seinen umstandlichen Ansprachen und Gefalligkeiten. Dadurch wurde sie auch in ihrer dummen Ziererei bekraftigt, die schlie?lich im Automobil ganz unertraglich wurde. Beim Abschied wurde sie folgerecht ein sentimentales deutsches Gretchen, Richard, der ihr naturlich den Koffer trug, benahm sich, wie wenn sie ihn unverdient begluckt hatte, ich hatte nur ein peinliches Gefuhl. Um es kurz zu formulieren: Frauen, die allein reisen oder sonst irgendwie als selbstandig betrachtet sein wollen, durfen dann nicht wieder in die ubliche, vielleicht heute schon veraltete Koketterie verfallen, indem sie bald anziehn, bald absto?en und in der dadurch erzeugten Verwirrung ihren Vorteil suchen. Denn das durchschaut man und la?t sich bald mit Vergnugen starker absto?en, als sie wahrscheinlich gewunscht haben. - Nach dieser nicht ganz saubern Reisebekanntschaft war es ein besonderes Vergnugen, eine eigens fur Hande- und Gesichtwaschen eingerichtete Anstalt auf dem Bahnhof zu finden. Man offnet uns eine „Kabine“; allerdings konnte man sich schonere Waschgelegenheiten denken, auch haben wir nur gerade noch Zeit, mit unseren Kleidern bepackt uns in der Enge zwischen den zwei Waschbecken hin und her zu drehn, trotzdem sind wir einig, da? Kultur in dieser reichsdeutschen Einrichtung liegt. In Prag konnte man lange auf den Bahnhofen herumsuchen, ehe man so etwas fande.
Wir steigen in das Koupee ein, in dem wir zu Richards Herzklopfen unser Gepack gelassen hatten. Richard macht seine bekannten Schlafvorbereitungen, indem er sein Plaid als Kopfpolster unterlegt und den aufgehangten Havelock als Baldachin um sein Gesicht herabhangen la?t. Es gefallt mir, da? er, wenigstens wenn es sich um seinen Schlaf handelt, rucksichtslos ist, z. B. die Lampe verdunkelt, ohne zu fragen, trotzdem er wei?, da? ich in der Eisenbahn nicht schlafen kann. Er streckt sich auf seiner Bank aus, als ob er ein besonderes Recht vor den Mitreisenden hatte. Er schlaft auch sofort friedlich ein. Und dabei hat der Mensch immerfort uber Schlaflosigkeit zu klagen.
Im Koupee sitzen noch zwei junge Franzosen. (Genfer Gymnasiasten.) Der eine, schwarzhaarige, lacht immerfort, sogar daruber, da? ihn Richard kaum sitzen la?t (so streckt er sich aus), dann daruber, da? er einen Augenblick, in dem sich Richard erhebt und die Gesellschaft bittet nicht soviel zu rauchen, benutzt um einen Teil von Richards Lagerplatz zu besetzen. Solche kleine Kampfe werden unter Fremdsprachigen stumm und daher mit gro?er Leichtigkeit ausgefochten, ohne Entschuldigungen und ohne Vorwurfe. - Die Franzosen verkurzen sich die Nacht, indem sie eine Blechbuchse mit Kakes einander hin- und herreichen oder Zigaretten drehn oder jeden Augenblick auf den Gang hinausgehn, einander rufen, wieder hereinkommen. In Lindau (sie sagen „Lendo“) lachen sie herzlich und fur diese Nachtzeit uberraschend hell uber den osterreichischen Kondukteur. Kondukteure eines fremden Staates wirken unwiderstehlich komisch, so auch auf uns der bayrische in Furth mit seiner gro?en roten Tasche, die ihm tief unten um die Beine schlenkerte. - Langdauernde Aussicht auf den von den Zugslichtern beleuchteten und geglatteten Bodensee bis hinuber zu den fernen Lichtern der jenseitigen Ufer, finster und dunstig. Mir fallt ein altes Schul- gedicht ein, „Der Reiter uber den Bodensee“. Ich verbringe eine hubsche Zeit damit, es mir aus dem Gedachtnis wiederherzustellen. - Eindringen dreier Schweizer. Einer raucht. Einer, der dann auch nach dem Aussteigen der zwei andern zuruckbleibt, ist zuerst unwesentlich, klart sich aber gegen Morgen auf. Er hat den Streitigkeiten zwischen Richard und dem schwarzen Franzosen ein Ende gemacht, indem er gleichsam beiden Unrecht gab und sich fur den ganzen Rest der Nacht steif zwischen sie setzte, den Bergstock zwischen den Beinen. Richard zeigt, da? er auch sitzend schlafen kann.
