sich fortbewegten. Mit weichen, federnden Schritten liefen sie auf das Ufer zu.
Alles, was er bisher gesehen hatte, die Meeresbucht, der trage dahinstromende Flu?, die karge Wustenlandschaft und die Berge, durch die er hier heraufgestiegen war, selbst die rauchenden Vulkankegel in der Ferne, all das hatte genausogut ein Teil seiner Welt sein konnen, jener Welt, die er offenbar auf ratselhafte und unbegreifliche Weise hinter sich gelassen hatte. In den letzten Tagen hatte er sich allerdings auch kaum Zeit gelassen, die neue Umgebung naher zu untersuchen, hatte immer nur verbissen nach vorn geschaut, unermudlich angetrieben von seiner inneren Unruhe, der vagen Hoffnung, noch etwas ausrichten zu konnen. Er hatte ein paar Vogel gesehen, aber selbst ihm als Fachmann ware es unmoglich gewesen, sie aus dieser Entfernung als Bewohner des mittleren Tertiars zu identifizieren. Und wenn uberhaupt etwas, dann hatte er ja nur das gekannt, was nach Jahrmillionen noch von ihnen ubriggeblieben war, ihre Skelette oder sogar nur Fragmente davon, eingebettet in hartes Gestein oder weichen Olschiefer. Ihm fiel Sonnenbergs seltsame Frage wieder ein: Wie viele Vogelarten blieben wohl ubrig, wenn man nur ihre Skelette kennen wurde?
Auch die paar Pflanzchen am Flu?ufer boten bei oberflachlicher ruheloser Betrachtung nichts Besonderes. Sie unterschieden sich in nichts von den Unkrautern, die er an ruhigen Sonntagnachmittagen aus den Blumenbeeten seines Vorgartens zupfte. Nein, das alles hatte ihn bisher wenig beeindruckt, aber jetzt .
So dumm sich das fur einen gestandenen Wissenschaftler wie ihn auch anhorte, aber er hatte bisher nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, wie lebendig das alles einmal gewesen war. Au?er wahrend seiner seltsamen Anfalle in der Grube, und obwohl er es eigentlich hatte besser wissen mussen, hatte er bisher in seinen Fossilien nur tote Studienobjekte gesehen.
Mit einem Schlag wurde ihm klar, wie wenig sie eigentlich wu?ten uber diese versunkenen Welten, welch elendes Stuckwerk sie zu betreiben gezwungen waren mit ihren lacherlichen paar Knochen, uber denen sie wochenlang bruteten und an denen sie alles ma?en, was sich nur messen lie?, um sich mit dem dafur erforderlichen gro?en Aufwand uber die kummerlichen Resultate hinwegzutrosten. Es war erschreckend, auf wie wenig Material sich etwa die gesamte Palaoanthropologie stutzte. All diese Vor- und Fruh- und Urmenschenknochen zusammengenommcn fullten wahrscheinlich kaum den Wohnzimmerschrank einer deutschen Durchschnittsfamilie, die wissenschaftlichen und popularen Abhandlungen daruber allerdings eine umfangreiche Bibliothek.
Der Schmerz uber diese Erkenntnis blieb aus. Die Gro?artigkeit der Natur, die ihn jetzt umgab, uberwaltigte ihn und er verga?, warum er hier war, hockte den halben Tag hinter seinem Felsen und staunte und schaute, ohne irgend etwas anderes zu empfinden als Gluck und Zufriedenheit. Vieles warf in nur wenigen Minuten alles uber den Haufen, was er und seine Kollegen aus aller Welt in muhevoller Kleinarbeit zusammengetragen hatten. Platybelodon, dieser Schaufelzahner, der keine hundert Meter von ihm entfernt an seinen Wasserpflanzen kaute, war bisher nur aus dem Miozan, also dem spaten Tertiar bekannt, rund zwanzig Millionen Jahre nach der Messelzeit des Eozan. Dasselbe galt fur das Dinotherium, diesen merkwurdigen Elefanten mit den nach unten gebogenen Sto?zahnen. Auch dieses Tier war somit viel alter, als sie bisher vermutet hatten. Brontotherien, die sich in gro?er Zahl an der Tranke einfanden, waren nur aus Nordamerika und Ostasien bekannt und durften eigentlich noch lange nicht das Licht der Welt erblickt haben, und diese grotesken Burschen mit den drei Hornpaaren am Kopf, vermutlich eine zur Familie der Uintatherien gehorende Art namens
Was, um Gottes willen, hatte er da eigentlich sein halbes Leben lang getrieben, nur Unsinn fabriziert, seitenweise Irrtumer und Halbwahrheiten verbreitet?
Da? sie keine Fossilbelege dafur hatten, bedeutete naturlich nicht, da? diese Wesen nicht doch schon fruher existiert haben konnten, das hatte er immer schon gewu?t, nicht erst, seit Sonnenberg ihn darauf aufmerksam machte. Damit ein Kadaver derart lange Zeitraume uberdauern konnte, bedurfte es zahlreicher glucklicher Umstande, die nur in den seltensten Fallen gegeben waren. Genau wie in der Neuzeit hatten damals Millionen von Tierarten die Welt bevolkert, durch handfeste Beweise belegt waren vielleicht einige tausend. Auch was den Zeitpunkt des Auftretens und Aussterbens anging, gab es naturlich betrachtliche Unsicherheiten, die auch kein ernst zu nehmender Kollege in Abrede stellen wurde. Wie oft hatte man etwa die Entstehung des Menschen auf Grund neuer Funde zuruckdatieren mussen. Aber da? sie selbst in relativ jungen und gut uberlieferten Epochen der Erdgeschichte wie dem Tertiar so katastrophal danebenlagen, hatte er bisher nicht fur moglich gehalten.
Erst spat am Nachmittag, als die tiefstehende Sonne die ganze Landschaft in goldenes Licht tauchte, ri? er sich los und suchte nach einem geschutzten Uferabschnitt, wo er sein Lager aufschlagen konnte.
Am Fu?e der Stromschnellen, kurz bevor der Aufstieg in die Berge begann, hatte er ein relativ gro?es Kunststoffruderboot entdeckt. Es lag hinter einem Felsen versteckt ganz in der Nahe des Flu?ufers, mit dem es eine deutliche Schleifspur verband. Unter den Sitzbanken fand er noch einige zuruckgelassene Ausrustungsgegenstande, einen Gummihammer, einen halbvollen Petroleumkanister, auch einige leere Konservendosen, die noch keine Spuren von Rost aufwiesen.
Die letzte Nacht hatte er neben einer alten Feuerstelle verbracht, die ihm, auch wenn er kein besonders versierter Fahrtenleser war, nur wenige Tage oder Wochen alt gewesen zu sein schien. Die Tatsache, da? er auf ihr Boot gesto?en war, und die Vorstellung, da? dies ein Ort gewesen sein konnte, ja mu?te, wo Tobias und sein Freund ubernachtet hatten, verlieh ihm Flugel. Es waren die ersten sichtbaren Hinweise auf die Gegenwart von Menschen, die er entdeckt hatte. Und wer, wenn nicht diese beiden, hatten hier wohl ein Feuer anfachen sollen? Er mu?te sich bremsen, um nach der Entdeckung der Feuerstelle nicht sofort weiterzumarschieren, den beiden Studenten, wie schon in den Tagen zuvor, hinterherzuhetzen, damit er nicht zu spat kam. Aber dann siegte die Mudigkeit, die ihm von dem anstrengenden Marsch in sengender Hitze in den Knochen steckte. Wenigstens uberzeugte ihn diese Entdeckung endlich davon, da? er auf dem richtigen Wege war. Sie lie? die letzten nagenden Zweifel verstummen, die ihn bis dahin immer wieder bedrangt hatten.
Als er vor ein paar Tagen mit seinem Wagen von Berlin aus erst nach Suden, dann in Richtung Osten raste und schlie?lich stundenlang in einer endlosen stinkenden Autoschlange an der tschechischen Grenze warten mu?te, hatte er immer wieder an Sonnenberg denken mussen. Er hatte sich gefragt, ob der alte Gauner ihn nicht womoglich auf eine vollig falsche Fahrte geschickt hatte. Aber letztlich beruhigte er sich wieder, dachte an die echte Verzweiflung auf dem Gesicht des kleinen Mannes, als er begriff, was das Rontgenbild mit dem Schadel zu bedeuten hatte. Axt hatte sich die Sache viel schwieriger vorgestellt. Viel mehr als ein kurzer Blick auf das mitgebrachte Foto und ein paar eindringliche Fragen seinerseits waren nicht notig gewesen, um Sonnenberg zum Reden zu bringen. Als er ihn anhand des Rontgenbildes mit Tobias’ Tod, oder richtiger, seinem moglichen Tod konfrontiert hatte, sprudelte es nur so aus ihm heraus.
Au?erdem waren da die Fotografien gewesen, besonders die von der Hohle, und die verblichene Markierung auf der alten Landkarte. Er glaubte nicht daran, da? Sonnenberg sich die Muhe gemacht und lauter falsche Indizien konstruiert hatte, nicht bei dem heimlichen Vergnugen, das der Alte offenbar dabei empfand, wenn er seinen tertiaren Prachtkafer uberall herumzeigen konnte. Trotzdem nagten noch tagelang Zweifel an seiner Entschlossenheit, bis jetzt, bis er zuerst das Boot und dann die Feuerstelle entdeckt hatte.
Axt mu?te sich immer wieder daran erinnern, da? Tobias nicht notwendigerweise schon tot war, obwohl er seine Leiche, sein fossiles Skelett, ja mit eigenen Augen gesehen hatte. Der Gedanke widersprach dem gesunden Menschenverstand, erzeugte verwickelte Knoten im Gehirn und war doch ganz logisch. Es gab noch eine Chance, eine winzige Moglichkeit, es zu verhindern, sonst hatte all dies hier keinen Sinn. Axt war fest davon uberzeugt, da? er es schaffen konnte. Tobias hatte noch vor wenigen Wochen gelebt. Erst auf dieser Reise wurde er irgendwo den Tod finden. Um sich anzustacheln, um in seinen Bemuhungen nicht nachzulassen, versuchte Axt sich immer wieder klarzumachen, da? dieser Moment noch nicht eingetreten sein mu?te. Tobias hatte ihm ja quicklebendig gegenubergestanden, wahrend gleichzeitig die gro?e Schieferplatte mit seinen Uberresten im Keller der Messeler Station herumlag. Au?erdem blieb selbst im ungunstigsten Falle noch offen, was aus dem anderen Zeitreisenden, diesem Michael, geworden war. Da? er sein Skelett nicht gefunden hatte, hie? ja nicht, da? er nicht vielleicht auch verletzt oder gar tot sein konnte. Vielleicht irrte er hier irgendwo in der Gegend herum. In jedem Fall mu?te er sich beeilen, durfte sich von Zweifeln und Bedenken nicht aufhalten lassen.
Er hatte den vollig verunsicherten und niedergeschlagenen Sonnenberg in seinem Institut zuruckgelassen und war sofort in einen Laden fur Expeditionsbedarf gehetzt. Diese Laden gab es in Berlin in uberraschend gro?er Zahl, so als ob die halbe Stadt aus Extrembergsteigern, Dschungelwanderern, Antarktisdurch-querern und anderen Uberlebenskunstlern bestunde. Dort hatte er sich mit allem eingedeckt, was er zu benotigen glaubte. In einem anderen Laden hatte er das Boot gekauft und kurz entschlossen auch den Au?enbordmotor, damit er schneller vorankam. Noch am selben Abend war er dann in Richtung tschechische Grenze aufgebrochen.