Schreckensvisionen verfolgt, miserabel, und selbst seine besten Freunde fuhlten sich bald vernachlassigt, weil er sich kaum noch bei ihnen meldete. Zweimal ging er abends mit Claudia aus, in der vergeblichen Hoffnung, das konne ihn etwas ablenken. Beim zweiten Mal landeten sie sogar bei ihm zu Hause auf dem Bett, brachen ihre Bemuhungen aber bald ab, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Claudia war ziemlich sauer, als sie ging.
Das schlimmste war, da? er mit niemandem reden konnte. Wem sollte man eine solche Geschichte schon auftischen, ohne Mitleid oder schallendes Gelachter zu ernten. Zwei-, dreimal rief Tobias an, wohl um ihn weiter zu bearbeiten, aber Micha legte moglichst schnell wieder auf, weil diese Telefonate das bi?chen Stabilitat, das er sich in der Zwischenzeit aufgebaut hatte, wieder zusammenbrechen lie?en wie ein wackliges Kartenhaus.
Mit der Zeit wurde ihm aber klar, da? es nur eine Moglichkeit gab, diesem Alptraum ein Ende zu setzen. Er mu?te auf Tobias’ Ansinnen eingehen und mit ihm zu dieser verfluchten Hohle reisen. Nur dort, in der Hohle des Lowen sozusagen, konnte er Tobias und sich selbst beweisen, da? die Welt noch so war, wie sie ihm bis vor kurzer Zeit erschienen war, chaotisch zwar, vollig au?er Rand und Band und mit Karacho der sicheren Apokalypse entgegenschlingernd, aber doch nicht so verruckt, als da? in ihr irgendwelche obskuren Schlupflocher in langst vergangene Erdzeitalter Platz gehabt hatten.
»Is ja super, Mann! Wahnsinn!« rief Tobias, als er ihm seinen Entschlu? am Telefon mitteilte. Er war vollig aus dem Hauschen.
»Hor zu, erwarte bitte keine allzu gro?e Begeisterung von mir«, versuchte Micha seine Euphorie zu bremsen. »Ich brauche Klarheit, verstehst du, sonst drehe ich durch.«
»Klar, Micha, versteh ich vollkommen. Aber wir mussen uns langsam ranhalten. Es gibt jetzt unendlich viel zu besprechen.«
Da hatte er wahrscheinlich recht, denn sie hatten mittlerweile Mitte Dezember. Wenn sie die Sache in den kommenden Semesterferien hinter sich bringen wollten, und dazu war er fest entschlossen, er wollte diese Angelegenheit so schnell wie moglich aus der Welt schaffen, dann blieben ihnen gerade noch zwei Monate fur die Vorbereitung dieses Unternehmens. Wahrscheinlich war es ziemlicher Wahnsinn, Mitte Februar in die Slowakei fahren zu wollen, aber es mu?te jetzt bald geschehen. Bis zum Sommer zu warten, war fur ihn eine unertragliche Vorstellung. Und Tobias war begeistert von seinem plotzlichen Elan. Tatsachlich verschaffte Micha diese Entscheidung etwas Erleichterung, so als hatte er nach langerer Verstopfung endlich einmal wieder auf der Toilette gesessen.
Er traf sich nun regelma?ig mit Tobias, um die Einzelheiten zu besprechen, wer sich um was zu kummern hatte, wer Zelt, Kochgeschirr, Lebensmittel, Fotoausrustung, und was man sonst so fur eine Reise in die Urzeit brauchte, besorgen sollte und so weiter. Insgesamt planten sie etwa sechs bis acht Wochen ein. Hin und wieder fand Micha sogar zu seinem Humor zuruck, aber es war ein boser, sarkastischer Humor, und manchmal stand er vor dem Spiegel, schaute in sein vertrautes Milchbubigesicht und dachte: Du bist ubergeschnappt, mach du nur weiter so. Irresein fangt immer so an.
Ende Januar traf er Claudia noch einmal. Da er nun davon ausging, da? der Spuk bald voruber sein wurde, ging es ihm deutlich besser, und sie verbrachten einen netten Abend zusammen. Sie sahen sich endlich
Spater beim Bier kamen sie auf die bevorstehenden Semesterferien zu sprechen. Wahrend Claudia erklarte, sie sei noch unschlussig, ob sie wegfahren solle, sie hatte sich eigentlich vorgenommen, endlich ihre Arbeit fertigzustellen, erzahlte er von seiner Reise in die Slowakei.
»Ungewohnlich«, war ihr erster Kommentar. Genau dasselbe hatte er auch gesagt, als Tobias ihm von seinen Planen erzahlt hatte, damals in dem Cafe.
»Und was wollt ihr da machen?« fragte sie.