Die Schweiz uberrascht durch die alleinstehenden, daher scheinbar besonders aufrechten selbststandigen Hauser in allen Stadtchen, Dorfern langs der ganzen Eisenbahnstrecke. Keine Gassenbildung in St. Gallen. Vielleicht druckt sich darin der gut deutsche Partikularismus jedes Einzelnen aus, - von Terrainschwierigkeiten unterstutzt. Jedes Haus mit seinen dunkelgrunen Fensterladen und viel gruner Farbe in Fachwerk und Gelander hat einen villenahnlichen Charakter. Tragt trotzdem eine Firma, nur eine, Familie und Geschaft scheinen nicht unterschieden. Diese Einrichtung, Geschaftsunternehmungen in Villen zu betreiben, erinnert mich stark an R. Walsers Roman „Der Gehilfe“.
Es ist Sonntag, funf Uhr fruh, 27. August. Alle Fenster noch geschlossen, alles schlaft. Immer das Gefuhl, da? wir, in diesen Zug gesperrt, die einzige schlechte Luft weit und breit atmen, wahrend das Land drau?en in naturlicher Weise, die man nur aus einem Nachtzug heraus, unter einer weiterbrennenden Lampe, richtig beobachten kann, sich entschleiert. Es ist zuerst von den dunklen Bergen als besonders schmales Tal zwischen ihnen und unserem Zug hergeschoben, dann durch den Morgendunst wie durch Oberlichtfenster wei?lich aufgehellt, die Matten erscheinen allmahlich frisch, wie nie zuvor beruhrt, saftig grun, was mich in diesem trockenen Jahr sehr in Erstaunen setzt, endlich erbleicht das Gras bei steigender Sonne in langsamer Verwandlung. - Baume mit schweren gro?en Nadelasten, die langs des ganzen Stammes bis zum Fu?e niederwallen.
Solche Formen sieht man haufig in Bildern Schweizer Maler und ich hielt sie bis heute fur nichts als stylisiert.
Eine Mutter mit ihren Kindern beginnt auf der saubern Stra?e den Sonntagspaziergang. Das erinnert mich an Gottfried Keller, der von seiner Mutter erzogen wurde.
Im Wiesenland uberall die sorgfaltigsten Zaune; manche sind aus grauen wie Bleistifte zugespitzten Stammen gebaut, oft aus halbierten solchen Stammen. So teilten wir als Kinder Bleistifte, um den Graphit herauszubekommen. Derartige Zaune habe ich noch nie gesehn. So bietet jedes Land Neues im Alltaglichen und man mu? ich huten, der Freude uber solche Eindrucke nachgebend das Seltene zu ubersehn.
Richard: Die Schweiz in den ersten Morgenstunden sich selbst uberlassen. Samuel weckt mich angeblich beim Anblick einer sehenswerten Brucke, die aber schon vorbei ist, ehe ich aufschaue, und verschafft sich durch diesen Griff vielleicht den ersten starken Eindruck von der Schweiz. Ich sehe sie zuerst, viel zu lange Zeit, aus innerer in au?erer Dammerung an.
