am Ruder, zwei waren auf Deck. Der eine sa? mit dem Rucken zum Heck am Schandeckel. Jago schimpfte und wollte schon das Fernrohr senken. Da drehte sich der Mann am Ruder plotzlich um, als hatte er gespurt, dass er beobachtet wurde. Jago erstarrte, als er das Gesicht erkannte. Dann fluchte er. Will Sparrow!

Jago richtete das Fernrohr schnell auf die beiden anderen Manner, doch in diesem Augenblick neigte sich das Schiff seitwarts, und das Segel schob sich vor die Linse. Jago fluchte wieder, starrte erneut durch das Fernrohr, aber er konnte keinen Blick auf die beiden anderen Manner werfen. Jago musste schnell eine Entscheidung treffen.

Und zum zweiten Mal an diesem Morgen nahm er seine Beine unter den Arm und rannte los.

18

»Narwal?«, wiederholte Hawkwood verstandnislos.

Lee streichelte zartlich das Schott. »Ja, der monodon monoceros. Das ist ein kleiner, nur vier bis funf Meter langer Wal, der den Atlantik und vor allem das Nordliche Eismeer bewohnt. Er hat ein einzigartiges Merkmal: ein gewaltiger, leicht gedrehter Sto?zahn ragt aus seiner Stirn. Sie haben doch schon von dem sagenhaften Einhorn gehort, diesem Fabelwesen in Pferdegestalt mit dem Horn in der Stirnmitte, Captain Hawkwood? Das unicornos marinimi, das Einhorn der Meere. Ein Sinnbild gewaltiger Kraft – klein, schnell und wendig greift es die Machtigen an, trotzt allen Gefahren, richtet ein Blutbad an und hat keinen ebenburtigen Kampfer.« Lee lachelte, als er hinzufugte: »Diese kleine Freude habe ich mir gegonnt, weil ein solcher Name doch romantischere Vorstellungen weckt als ein Tintenfisch, finden Sie nicht?«

Hawkwood schwieg.

Er schaute sich um. Lee stand neben ihm auf der kleinen Flache unterhalb des Turms. Nur dort konnte man aufrecht stehen. Das Deck war zwar flach, aber der Schiffsrumpf wolbte sich wie Rippen eines Fisches uber ihnen und war voll gestopft mit einem Durcheinander aus Hebeln, Kurbeln und Zahnradern, wie er bereits auf den in Warlocks Schlagstock versteckten Zeichnungen gesehen hatte. Er merkte sofort, dass das Innere des Boots kleiner war, als die Au?enma?e vermuten lie?en.

»Sie hat einen doppelten Rumpf«, erklarte Lee und tatschelte das Schott. »Dadurch ist sie wasserdicht und bietet Stauraum fur Ballast.« Jetzt klopfte Lee mit dem Fu? auf den Boden. »Der liegt da drunter. Viel brauchen wir nicht, etwa zehn Pfund genugen.« Dann deutete Lee auf einen kleinen Schwengel. »Damit wird Wasser reingepumpt, dann sinken wir. Wasser raus, wir tauchen auf und schwimmen auf der Oberflache. Wie Fische im Meer. Je nachdem, ob sie ihre Schwimmblasen ausdehnen oder zusammenziehen, vergro?ert oder verringert sich das Volumen des Fisches, und er sinkt oder steigt empor.«

Lee war wie ein Kind, das stolz sein neues Spielzeug vorfuhrt. Er erklarte Hawkwood die Funktionen des Steuersystems, angefangen von den Hebeln, die die Schaufeln am Bug und am Heck antrieben – er nannte sie Flugel –, bis zu den Kurbeln, mit denen die horizontalen und vertikalen Ruder ausgerichtet wurden. Die Tiefe zeigte ein primitives Barometer an, die Richtung ein kleiner Kompass. Er deutete mit dem Kopf auf eine Art Kupferkugel am Heckschott. »Das ist unser Luftreservoir; es hat ein Raumma? von sieben Kubikmetern und versorgt vier Mann und zwei Kerzen funf Stunden lang mit Luft. Wir haben es mit Sauerstoffflaschen versucht, aber die nehmen zu viel Platz weg. Mit diesem System kann ich jederzeit Luft ins Boot lassen.«

Vier Manner! Hawkwood versuchte sich vorzustellen, wie es ware, mit vier Mannern in dieser Enge eingepfercht zu sein. Jetzt stand er nur mit Lee hier drinnen und musste bereits gegen aufsteigende Platzangst kampfen. Auch der Geruch war penetrant und machte das Atmen muhsam, wie Bilgenwasser im Kielraum eines Schiffs.

Lee grinste uber Hawkwoods Gesichtsausdruck. »Ist es hier nicht gemutlich? Aber keine Bange! Wir bleiben hochstens ein oder zwei Stunden unter Wasser. Im Hafen von Le Havre war ich mal sechs Stunden hier drin. Den Tag werde ich nie vergessen! Aber das ist nichts im Vergleich mit der Mute.«

»Mute?«, wiederholte Hawkwood wieder verstandnislos.

»Fultons neue Konstruktion. Er hat mir erzahlt, sie wird viermal gro?er als dieses Boot. Wahrscheinlich kann man damit dann zehn oder zwolf Stunden unter Wasser bleiben.«

Als Hawkwood diese neue, erschreckende Dimension zu begreifen versuchte, kam Sparrow die Leiter herunter.

»Sie ist bereit«, verkundete er.

Lee nickte. »Sehr gut. Officer Hawkwood, Sie setzen sich dort druben hin. Fessele seine Hande an diese Strebe. Wir wollen doch nicht, dass Sie hier drin frei herumlaufen, oder?« Lee grinste. »Und wenn du es unserem Gast moglichst bequem gemacht hast, kannst du die Luke schlie?en und dich an die Pumpe stellen.«

Hawkwood hielt sich am Schott fest und sah zu, wie Sparrow die Narwal zum Tauchen bereitmachte.

Mit einem lauten, metallischen Gerausch wurde die Luke geschlossen. Dieser Klang horte sich so endgultig an, dass sein Mund fast austrocknete. In einem Anflug von Panik dachte er: So muss es sein, wenn man lebendig begraben wird. Und dann merkte er, dass im Boot nicht absolute Dunkelheit herrschte, sondern grunliches Licht durch mehrere schmale Bullaugen fiel.

Lee beobachtete ihn amusiert. »Dachten Sie etwa, Sparrow und ich verfugten uber ubernaturliche Krafte, Captain? Dass wir sogar im Dunkeln sehen konnen? Kerzen verbrauchen Luft, mein Freund, und Luft ist kostbar. Im Deck sind mit Klappen versehene Bullaugen, etwa funf Zentimeter im Durchmesser und zweieinhalb Zentimeter tief. Sollte das Glas brechen – was unwahrscheinlich ist – schlie?en sich die Klappen automatisch und lassen kein Wasser durch. Dieses Licht reicht fur unsere Bedurfnisse. Ich kann die Zeit auf meiner Uhr und die Richtung auf dem Kompass erkennen. Und sollte eine Sonnenfinsternis eintreten, so habe ich eine Laterne an Bord.« Lee grinste zufrieden. In dem Halbdunkel leuchteten seine Zahne, als waren sie aus Elfenbein geschnitzt.

Doch Hawkwood konnte sich kein Lacheln abringen.

Lee stellte sich in den Kommandoturm, klappte einen kleinen Sitz herunter, setzte sich darauf und presste das Gesicht an eines der vier kleinen, rechteckigen Bullaugen, das die Sicht nach vorne ermoglichte. Die anderen drei waren in dem Turm achtern, backbord und steuerbord eingelassen. Sie boten keinen Rundumblick, aber Lee konnte die Position seines Boots und die anderer Schiffe ausmachen.

»Fertig, Sparrow?«

»Sie sind verruckt, Lee«, sagte Hawkwood. »Glauben Sie etwa, niemand wird bemerken, dass das Boot untertaucht?«

Lee wandte kurz den Kopf und entgegnete schulterzuckend: »Bemerkt wird es wahrscheinlich, aber bevor ein Bootsfuhrer reagieren kann, sind wir langst nicht mehr zu sehen. Er wird glauben, er sei einer Fata Morgana aufgesessen.«

Sparrows Hande lagen auf dem Pumpenschwengel.

Lee schaute wieder durch das Bullauge nach vorn.

Das Boot ist trotz all dieser Vorkehrungen Gefahren ausgesetzt, dachte Hawkwood. Nachdem das Segel gerafft, der Mast an Deck befestigt und die Turmluke geschlossen ist, sieht die Narwal wie ein unbemannt dahintreibendes Boot aus und konnte Flusspiraten anlocken. Lee setzt auf den Uberraschungseffekt und auf die Geschwindigkeit, mit der das Boot untertauchen kann. Fulton hat die Nautilus innerhalb von zwei Minuten tauchen lassen konnen. Lee hat die Konstruktion so verbessert, dass dafur jetzt nur noch neunzig Sekunden notig sind. Eine Ewigkeit fur die Manner an Bord.

Lee hielt wie immer in kritischen Situationen die Luft an. Er bemuhte sich langsam auszuatmen, ohne die Augen vom Bullauge zu nehmen. So weit er erkennen konnte, trieb wegen der Flaute etwa hundert Meter vom Bug entfernt ein Kohlenschiff auf dem Fluss. Von seinem so tief gelegenen Blickwinkel aus krauselten nur leichte Wellen das trage dahinflie?ende Wasser.

Es kam auf den richtigen Zeitpunkt an.

»Jetzt, Sparrow!«, riet er dem Matrosen zu.

Sparrow packte mit beiden Handen den Pumpenschwengel und druckte ihn nieder. Sofort gab die

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