»Nein, eben nicht.«
»Sondern?«
»Ich kann es dir jetzt nicht mehr im einzelnen erklaren, aber ... die uberlebenden Arten hatten einfach Gluck.«
»Aha! Gluck.«
»Ja, der gro?e Meteor fiel nicht ihnen, sondern den anderen auf den Kopf.«
Herzog schmunzelte. »Wirklich sehr uberzeugend. Endlich haben wir die Erklarung.«
Tobias sah Micha verzweifelt an. »Sag du doch auch mal was. Wir haben doch schon oft daruber diskutiert.«
»Aber es ging immer nur darum, ob man in einer bestimmten Zeit voraussagen kann, wer aussterben wird und wer nicht. Diese Fossilien kenn ich nicht.« Micha sah ihn eigentlich ganz gerne so zappeln, ganz egal, ob er nun recht hatte oder nicht.
Tobias warf ihm einen bosen Blick zu. »Na, jedenfalls ist nach Meinung dieses amerikanischen Experten die ubliche Darstellung der Evolution als Baum, der unten schmal ist und sich nach oben hin immer weiter verzweigt, falsch.«
»Und was schlagt er statt dessen vor?« Herzog amusierte sich offenbar kostlich. Er hatte in der Zwischenzeit seine Pfeife gestopft und paffte genu?lich den ubelriechenden Rauch in die klare Abendluft.
»Umgekehrt, eher eine Art Pyramide, unten mit einer breiten Basis, die sich nach oben hin verschmalert, wobei die uberlebenden Aste sich immer weiter und feiner verzweigen. Warte mal!« Tobias blickte umher und suchte den Boden ab. »Gibt’s denn hier nichts .«
Er griff nach einem Stockchen und kratzte in etwa die folgende, annahernd dreieckige Figur in den Sand des Lagerplatzes.
»So ist die herkommliche Vorstellung des Stammbaums, wie man sie in fast allen Buchern findet: ein gemeinsamer Ursprung und davon ausgehend mit Fortschreiten der Zeitachse immer gro?ere Vielfalt, immer mehr Verzweigungen, immer hohere Komplexitat.«
»Logisch«, sagte Claudia. »Wie soll es denn sonst gewesen sein?«
Herzog hielt den Kopf schief, um die Figur besser betrachten zu konnen. »Er will das Ganze sozusagen auf den Kopf stellen.«
»Nicht ganz«, sagte Tobias. Neben der ersten entstand eine zweite, etwas kompliziertere Figur. Sie ahnelte entfernt einem Kamm, dem etliche Zahne fehlten.
»Naturlich wieder der gemeinsame Ursprung, dafur sind die Beweise einfach zu uberwaltigend. Fast alle Lebewesen haben denselben genetischen Code, ahnlichen Zellaufbau, ahnliche Biochemie und so weiter. Aber dann kam es relativ bald und in erstaunlich kurzer Zeit zu einer Aufspaltung in zahlreiche verschiedene Typen von Tieren mit jeweils unterschiedlichen Bauplanen, von denen spater viele, wenn nicht die meisten, wieder ausstarben. Das nennt man Kambrische Explosion. Nur wenige dieser ursprunglichen Ideen entwickelten sich weiter und brachten eine gro?e Artenfulle hervor. Vielleicht wiederholte sich dieses gro?e Muster sogar in den einzelnen ubriggebliebenen Asten. Man nennt das auch Raketenschema. Die Saugetiergruppen sind ja auch alle in relativ kurzer Zeit entstanden.«
»Die Blutenpflanzen genauso«, fugte Claudia hinzu. »Daran bei?en sich viele Evolutionsforscher noch heute die Zahne aus.«
»Dann ware die Tierwelt in unserer Zeit ja im Grunde nur noch ein kummerlicher Rest einstiger Vielfalt«, sagte Micha erstaunt. »Das, was sich irgendwie durchgemogelt hat.«
»Kummerlich ist vielleicht etwas ubertrieben, aber so ahnlich sieht es wohl aus, ja. Und wir konnen wirklich von Gluck reden, da? unter den Uberlebenden irgend etwas war, aus dem sich die Wirbeltiere entwickeln konnten. Sonst gab’s uns namlich nicht, und das war doch echt schade.«
»Na ja ...«, sagte Herzog.
Pencil knurrte, verlie? seinen Platz an Claudias Seite und lief zum Ufer hinunter.
»Wie auch immer«, sagte Claudia, wahrend sie Pencil hinterherblickte. »Es ist jedenfalls erstaunlich, da? nur Anpassung und Selektion zu dieser Artenvielfalt gefuhrt haben sollen.«
Herzog nahm seine Pfeife aus dem Mund und schuttelte den Kopf. »Selektion ja, Adaptation mitnichten.«
»Jetzt erzahl mir blo? nicht, da? Organismen sich nicht so gut es geht, ihrer Umwelt anpassen.« Tobias stutzte seinen gesunden Arm auf den Oberschenkel und starrte Herzog entrustet an.
»Tut mir leid, dich enttauschen zu mussen, aber ich glaube wirklich nicht daran, da? jede noch so unbedeutende Struktur, jeder Farbfleck, jede abstruse Verhaltensweise ihren Besitzern einen Selektionsvorteil verschafft. Das ist doch ein Totschlagargument. Ein phantasievoller Beobachter kann sich fur alles eine Erklarung ausdenken, irgendeinen angeblichen Anpassungswert, aber ob das stimmt, ist eine ganz andere Frage.«
»Wuff«, machte Pencil.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte Herzog zu Tobias. »Ich geb dir ein Beispiel. Faultiere koten nur etwa einmal in der Woche, was fur einen Pflanzenfresser eine echte Spitzenleistung ist. Obwohl das extrem gefahrlich fur sie ist, klettern sie dazu von ihrem Baum herunter, schei?en neben den Stamm und vergraben dann ihre Exkremente. Ein ziemlich idiotisches Verhalten fur ein Tier, da? auf dem Erdboden vollig hilflos ist. Worin, glaubst du, besteht also der Anpassungswert?«
»Es will durch seinen Kot keine Raubtiere auf sich aufmerksam machen«, schlug Claudia vor. »Pencil, komm her!« Der Dackel lief aufgeregt herum und bellte.
»Nicht schlecht, aber die gefahrlichsten Feinde fur Faultiere kommen nicht von unten, sondern von oben: Schlangen und Raubvogel.«
»Vielleicht dungen sie auf diese Weise ihren Wohnbaum, damit sie mehr zu fressen haben, ohne sich gro?artig von der Stelle bewegen zu mussen. Sind ja schlie?lich Faultiere«, sagte Micha und lachte.
»Genau.«
»Wie?«
»Du hast vollig recht«, sagte Herzog. »Das ist jedenfalls das, was den Experten dazu eingefallen ist. Angeblich soll das Faultier durch die erhohte Vitalitat des Baumes schlie?lich mehr Nachkommen erzeugen als ohne die Dungung. Absurd, nicht wahr? Dazu mu?te es sich nicht extra nach unten bemuhen. Au?erdem ware es unter diesen Umstanden doch vernunftiger, viel haufiger als nur einmal in der Woche zu koten. Was ich sagen will, ist: Vielleicht gibt es gar keine vernunftige Erklarung fur dieses selbstmorderische Verhalten. Natur hat nicht viel mit Vernunft zu tun. Warum haben alle Insekten sechs Beine, obwohl es sich mit vier oder acht oder hundert Beinen genausogut laufen la?t. Hat dieses Merkmal also einen adaptiven Wert?«
Herzog zog ein paarmal an seiner Pfeife. »Und um auf deine Stammbaume da zuruckzukommen . « Er zeigte auf die Zeichnungen im Sand. »Ich glaube nicht, da? dein Amerikaner recht hat.«
Tobias sah ihn herausfordernd an. »So. Und warum nicht?«
»Intuition, Gefuhl.«
»Schsch«, machte Claudia. »Sei endlich ruhig, Pencil!«
»Gefuhl?« Tobias legte ein mitleidiges Lacheln auf. »Das sagst ausgerechnet du? Klingt fur mich nicht sehr uberzeugend.«
»Vielleicht, aber Gluck ist in diesem Zusammenhang auch kein besonders uberwaltigendes Argument.«
Micha glaubte nicht, da? Herzog wirklich meinte, was er sagte. Es war ein Spiel und Tobias ein dankbares Opfer fur Scherze dieser Art.
»Hm«, knurrte Tobias verstandnislos, stand auf und wischte einmal mit dem rechten Turnschuh quer uber seine Zeichnungen. »Nur weil es uns nicht pa?t, mu? es ja nicht falsch sein. Was hat denn die dumme Tole?«
Pencil hatte unten am Flu?ufer Stellung bezogen und klaffte die Nacht an.
»Ich wei? auch nicht«, sagte Claudia und zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich irgendein Tier.«
»Vielleicht ist er das Vagabundenleben nicht mehr gewohnt«, schlug Micha vor.
»Quatsch!«
Herzogs Kopf fuhr herum. »Habt ihr das gehort?«
»Was?«