»Feiglinge!« stie? er verachtlich aus. »Wahrscheinlich wollt ihr euch zu Hause nur in euer trautes Liebesnest sturzen, und ich bin euch hier im Wege.«

Was Micha anging, hatte er damit gar nicht so unrecht, aber Claudia reagierte ziemlich ungehalten. »Mein Gott, Tobias! Was soll denn das jetzt? Du bist ein unertraglicher Angeber. Vor ein paar Tagen hast du dich noch zitternd und phantasierend auf dem Boden gewalzt und keine Sonne gesehen. Und jetzt markierst du hier den starken Mann. Du machst dich ja lacherlich.«

Schweigen. Tobias hatte sich abgewendet. Seine Kiefermuskulatur arbeitete.

»Es ist mein Boot.«

»Wie bitte?« Micha hatte ihn nur zu gut verstanden.

»Die Titanic gehort mir«, pre?te er hervor. Seine Lippen zitterten vor Wut.

»Ach!« Micha blieb fast die Spucke weg. »So lauft der Hase jetzt. Dann gehort der Proviant mir und die Medikamente auch.«

»Behalt doch deinen Schei?proviant. Aber ohne das Boot seid ihr aufgeschmissen.«

»Und womit willst du weiterfahren? Die Titanic liegt unten an den Stromschnellen. Willst du sie hier raufschleppen? Ach so, klar, das wurdest du mit deinem Arm auch noch fertigbringen, was? Hast ja noch die andere Hand, oder? Mann, du bist ein solches Arschloch.«

Tobias wirkte verunsichert. Die Sache mit dem Boot hatte ihm offensichtlich zu denken gegeben. Er schaute zu Herzog hinuber, aber der nahm die Pfeife aus dem Mund und schuttelte den Kopf.

»Das Flo? bekommst du nicht. Das schlag dir mal gleich aus dem Kopf, mein Junge. Aber ... bevor ihr euch hier gegenseitig an die Gurgel springt ...« Er rausperte sich, schaute jeden einzelnen nacheinander ernst an, und Micha sah wieder diesen Vorwurf in seinen Augen, wie damals, als sie ihn zum ersten Mal trafen: Das hier ist nichts fur euch, seht das doch endlich ein. »Es ist normalerweise wirklich nicht meine Art, mich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, schon gar nicht, wenn die meinen, unbedingt hierherkommen zu mussen, aber in eurem Fall ...« Sein Gesichtsausdruck hatte immer etwas Grublerisches, aber jetzt sah er noch nachdenklicher aus als sonst. »... in eurem Fall ist das etwas anderes. Ich wei? selbst nicht so genau, warum. Vielleicht wegen meiner alten Freundschaft zu Sonnenberg. Ich wei? es nicht. Wahrscheinlich mache ich einen gro?en Fehler, aber aus irgendeinem Grunde kann ich es nicht mitansehen, wie ihr in euer Verderben lauft, so oder so. Vielleicht kann ich euch einen Kompromi? fur euer Problem anbieten.«

Verlegen ruckelte er auf seinem wackligen Hocker hin und her. Man sah ihm an, da? er sich nicht ganz wohl fuhlte in seiner Haut.

»Wenn ihr versucht, allein den Wald zu durchqueren, werdet ihr mit gro?ter Wahrscheinlichkeit scheitern. Im gunstigsten Falle werdet ihr viel Zeit verlieren, und das in einer ziemlich ungemutlichen Gegend. Das ist auf Dauer kein Ort fur Menschen. Eigentlich dachte ich, ihr hattet das endlich begriffen. Im ungunstigsten Fall werdet ihr nie zuruckkehren, werdet irgendwo jammerlich verrecken. Es sei denn .«

»Ja?« fragte Tobias gespannt.

»Es sei denn, ich komme mit.«

»Hey, das ware Spitze, Mann!« In Tobias’ Gesicht kehrte wieder die Farbe zuruck.

»Das wurdest du tun?« fragte Claudia.

»Sonst wurde ich es nicht sagen. Allerdings ...« Er zog an seiner Pfeife. »Ich sag’s ganz ehrlich. Ich will, da? ihr von hier verschwindet, je eher, desto besser. Au?erdem hat Michael ganz recht. Tobias’ Arm mu? in einem vernunftigen Krankenhaus behandelt werden. Wenn ihr auf eigene Faust weitermachen wollt, bitte, aber in diesem Fall konnt ihr nicht auf meine Hilfe zahlen. Ich meine es ernst. Ich werde keinen Finger ruhren, wenn ihr da drinnen verfault, ist das klar?« Wieder diese Blicke. Ihr habt keine Chance. »Mein Angebot ist folgendes: Ihr zeigt mir den Baum mit den Stoffhauben, den ihr gesehen habt, und ich fuhre euch in den Dschungel, in ein wunderschones Gebiet, das ihr alleine nie finden wurdet. Danach will ich euch hier nicht mehr sehen, dann mu?t ihr zuruck.«

Tobias stie? verachtlich die Luft aus und blickte demonstrativ zur Seite.

»Okay, ich bin einverstanden«, sagte Micha schweren Herzens. Ihm ware eine direkte Heimreise ohne weitere Dschungelausfluge lieber gewesen. Aber wenn es denn nicht anders ging .