»Na, rumreisen, Ski fahren, wandern, lesen, was man halt so macht im Urlaub. Du stellst vielleicht Fragen.«
»Hmm.« Sie schaute ihn, an ihrem Bier nippend, mit gro?en Augen an. »Is das derselbe Freund, der dir die Pflanze mitgebracht hat?«
»Ja, Tobias, warum?«
»Ach, nur so. Und wo genau wollt ihr da hin?«
Komisch, das wu?te er selbst nicht. Tobias hatte mit keinem Wort erwahnt, wo diese seltsame Hohle lag. Bisher hatten sie nur Bahnkarten nach Prag gekauft. Da? das, was sie suchten, wie in dem Film eine Hohle sein sollte, fand er irgendwie phantasielos. Es hatte doch etwas anderes sein konnen, ein Vulkan wie bei Jules Verne oder ein Mahlstrom wie bei Poe.
»Hohe Tatra«, sagte er aufs Geratewohl, weil ihm diese Gegend noch irgendwie in Erinnerung war.
»Ach so, ja, davon habe ich auch schon gehort. Da kommen die slowakischen Wintersportler her.«
Sie sa?en einige Minuten schweigend da, und er rauchte und versenkte sich in den Anblick ihrer neuen blonden Stoppelfrisur. Sie hatte fruher schulterlange, sehr lockige Haare gehabt und trug seit ein paar Tagen einen ziemlich radikalen Kurzhaarschnitt.
»Stehen dir gut, die Haare, meine ich.«
»Findest du?« Sie fuhr sich mit der Hand durch die Stoppeln und lachte. »Ist noch sehr ungewohnt.«
»Das glaub ich.«
»Hat dir dein Freund eigentlich mal erzahlt, wo er die Pflanze nun her hatte, die du mir gezeigt hast?« fragte sie plotzlich. Er erschrak furchterlich.
»Ach so, die Pflanze, ja, haha, die . die stammte tatsachlich von da unten.«
»Von wo unten?«
»Na, aus Indonesien, wie du gesagt hast. War wirklich nur ein dummer Scherz von ihm.«
»Das kann man wohl sagen. Aber sonst versteht ihr euch gut, ja?«
»Och, ja, klar.«
»Ich frag nur, weil du doch ziemlich sauer auf ihn warst, wenn ich mich recht erinnere. Und jetzt willst du plotzlich mit ihm verreisen. Ist doch irgendwie seltsam, findest du nicht?«
»Wir haben uns eben wieder vertragen«, erwiderte er kurz angebunden. Er sah ihr an, da? sie ihm kein Wort glaubte.
»Na, ich wunsche euch jedenfalls viel Spa? zusammen«, sagte sie noch. »Hoffentlich schlagt ihr euch nicht gegenseitig die Schadel ein, wenn deinem Freund noch mehr so merkwurdige Scherze einfallen.«
Axt sa? an diesem truben Februartag schon sehr fruh an seinem Schreibtisch in der Station, weil er versuchen wollte, endlich den Artikel fertig zu schreiben, mit dem er sich nun schon seit Wochen herumqualte. Fruher ging ihm so etwas leichter von der Hand. Neben ihm lagen Stapel von dicken Buchern und Fotokopien von Fachaufsatzen, und ihm kam plotzlich der Gedanke, da? er schon seit Ewigkeiten kein normales Buch mehr gelesen hatte. Er las uberhaupt nichts anderes mehr als dieses trockene Fachchinesisch mit Titeln, die jedem normalen Menschen wie Uberschriften irgendwelcher mystischer Geheimliteratur erscheinen mu?ten, Titel wie »Vergleichende Osteologie und Phylogenie der Anabantoidei«, »Enameloid von Prionace« oder etwas in der Richtung. Klar, sein Spezialgebiet waren die Fische, und so lauteten heute nun einmal die Uberschriften wissenschaftlicher Veroffentlichungen, aber das, was ihm seit Jahren vertraut war, kam ihm plotzlich reichlich absurd vor.
Er mu?te grinsen. Fruher war das anders. Karl von Frisch, der beruhmte Bienenforscher, hatte in den zwanziger Jahren einmal einen Artikel mit dem genialen Titel »Ein Zwergwels, der kommt, wenn man pfeift« veroffentlicht. Dabei handelte es sich sogar um eine angesehene Fachzeitschrift. So etwas wurde heute kein Mensch mehr wagen. Auch wenn es in modernen Veroffentlichungen um ganz einfache Dinge ging, mu?ten sie hinter moglichst kryptischen Titeln verborgen werden. Geschadet hatte es von Frisch offensichtlich nicht. Jahre spater bekam er den Nobelpreis, allerdings nicht fur seine Arbeit uber den folgsamen Zwergwels.
Vielleicht sollte er es auch einmal in dem Stil versuchen. »Ein 50 Millionen Jahre alter Fisch, der nicht stinkt,