unbekannt. Sie sammelt aber auch Cigarrenbinden, diese ganz bestimmt fur ein Tablett. - Der erste bayerische Kondukteur bringt sie darauf, ihre sehr widerspruchsvollen und dunklen Ansichten einer Offizierstochter uber das osterreichische Militar und Militar uberhaupt kurz und mit gro?er Entschiedenheit zu au?ern. Sie halt namlich nicht nur das osterreichische Militar fur schlapp, sondern auch das deutsche und jedes Militar uberhaupt. Aber lauft sie nicht im Bureau zum Fenster, wenn Militarmusik voruberkommt? Eben nicht, denn das ist kein Militar. Ja, ihre jungere Schwester, die ist anders. Die tanzt flei?ig im Innsbrucker Offizierskasino. Also Uniformen imponieren ihr gar nicht und Offiziere sind fur sie Luft. Offenbar ist daran zum Teil jener Herr schuld, der ihr die Klavierauszuge borgt, zum Teil aber unser Hin- und Herspazieren auf dem Perron des Further Bahnhofs, denn sie fuhlt sich nach der Fahrt im Gehn so frisch und streicht mit den Handflachen ihre Huften. Richard verteidigt das Militar, aber ganz im Ernst. - Ihre Lieblingsausdrucke: tadellos - mit Null Komma funf Beschleunigung - herausfeuern - prompt - schlapp.
Richard: Dora L. hat runde Wangen mit viel blondem Flaum; sie sind aber so blutleer, da? man sehr lange die Hande in sie drucken mu?te, ehe sich eine Rothung zeigte. Das Mieder ist schlecht, uber seinem Rande auf der Brust zerknittert sich die Bluse; davon mu? man absehn.
Froh bin ich, da? ich ihr gegenuber und nicht neben ihr sitze, ich kann namlich mit einem, der neben mir sitzt, nicht reden. Samuel z. B. setzt sich wieder mit Vorliebe neben mich; er sitzt auch gern neben Dora. Ich dagegen fuhle mich ausgehorcht, wenn sich jemand neben mich setzt. Schlie?lich hat man ja wirklich gegen einen solchen Menschen von vornherein kein Auge in Bereitschaft, man mu? sie erst zu ihm hinuberdrehen. Allerdings bin ich infolge meines Gegenubersitzens von der Unterhaltung Doras und Samuels, besonders wenn der Zug fahrt, zeitweilig ausgeschlossen; alle Vorteile kann man nicht haben. Dafur sah ich sie aber schon, wenn auch nur Augenblicke lang, stumm neben einandersitzen; naturlich ohne meine Schuld.
Ich bewundere sie; sie ist so musikalisch. Samuel allerdings scheint ironisch zu lacheln, als sie ihm etwas leise vorsingt. Vielleicht war es nicht ganz korrekt, aber immerhin, verdient es nicht Bewunderung, da? sich ein in einer gro?en Stadt alleinstehendes Madchen so herzlich fur Musik interessiert? Sie hat sogar in ihr Zimmer, das doch nur gemietet ist, ein gemietetes Klavier schaffen lassen. Man mu? sich nur vorstellen: eine so umstandliche Angelegenheit wie ein Klaviertransport (Fortepiano!), die selbst ganzen Familien Schwierigkeiten macht und das schwache Madchen! Wie viel Selbstandigkeit und Entschiedenheit gehort dazu!
Ich frage sie nach ihrem Haushalt. Sie wohnt mit zwei Freundinnen, abends kauft eine von ihnen das Nachtmahl in einem Delikatessengeschaft, sie unterhalten sich sehr gut und lachen viel. Da? das alles bei Petroleumbeleuchtung geschieht, kommt mir, als ich es hore, merkwurdig vor, aber ich will es ihr nicht sagen. Offenbar liegt ihr auch an dieser schlechten Beleuchtung nichts, denn bei ihrer Energie konnte sie von ihrer Wirtin gewi? auch eine bessere erzwingen, wenn es ihr einmal einfiele.