»Ich auch«, sagte Claudia.

Tobias sprang auf und verschwand in der Dunkelheit. Es dauerte eine halbe Stunde, bis er wieder auftauchte und zahneknirschend zustimmte.

Nicht auszudenken, was aus ihnen geworden ware, wenn sie diesen Mann nicht getroffen hatten. Zuerst der Unfall von Tobias und jetzt diese Streiterei. Wer wei?, vielleicht waren sie wirklich irgendwann uber einander hergefallen. Micha war jedenfalls sicher, da? er Tobias’ Anblick nicht mehr lange ertragen konnte.

Zwei Tage spater packten sie ihre Sachen, stiegen zu Fu? in die Ebene hinunter und liefen dann in einem schragen Winkel auf den Flu? zu, an dessen Ufer sie ein erstes Lager aufschlugen.

Tobias war den ganzen Tag uber mufflig und schlecht gelaunt gewesen, schien sich aber mit seiner Niederlage abgefunden zu haben. Am Abend, als sie in der Dammerung um das Feuer herumsa?en, entspann sich eine Diskussion uber die Kambrische Explosion.

»Die was?« fragte Claudia.

»Kambrische Explosion, so nennt man das plotzliche Auftreten zahlreicher neuer Tiergruppen etwa 570 Millionen Jahre vor eurer Zeit«, erlauterte Herzog. »Sie hatten erstmals Hartteile, aus Kalk oder Chitin, die sich als Fossilien uberliefern konnten.« Micha fand es befremdlich, da? er von »eurer Zeit« sprach, so als rechnete er sich nicht mehr dazu. Er tat das nicht zum erstenmal.

»Schlagartig erschienen fast alle Tierstamme auf der Bildflache, die spater auch die moderne Fauna bilden sollten. Seitdem ist wohl nichts wesentlich Neues mehr hinzugekommen, nur eine Unzahl von Variationen uber diese alten Themen. Uber die Ubergange, und woher diese neuen Bauplane damals plotzlich kamen, wissen wir so gut wie nichts. Alles scheint ziemlich schnell gegangen zu sein, eine Art Urknall des Lebens. Leider gibt es ausgerechnet aus den Phasen der Erdgeschichte, in denen es wirklich spannend war, fast keine Fossilien.«

Er schaute Tobias an. Ihm fehlten ja zehn Jahre der aktuellen wissenschaftlichen Entwicklung in ihrer Zeit. Herzog lachelte und fragte. »Einverstanden, Herr Kollege?«

Tobias nickte. »Da gibt es aber diese beruhmten Fossilien aus Kanada, vom Burgess Shale.«

»Na, das ist doch ein alter Hut. Die sind doch schon seit Anfang des Jahrhunderts bekannt.« Herzog wollte ihn provozieren. Die beiden trugen in letzter Zeit oft kleinere Rangeleien aus, auf rein fachlicher Ebene versteht sich.

»Ja, das stimmt schon«, sagte Tobias mit einem triumphierenden Grinsen, »aber man interpretiert sie heute ganz anders als zu deiner Zeit.« Er liebte es, wenn er Herzog mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verbluffen konnte. Herzog nahm ihm das anscheinend nicht ubel. Es machte ihm im Gegenteil Spa?, sich mit Tobias zu streiten oder ihm einfach nur zuzuhoren.

»Es gibt unter den Funden vom Burgess Shale einige Tiere, die sich ganz klar den modernen Formen zuordnen lassen, Seeigel, Korallen und Krebse zum Beispiel. Aber es gibt eben auch zahlreiche sehr merkwurdige Kreaturen, fur die spater keinerlei Entsprechungen mehr existieren. Kurz nach ihrem Entstehen war fur sie gleich wieder Endstation. Ein Wissenschaftler hat sie mal >irre Wundertiere< genannt.«

»Irre Wundertiere«, wiederholte Claudia.

»Klingt nicht besonders wissenschaftlich«, warf Micha ein.

»War ein Amerikaner. Die stellen sich damit nicht so an wie die Deutschen. Bei denen hat auch so etwas Platz in der Wissenschaft. Ich glaube, der war einfach total begeistert von diesen neuen Entdeckungen und das wollte er auch weitervermitteln.«

»Und was sind das nun fur irre Wundertiere?« fragte Herzog schmunzelnd.

»Die haben auch so tolle Namen, mir fallt jetzt nur noch Wiwaxia und Hallucigenia ein. Er behauptet jedenfalls, da? die Vielfalt an unterschiedlichen tierischen Bauplanen in dieser sehr fruhen Phase der Entwicklung wesentlich gro?er war als zu jedem anderen spateren Zeitpunkt.«

»Na, das ist ja abenteuerlich.« Herzog verzog zweifelnd das Gesicht.

»Wieso? Es war schon im Kambrium alles da. Spater hat es sich nur immer weiter spezialisiert und verfeinert, das hast du doch selbst gesagt. Aber es gab eben gleichzeitig noch viel mehr, was nicht uberlebt hat, Tiere mit einem Korperbau, wie es ihn spater, nach ihrem Verschwinden, nie wieder gegeben hat.«

»Weil die anderen einfach besser waren.«

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату