Er ging in die Knie.

Sparrow schob den Lauf nach oben, druckte ihn gegen Hawkwoods Schadel und zwang ihn, den Kopf zu senken.

»Gro?er Gott, nein!«, flehte der Uhrmacher.

Sparrow lachte. Sein Lachen klang wie das Klappern kleiner Knochen in einem Blechbecher.

»Leb wohl, Captami«, sagte Sparrow.

»Verdammte Schei?e!«, fluchte Jago und sah wohl zum hundertsten Mal auf seine Taschenuhr. Wo, zum Teufel, bleibt Hawkwood, dachte er. Die vereinbarte Stunde war langst verstrichen. Jago war ungeduldig wie eine gefangene Raubkatze am Kai auf- und abgetigert, hatte weiter gewartet und versucht, das ungute Kribbeln in seinem Magen, das ihn immer bei heranziehender Gefahr befiel, zu ignorieren. Inzwischen war Jago fuchsteufelswild. Er war wutend auf Hawkwood, auf die ganze Welt, aber vor allem auf sich selbst, weil er Hawkwood allein hatte losziehen lassen. Aus Erfahrung wusste er, dass jedes Mal, wenn es irgendwo Arger gab, Hawkwood in die Geschichte hineingezogen wurde – so, wie in diesem elenden Rattennest. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Nur durch einen glucklichen Zufall war Jago noch rechtzeitig aufgetaucht und hatte den Captain retten konnen.

Aber ich habe ihn nicht buchstablich aus dem Feuer gezogen, damit er sofort wieder seine Nase in Dinge steckt, die ihn nichts angehen, dachte Jago wutend. Ja, gut, der Mann ist Polizist, aber lernt er denn nie etwas dazu, verdammt noch mal?

Schei? drauf! Ich warte nicht langer. Was hat der Captain gesagt, soll ich tun, falls er nicht wieder auftaucht? Ich soll Richter Read verstandigen? Jago schuttelte verzweifelt den Kopf. Wenn der Captain glaubt, dass ich zu Richter Read renne, wenn es kritisch wird, so hat er sich getauscht. Jago buckte sich, vertaute das Boot an dem Ring am Kai und stapfte fluchend durch das hektische Treiben auf dem Hafendamm.

»Nein! Warte!«

Sparrows Finger verkrampfte sich am Abzugshahn.

»Verdammt! Ich sagte, warte! Schie? nicht!«, befahl Lee.

Der Druck an Hawkwoods Schadel lie? langsam nach, sodass er den Kopf heben konnte.

»Wir haben nur Officer Hawkwoods Aussage, dass die Behorden Lord Mandrake verdachtigen, an unserem Komplott beteiligt zu sein. Aber dafur gibt es keine Beweise, es sind nur Vermutungen. Es konnte doch ein Zufall sein, dass Seine Lordschaft ausgerechnet jetzt nach Norden gereist ist. Und es ware doch auch moglich, dass wir sein Lagerhaus ohne sein Wissen benutzen. Lord Mandrake mit seinen machtigen Freunden in der Regierung ist ein sehr nutzlicher Verbundeter, auf den wir nicht verzichten konnen. Wenn wir Hawkwood hier toten und seine Leiche entdeckt wird, gibt es eine Verbindung zu Lord Mandrake. Wenn er jedoch spurlos verschwindet, was dann? Ich sage es dir, Sparrow: Dann haben sie nichts gegen uns in der Hand. Wenn seine Bow-Street-Kollegen nach ihm suchen, landen sie in einer Sackgasse, und die Spur wird kalt. Und wir konnen weiterhin mit Lord Mandrakes Mitarbeit rechnen. Es ware also kluger, Captain Hawkwoods Leichnam in einem ganz besonderen Grab zu bestatten.«

»Und wo soll das sein?«, fragte Sparrow, und dann dammerte es dem Matrosen. »Herrgott, wollen Sie ihn etwa mitnehmen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«

Lee zuckte mit den Schultern. »Die Idee gefallt mir zwar nicht besonders, aber sie macht Sinn. Wir nehmen ihn flussabwarts mit und werfen seine Leiche spater ins Wasser.«

Sparrow dachte angestrengt nach. »Ich erschie?e ihn also jetzt, und wir nehmen seine Leiche mit an Bord? Na gut, ist mir auch recht«, willigte er ein und druckte die Pistole wieder an Hawkwoods Kopf.

Lee seufzte. »Ich habe keine Lust, seine Leiche an Bord zu zerren und durch die Luke zu hieven, Sparrow. Da drin ist es schon eng genug. Und schenk dir deine komische Miene, Sparrow! Ich habe meine Entscheidung getroffen, und damit basta! Grame dich nicht, du kriegst schon noch deine Chance. Fessele ihm jetzt die Hande. Mademoiselle de Varesne wird ihn bewachen.«

Mit einem vernichtenden Blick fuhrte Sparrow den Befehl aus.

»Und was haben Sie mit Master Woodburn vor?«, fragte Hawkwood, als er gefesselt war und Sparrow seine Pistole wieder in der Hand hatte.

»Keine Sorge, ihm passiert nichts, solange Sie tun, was ich Ihnen sage. Bring ihn an Bord, Sparrow. Na, los!«

Hawkwood kletterte – Sparrows Pistole im Kreuz – an Deck des Unterseeboots, das leicht unter seinem Gewicht schwankte.

»Sie wissen, was zu tun ist?«, fragte Lee die Franzosin.

»Naturlich«, sagte sie und nickte.

»Dann treffen wir uns spater, wie vereinbart.« Jetzt zog Lee seine Pistole und deutete damit auf die Taue. »Ich halte ihn in Schach. Leinen los, Mr. Sparrow!«

Hawkwood warf einen Blick uber die Schulter. Auf Josiah Woodburns Gesicht lag ein merkwurdiger, beinahe gehetzter Ausdruck. Wieder beschlich Hawkwood das Gefuhl, etwas ubersehen zu haben. Aber was wollte der alte Mann ihm mitteilen? Er kam einfach nicht darauf, doch er spurte, dass er diesen Gesichtsausdruck nie vergessen wurde. Sein Blick schweifte zu Catherine de Varesne.

»Leb wohl, Matthew«, verabschiedete sie sich lachelnd.

»Auf Wiedersehen in der Holle!«, sagte Hawkwood.

Sie neigte ihren Kopf leicht nach vorne, so als wurde sie diese Moglichkeit durchaus in Betracht ziehen. »Ich freue mich schon darauf.« Dann drehte sie sich um.

Sparrow stie? das Boot mit dem Ruder vom Kai ab. Ruhig wie ein Fisch im Wasser glitt das Unterseeboot durch das Tor in die Fahrrinne und dann in den Fluss.

Jago sperrte mit einem der Dietriche, die er dem Iren Willie Lonegan abgenommen hatte, die Tur zum Lagerhaus auf. Mit den Regeln der eingeschworenen Verbrechergilde in London nicht vertraut, war Willie eines Nachts in ein Stadtpalais am Eaton Square eingebrochen und hatte eine Schmuckkassette mit den Familienerbstucken der Hausherrin mitgenommen.

Dazu gehorten ein mit Rubinen besetztes Ohrgehange, drei Paar Perlenohrringe und ein Diamantkollier. Das Schicksal ereilte ihn, als er seinen erfolgreichen nachtlichen Beutezug in Mistress Lovejoy’s Pensionat fur junge Damen in der Bedford Street feierte und im Rausch vor seiner willfahrigen Bettgenossin damit prahlte. Willie war kaum Zeit geblieben, in seine Kniehose zu schlupfen, so schnell hatte man ihn zu Jago geschleppt, der ihm kategorisch die geltenden Regeln fur sein Viertel erklarte. London sei sein Revier und kein dahergelaufener irischer Bauer gehe ohne seine Erlaubnis in seinem Revier auf Beutezuge. Die Bestrafung erfolgte an Ort und Stelle. Willie wurde sein Werkzeug sowie der Rest seiner Beute abgenommen und beide Daumen abgehackt. Die nutzlichen Dietriche hatte Jago in weiser Voraussicht behalten.

Vielleicht war das keine so gute Idee, dachte Jago, als er uber die Turschwelle trat. Hatte ich nur statt meines Knuppels und des Schlagstocks des Runners eine Pistole eingesteckt. Eine Ratte huschte uber seine Fu?e. Das Lagerhaus kam ihm unnaturlich ruhig, ja verlassen vor. Er bog um eine Ecke und sah vor sich einen langen dunklen Gang. Er spurte ein Kribbeln im Nacken, wie immer ein Zeichen drohender Gefahr. Oft genug hatte er eine ahnliche Situation im Krieg und in den dunklen Gassen des Elendsviertels erlebt. Aber hier hatte er das Gefuhl, als wurde der Leibhaftige personlich auf seinen Schultern hocken. Hier herrscht das Bose, das wusste er sofort.

»Ist heute nicht ein verdammt schoner Morgen, Officer Hawkwood? Was meinen Sie?«, grinste William Lee, steckte sich einen Stumpen in den Mund und paffte genie?erisch.

Hawkwood antwortete nicht. Er sa? mit vorne gefesselten Handen auf Deck, den Rucken an den Schandeckel gelehnt und starrte die Pistole in der Hand des Amerikaners an. Er fragte sich, ob er Lee uberwaltigen konnte, ohne eine Kugel in den Kopf zu bekommen.

So, wie ich gefesselt bin, habe ich wohl keine Chance, uberlegte er. Au?erdem ist da noch Sparrow an der Ruderpinne. Der Matrose hatte den Mast aufgerichtet und die Segel gesetzt. Jetzt trieb sie eine leichte Brise nahe am ostlichen Ufer stromabwarts. Mill Way lag backbord, Wells’s Yark steuerbord am gegenuberliegenden Themseufer.

Als das Boot am Ende der Fahrrinne aus dem Lagerhaus in den Fluss eingeschwenkt war, hatte Hawkwood

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