Ich habe in der Nacht ungewohnlich gut geschlafen, wie in der Eisenbahn fast immer. Mein Schlaf in der Eisenbahn ist formlich eine reinliche Arbeit. Ich lege mich hin, den Kopf zu allerletzt, probiere kurz zum Vorspiel einige Lagen, sondere mich von der ganzen Gesellschaft ab, wie sie mich auch von allen Seiten anschauen moge, indem ich mit dem Uberzieher oder der Reisemutze mein Gesicht verdecke und werde von dem anfanglichen Behagen einer neu eingenommenen Korperlage in den Schlaf geweht. Am Anfang ist das Dunkel naturlich eine gute Hilfe, im weiteren Verlaufe ist es fast uberflussig. Auch die Unterhaltung konnte fortgehn wie fruher nur ist es schon so, da? der Mahnung, die ein ernsthaft Schlafender bildet, auch ein entfernt sitzender Schwatzer nicht widerstehen kann. Denn es gibt kaum einen Ort, wo die gro?ten Gegensatze in der Lebensfuhrung so nah, unvermittelt und uberraschend neben einander sitzen wie im Koupee und infolge der fortwahrenden gegenseitigen Betrachtung in der kurzesten Zeit auf einander zu wirken anfangen. Und wenn auch ein Schlafender die andern nicht gleich wieder einschlafert, so macht er sie doch stiller oder steigert gar ganz gegen seinen Willen ihre Nachdenklichkeit zum Rauchen, so wie es leider bei dieser Fahrt geschehen ist, wo ich in der guten Luft unaufdringlicher Traume Wolken von Zigarettenrauch eingeatmet habe.
Meinen guten Schlaf in der Eisenbahn erklare ich damit, da? mich sonst meine aus Uberarbeitung stammende Nervositat durch den Larm nicht schlafen la?t, den sie in mir anrichtet und der in der Nacht von allen zufalligen Gerauschen des gro?en Wohnhauses und der Gasse, von jedem aus der Ferne herannahenden Wagenrollen, jedem Zanken Betrunkener, jedem Schritt auf der Treppe angefeuert wird, da? ich oft argerlich alle Schuld auf diesen au?eren Larm schiebe - wahrend in der Eisenbahn die Gleichma?igkeit der Fahrtgerausche, ob es nun gerade die arbeitende Federung des Waggons ist, oder das sich Reiben der Rader, das Aneinanderschlagen der Schienen, das Zittern des ganzen Holz-, Glas- und Eisenbaues ein Niveau wie von vollkommener Ruhe bilden, auf dem ich schlafen kann, scheinbar wie ein gesunder Mensch. Dieser Schein weicht naturlich sofort z. B. einem vordringenden Pfiff der Lokomotive oder einer Veranderung des Fahrttempos oder ganz bestimmt dem Eindruck in den Stationen, der sich genau wie durch den ganzen Zug auch durch meinen ganzen Schlaf fortsetzt bis zum Erwachen. Dann hore ich ohne Erstaunen die Namen von Orten ausrufen, die ich nie zu passieren erwartet habe, wie diesmal Lindau, Konstanz, ich glaube auch Romanshorn und habe von ihnen weniger Gewinn, als wenn ich von ihnen nur getraumt hatte, im Gegenteil nur Storung. Erwache ich wahrend der Fahrt, dann ist das Erwachen starker, weil es wie gegen die Natur des Eisenbahnschlafes ist. Ich offne die Augen und wende mich einen Augenblick zum Fenster. Viel sehe ich da nicht, und was ich sehe, ist mit dem nachlassigen Gedachtnis des Traumenden erfa?t. Doch mochte ich schworen, da? ich irgendwo im Wurtembergischen, wie wenn ich auch dieses Wurtembergische ausdrucklich erkannt hatte, um zwei Uhr in der Nacht einen Mann gesehen habe, der auf der Veranda seines Landhauses sich zum Gelander beugte. Hinter ihm war die Tur seines beleuchteten Schreibzimmers halb geoffnet, als sei er nur herausgekommen, um vor dem Schlaf noch den Kopf zu kuhlen. ... In Lindau war im Bahnhof, aber auch wahrend der Einfahrt und der Ausfahrt viel Gesang in der Nacht und weil man uberhaupt in einer solchen Fahrt in der Nacht von Samstag auf Sonntag viel nachtliches Leben auf