ihn ermordet.«

Der Uhrmacher fragte entsetzt: »Und wie sind Sie …«

»Ich glaube, diese Frage sollte ich Ihnen stellen«, entgegnete Hawkwood und wartete geduldig, bis sich Woodburn so weit gefasst hatte, dass er die Geschichte seiner Entfuhrung erzahlen konnte. Wie sich herausstellte, war Runner Warlock auf die Spur des Uhrmachers gesto?en, indem er Lord Mandrakes Kutscher befragt hatte. Davor war Warlock von Quigley in Woodburns Werkstatt berichtet worden, er habe den Master in einer Kutsche mit dem Familienwappen Seiner Lordschaft gesehen. Warlock war daraufhin zum Limehouse Dock gegangen, hatte sich irgendwie Zugang zum Lagerhaus verschafft und war dann Lee und seinen Konspiranten in die Hande gefallen. Damit waren viele Fragen beantwortet, bis auf zwei: Wie war es Runner Warlock gelungen, von hier zu fliehen, und warum hatte er den Uhrmacher nicht mitgenommen?

»Ihrem Kollegen die Flucht zu ermoglichen war kein Problem, Officer Hawkwood«, erklarte Josiah Woodburn sachlich. »Ich habe ihm einfach die Tur geoffnet.«

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