offenstand. Hier fangt schon der Irrtum des „Hyperion“ an. Freilich hat kaum je eine literarische Zeitschrift edler geirrt. Der „Pan“ brachte zu seiner Zeit uber Deutschland die Wohltat eines Schreckens, indem er die wesentlichen zeitgema?en, aber noch unerkannten Krafte einigte und durch einander starkte. Die „Insel“ erschmeichelte sich dort, wo ihr jene au?erste Notwendigkeit fehlte, eine andere, wenn auch niedrigere. Der „Hyperion“ hatte keine. Er sollte denen, die an den Grenzen der Literatur wohnen, eine gro?e lebendige Reprasentation geben; aber sie gebuhrte jenen nicht, und sie wollten sie im Grunde auch nicht haben. Diejenigen, die ihre Natur von der Gemeinschaft fernhalt, konnen nicht ohne Verlust regelma?ig in einer Zeitschrift auftreten, wo sie sich zwischen den andern Arbeiten in eine Art buhnenma?igen Lichts gestellt fuhlen mussen und fremder aussehn, als sie sind; sie brauchen auch keine Verteidigung, denn das Unverstandnis kann sie nicht treffen, und die Liebe findet sie uberall. Sie brauchen auch keine Kraftigung, denn, wenn sie wahrhaftig bleiben wollen, konnen sie nur von sich selbst zehren, so da? man ihnen nicht helfen kann, ohne ihnen vorher zu schaden. Wenn also die Moglichkeiten anderer Zeitschriften, zu reprasentieren, zu zeigen, zu verteidigen, zu kraftigen, sich dem „Hyperion“ versagten, konnten uberdies peinliche Nachteile nicht vermieden werden: Eine solche Literaturversammlung, wie sie im „Hyperion“ beisammen war, zieht mit Macht und ohne die Fahigkeit sich zu wehren, Lugenhaftes an; dagegen gab es dort, wo die beste allgemeine Literatur und Kunst in den „Hyperion“ eintrat, keineswegs immer einen vollkommenen Zusammenklang und jedenfalls keinen be- sondern anderswo nicht zu erreichenden Gewinn. Alle diese Bedenken aber konnten in den zwei Jahren den Genu? des „Hyperion“ nicht storen, denn schon der Reiz des Versuches machte alles vergessen; dem „Hyperion“ selbst allerdings gingen diese Bedenken wohl an den Leib. Sein Andenken aber wird schon deshalb nicht verschwinden konnen, weil in den nachsten Generationen sich sicher keiner finden wird, der den Willen, die Kraft, den Opfermut und die begeisterte Verblendung hatte, ein ahnliches Unternehmen wieder anzufangen; und deshalb beginnt der unvergessene „Hyperion“ jeder Feindschaft schon zu entrucken und wird in zehn oder zwanzig Jahren einfach ein bibliographischer Schatz sein.

Erstes Kapitel des Buches „Richard und Samuel“ von Max Brod und Franz Kafka

Unter dem Titel „Richard und Samuel - Eine kleine Reise durch mitteleuropaische Gegenden“, wird ein Bandchen die parallelen Reisetagebucher zweier Freunde verschiedenartigen Charakters enthalten.

Samuel ist ein weltlaufiger junger Mann, der mit vielem Ernst sich Kenntnisse im gro?en Stil und ein richtiges Urteil uber alle Gegenstande des Lebens und der Kunst zu bilden bestrebt ist, ohne doch jemals nuchtern oder gar pedantisch zu werden.

Richard hat keinen bestimmten Interessekreis, la?t sich von ratselhaften Gefuhlen, noch mehr von seiner Schwache treiben, zeigt aber in seinem engen und zufalligen Kreise so viel Intensitat und naive Selbststandigkeit, da? er nie zu schrullenhafter Komik ausartet. Dem Berufe nach ist Samuel Sekretar eines Kunstvereines, Richard Bankbeamter. Richard hat Vermogen, arbeitet nur, weil er sich nicht fur fahig halt, freie Tage zu ertragen; Samuel mu? von seiner (uberdies erfolgreichen und sehr geschatzten) Arbeit leben.

Die beiden, obwohl Schulkollegen, sind wahrend dieser beschriebenen Reise zum erstenmal andauernd mit einander allein.

Sie schatzen einander, obwohl sie einander unbegreiflich erscheinen. Anziehung und Absto?ung wird vielartig gefuhlt. Es wird beschrieben, wie sich dieses Verhaltnis zunachst zu uberhitzter Intimitat anstachelt, dann nach manchen Zwischenfallen auf dem gefahrlichen Boden von Mailand und Paris in mannliches Verstandnis gegenseitig beruhigt und ganz befestigt. Die Reise schlie?t damit, da? die beiden Freunde ihre Fahigkeiten zu einem neuen eigenartigen Kunstunternehmen vereinigen.

Die vielen Nuancen, deren Freundschaftsbeziehungen zwischen Mannern fahig sind, darzustellen und zugleich die bereisten Lander durch eine widerspruchsvolle Doppelbeleuchtung in einer Frische und Bedeutung sehn zu lassen, wie sie oft mit Unrecht nur exotischen Gegenden zugeschrieben werden: ist der Sinn dieses Buches.

Die erste lange Eisenbahnfahrt (Prag-Zurich)

Samuel: Abfahrt 26. VIII. 1911 Mittag 1 Uhr 2 Min.

Richard: Beim Anblick Samuels, der in seinen bekannten winzigen Taschenkalender etwas Kurzes eintragt, habe ich wieder die alte schone Idee, jeder von uns solle ein Tagebuch uber diese Reise fuhren. Ich sage es ihm. Er lehnt zuerst ab, dann stimmt er zu, er begrundet beides, ich verstehe es beidemal nur oberflachlich, aber das macht nichts, wenn wir nur Tagebucher fuhren werden. - Jetzt lacht er schon wieder uber mein Notizbuch, welches allerdings, in Glanzleinen schwarz eingebunden, neu, sehr gro?, quadratisch, eher einem Schulheft ahnelt. Ich sehe voraus, da? es schwer und jedenfalls lastig sein wird, dieses Heft wahrend der ganzen Reise in der Tasche zu tragen. Ubrigens kann ich mir auch in Zurich mit ihm zugleich ein praktisches kaufen. Er hat auch eine Fullfeder. Ich werde mir sie hie und da ausborgen.

Samuel: In einer Station unserem Fenster gegenuber ein Waggon mit Bauerinnen. Im Scho?e einer, die lacht, schlaft eine. Aufwachend winkt sie uns, unanstandig in ihrem Halbschlaf: „Komm“. Als verspotte sie uns, weil wir nicht hinuberkonnen. Im Nebenkoupee eine dunkle, heroische, ganz unbeweglich. Den Kopf tief zuruckgelehnt schaut sie entlang der Scheibe hinaus. Delphische Sibylle.

Richard: Aber was mir nicht gefallt, ist sein anknupfenscher, falschlich Vertrautheit vorgebender, fast liebedienerischer Gru? an die Bauerinnen. Nun setzt sich gar der Zug in Bewegung und Samuel bleibt mit seinem zu gro? angefangenen Lacheln und Mutzeschwenken allein.

- Ubertreibe ich nicht? - Samuel liest mir seine erste Bemerkung vor, sie macht auf mich einen gro?en Eindruck. Ich hatte auf die Bauerinnen mehr Acht geben sollen. - Der Kondukteur fragt, ubrigens sehr undeutlich, als hatte er es mit lauter Leuten zu tun, die diese Strecke schon oft gefahren sind, ob jemand fur Pilsen Kaffee bestellen wolle. Bestellt man, so klebt er einen schmalen grunen Zettel fur jede Portion ans Koupeefenster, so wie in Misdroy ehemals, so lange es keine Landungsbrucke gab, der ferne Dampfer durch Wimpel die Zahl der Boote, die zum Ausbooten benotigt wurden, anzeigte. Samuel kennt Misdroy gar nicht. Schade, da? ich nicht mit ihm dort war. Es war damals sehr schon. Diesmal wird es auch wunderbar schon werden. Die Fahrt ist zu schnell, es vergeht zu rasch; die Begierde nach weiten Reisen, die ich jetzt habe! - Welch ein altertumlicher Vergleich ist der obige, da seit funf Jahren der Landungssteg in Misdroy steht. - Der Kaffee in Pilsen auf dem Perron. Man mu? ihn mit Zettel nicht nehmen und bekommt ihn auch ohne.

Samuel: Vom Perron aus sehn wir ein fremdes Madchen aus unserem Koupee herausschauen, die spatere Dora Lippen. Hubsch, dicknasig, kleiner Halsausschnitt in wei?er Spitzenbluse. Erste gemeinschaftliche Tatsache bei der Weiterfahrt: ihr gro?er Hut in seiner Papierhulle schwebt aus dem Gepacknetz leicht auf meinen Kopf herab. - Wir erfahren, da? sie die Tochter eines nach Innsbruck versetzten Offiziers ist und zu ihren Eltern fahrt, die sie schon so lange nicht gesehn hat. Sie arbeitet in einem technischen Bureau in Pilsen, den ganzen Tag, hat sehr viel zu tun, aber es macht ihr Freude, sie ist sehr zufrieden mit ihrem Leben. Im Bureau hei?t sie: unser Nesthakchen, unsere kleine Schwalbe. Sie ist dort unter lauter Mannern, die jungste. O es ist lustig im Bureau!

Man verwechselt die Hute in der Garderobe, nagelt die Zehnuhrkipfel an oder klebt einem den Federstiel mit Gummiarabicum an die Schreibmappe. Wir selbst haben Gelegenheit an einem solchen „tadellosen“ Witz mitzuwirken. Sie schreibt namlich eine Karte an ihre Bureaukollegen, in der es hei?t: „Das Vorausgesagte ist leider eingetroffen. Ich bin in einen falschen Zug eingestiegen und befinde mich jetzt in Zurich. Herzliche Gru?e.“ Wir sollen diese Karte in Zurich aufgeben. Sie erwartet aber von uns als „Ehrenmannern“, da? wir nichts dazuschreiben. Im Bureau wird man naturlich Sorge haben, telegraphieren und Gott wei?, was noch. - Sie ist Wagnerianerin, fehlt bei keiner Wagnervorstellung, „diese Kurz neulich als Isolde“, auch den Briefwechsel Wagners mit der Wesendonck liest sie eben, sie nimmt ihn sogar nach Innsbruck mit, ein Herr, naturlich jener, der ihr die Klavierauszuge vorspielt, hat ihr das Buch geborgt. Sie selbst hat leider wenig Talent zum Klavierspiel, wir wissen es aber schon, seitdem sie uns einige Leitmotive vorgesummt hat. - Sie sammelt Chokoladenpapier, aus dem sie eine gro?e Staniolkugel macht, die sie auch mit hat. Diese Kugel ist fur eine Freundin bestimmt, weiterer Zweck

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