Da sie im Laufe des Gespraches alles vorzeigen mu?, was sie in ihrem Taschchen hat, sehn wir auch eine Medizinflasche mit irgend etwas Abscheulichem Gelbem drin. Jetzt erst erfahren wir, da? sie nicht ganz gesund ist, sogar lange krank gelegen ist. Und nachher war sie noch sehr schwach. Damals hat ihr der Chef selbst geraten (so anstandig ist man gegen sie), nur halbe Tage ins Bureau zu kommen. Jetzt geht es ihr besser, sie mu? aber dieses Eisenpraparat nehmen. Ich rate ihr, es lieber zum Fenster hinauszuschutten. Sie stimmt zwar leicht zu (denn das Zeug schmeckt elend), ist aber nicht zum Ernst zu bringen, trotzdem ich, naher zu ihr vorgebeugt als jemals, meine gerade darin so klaren Ansichten uber eine naturgema?e Behandlung des menschlichen Organismus darlegen will, und zwar in der aufrichtigen Absicht, ihr zu helfen oder zumindest dieses unberatene Madchen vor Schaden zu bewahren, und mich so wenigstens fur einen Augenblick lang als glucklichen Zufall dieses Madchens fuhle. - Als sie nicht aufhort zu lachen, breche ich ab. Geschadet hat mir auch, da? Samuel wahrend meiner ganzen Rede mit dem Kopf gewackelt hat. Ich kenne ihn ja. Er glaubt an die Arzte und halt die Naturheilmethode fur lacherlich. Ich verstehe das sehr gut: er hat nie einen Arzt gebraucht und daher nie ernstliche selbstandige Gedanken uber diese Sache gehabt, kann beispielsweise dieses ekelhafte Praparat gar nicht auf sich beziehn. - Ware ich mit dem Fraulein allein gewesen, so hatte ich sie schon uberzeugt. Denn: wenn ich in dieser Sache nicht Recht habe, habe ich es in keiner!
Die Ursache ihrer Blutarmut ist mir ja von allem Anfang an klar gewesen. Das Bureau. Man kann ja wie alles auch das Bureauleben als etwas Scherzhaftes empfinden (und dieses Madchen empfindet es ehrlich so, ist ja vollstandig getauscht), aber im Wesen, in den unglucklichen Folgen!? - Ich wei? ja, woran ich z. B. bin. Und jetzt soll gar ein Madchen im Bureau sitzen, der Frauenrock ist gar nicht dazu gemacht, wie mu? er sich uberall spannen, um dauernd, stundenlang auf einem harten Holzsessel sich hin- und herzuschieben. Und so werden diese runden Popos gedruckt, und zugleich die Brust an der Schreibtischkante. - Ubertrieben? - Ein Madchen im Bureau ist mir doch jedesmal ein trauriger Anblick.
Samuel ist schon ziemlich intim mit ihr geworden. Er hat sie sogar, was ich eigentlich nie gedacht hatte dazu gebracht, mit uns in den Speisewagen zu gehn. In diesen Waggon zwischen fremde Passagiere treten wir schon mit einer geradezu unglaublichen Zusammengehorigkeit ein, alle drei. Das mu? man sich merken, da? man zur Verstarkung der Freundschaft eine neue Umgebung aufsuchen soll. Ich sitze jetzt sogar neben ihr, wir trinken Wein, unsere Arme beruhren einander, unsere gemeinsame Ferienfreude macht wirklich eine Familie aus uns.
Dieser Samuel hat sie trotz ihres lebhaften und durch den Regengu? unterstutzten Straubens uberredet, den halbstundigen Aufenthalt in Munchen zu einer Autofahrt zu benutzen. Wahrend er ein Auto holt, sagt sie zu mir in der Bahnhofsarkade, und sie nimmt mich dabei beim Arm: „Bitte, verhindern Sie diese Fahrt. Ich darf nicht mit. Es ist ganz ausgeschlossen. Ich sage es Ihnen, weil ich zu Ihnen Vertrauen habe. Mit Ihrem Freund kann man ja nicht reden. Er ist so verruckt!“ - Wir steigen ein, mir ist das Ganze peinlich, es erinnert mich auch genau an das Kinematographenstuck „Die wei?e Sklavin“, in dem die unschuldige Heldin gleich am Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Mannern in ein Automobil gedrangt und weggefuhrt wird. Samuel dagegen ist guter Laune. Da der gro?e Schirm des Autos uns die Aussicht nimmt, sehn wir eigentlich von allen Gebauden nur den ersten Stock zur Not. Es ist Nacht. Perspektiven einer Kellerwohnung. Samuel dagegen leitet daraus phantastische Vorstellungen uber die Hohe der Schlosser und Kirchen ab. Da Dora in ihrem dunklen Rucksitz noch immer schweigt und ich schon fast einen Ausbruch furchte, wird er endlich doch stutzig und fragt sie, fur mein Gefuhl etwas zu konventionell: „Nun, Sie sind doch nicht bos auf mich, Fraulein? Habe ich Ihnen etwas getan u. s. f.?“ Sie erwiedert: „Da ich einmal hier bin, will ich Ihnen das Vergnugen nicht storen. Sie hatten mich aber nicht zwingen sollen. Wenn ich ,Nein‘ sage, so sage ich es nicht ohne Grund. Ich darf eben nicht fahren.“ „Warum?“ fragt er. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie mussen doch selbst einsehn, da? es sich fur ein Madchen nicht schickt, Nachts mit Herren herumzufahren. Au?erdem ist noch etwas dabei. Nehmen Sie nur an, ich ware schon gebunden ...“ Wir erraten, jeder fur uns, mit stillem Respekt, da? diese Sache irgendwie mit dem Wagner-Herren zusammenhangt. Nun, ich habe mir keine Vorwurfe zu machen, versuche sie aber trotzdem aufzuheitern. Auch Samuel, der sie bisher ein wenig von oben herab behandelt hat, scheint zu bereuen und will nur mehr von der Fahrt sprechen. Der Chauffeur, von uns aufgefordert, ruft die Namen der unsichtbaren Sehenswurdigkeiten aus. Die Pneumatics rauschen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im Kinematographen. Wieder diese „wei?e Sklavin“. Diese leeren langen gewaschenen schwarzen Gassen. Das Deutlichste sind die unverhangten gro?en Fenster des Restaurants „Vier Jahreszeiten“, dessen Name uns als des elegantesten irgendwie bekannt war. Verbeugung eines livrierten Kellners vor einer Tischgesellschaft. Bei einem Denkmal, das wir in einem glucklichen Einfall fur das beruhmte Wagnerdenkmal erklaren, zeigt sie Teilnahme. Nur beim Freiheitsmonument mit seinen im Regen klatschenden Fontanen ist langerer Aufenthalt gegonnt. Brucke uber die nur geahnte Isar. Schone herrschaftliche Villen langs des Englischen Gartens. Ludwigsstra?e, Theatinerkirche, Feldherrnhalle, Pschorrbrau. Ich wei? nicht, wieso das kommt: ich erkenne nichts wieder, obwohl ich doch schon mehrmals in Munchen war. Sendlinger Tor. Bahnhof, den rechtzeitig zu erreichen ich (besonders Doras wegen) Sorge hatte. So sind wir wie eine daraufhin ausgerechnete Feder in genau zwanzig Minuten durch die Stadt geschnurrt, nach dem Taxameter.
Wir bringen unsere Dora, als waren wir ihre Munchner Verwandten, in einem direkten Koupee nach Innsbruck unter, wo eine schwarzgekleidete Dame, die mehr zu furchten ist als wir, ihr fur die Nacht ihren Schutz anbietet. Da sehe ich erst, da? man uns zweien mit Beruhigung ein Madchen anvertrauen kann.
Samuel: Die Sache mit Dora ist grundlich mi?lungen. Je weiter es gieng, desto schlimmer. Ich hatte die Absicht, die Reise zu unterbrechen und in Munchen zu ubernachten. Bis zum Nachtmahl, etwa Station Regensburg, war ich uberzeugt, da? es gehn wurde. Ich versuchte mich mit Richard durch ein paar Worte auf einem Zettel zu verstandigen. Er scheint ihn gar nicht gelesen zu haben, nur darauf bedacht, ihn zu verstecken. Schlie?lich liegt ja nichts daran, ich hatte gar keine Lust auf das fade Frauenzimmer. Nur Richard machte so ein Wesen aus ihr, mit