»Da hat jemand >hallo< gerufen.«
»Hier? Du spinnst!« sagte Tobias noch immer verargert.
Sie sprangen auf, als hatten sie in einem Ameisennest gesessen.
»Wer, zum Teufel, kann das sein?« fragte Claudia und ergriff Michas Arm.
»Keine Ahnung«, sagte er nicht besonders beunruhigt. Immerhin waren sie zu viert, und au?erdem kundigte sich dieser Jemand ja laut genug an. Wenn das ein Uberfall sein sollte, dann war er ziemlich dilettantisch vorbereitet.
»Helmut Axt?« fragten Claudia und Herzog wie aus einem Mund.
»Das war doch dieser Typ aus Messel, der von dem Vortrag, erinnerst du dich, Micha? So hie? der doch. Was . « Aber bevor Tobias ausreden konnte, sah man eine keuchende Gestalt aus dem Dunkel stolpern. Pencil klaffte sich die Seele aus dem Leib.
Der Mann trat noch ein paar Schritte naher - Herzog, hatte inzwischen die Hand an seinem imposanten Buschmesser -, dann wuchtete er seinen Rucksack vom Rucken, stand einfach nur da und grinste, wahrend sich seine Brust hob und senkte.
»‘n Abend«, sagte er.
Micha erkannte den nachtlichen Besucher, obwohl der jetzt einen Bart trug. Es war der Palaontologe aus Messel, den er damals nach dem Kafer gefragt hatte. Seltsam, dachte er, da? auf dieser Reise andauernd aus dem Nichts Leute auftauchen, mit denen niemand gerechnet hat. Erst Claudia, dann Herzog und jetzt dieser Axt. Was hatte das zu bedeuten?
Eine Weile sagte niemand etwas, selbst Pencil hielt die Klappe. Dann steuerte Axt zielstrebig auf Tobias zu und streckte ihm die Hand hin.
»Sie mussen Tobias sein. Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen.«
Tobias sah ihn an, wie man einen Geist ansehen wurde, wenn er auf einen zukame, um einem die Hand zu schutteln. Als er nicht reagierte, zeigte Axt auf Tobias’ Lehmverband. »Was ist mit Ihrem Arm passiert? Gebrochen?«
Tobias starrte ihn finster an und zeigte weiterhin keinerlei Reaktion. Axt drehte sich um und wandte sich Micha zu.
»Und Sie sind Michael. An mich erinnern Sie sich ja vielleicht noch.«
»Hm«, sagte Micha. »Ja, ich erinnere mich.«
Axt nickte freundlich. »Und Sie beide sind eine echte Uberraschung fur mich, das mu? ich sagen.« Er schaute Claudia an, die immer noch neben Micha stand und seinen Arm festhielt.
»Das ist Claudia, meine Freundin«, sagte Micha und ihm fiel gar nicht auf, da? er dieses Wort in Zusammenhang mit ihr zum ersten Mal in den Mund nahm. Er spurte, wie ihre Hande an seinem Arm fester zudruckten.
»Vielleicht konnen Sie uns mal erklaren, was Sie hier zu suchen haben?« fragte Tobias mit scharfer Stimme.
Er und Herzog, der sich immer noch an seiner Machete festhielt, standen jetzt dicht nebeneinander. Passen eigentlich gar nicht schlecht zusammen die beiden, dachte Micha, wie Vater und Sohn. Er konnte sich zuerst nicht recht erklaren, warum sie so feindselig auf Axt reagierten, der nun wirklich keine Bedrohung fur sie darstellte. Aber dann verstand er, was in ihren Kopfen vorging. Sie brachten ihn mit den Fallen in Verbindung, mit den von Gazehauben verhullten Baumbluten, die sie im Dschungel entdeckt hatten, mit den Explosionen, die laut Herzog zu dem Erdrutsch gefuhrt und einen ganzen Moorsee verschuttet hatten. Sie dachten, er sei womoglich der gro?e Unbekannte, der hier sein Unwesen trieb.
Naturlich wunderte sich auch Micha daruber, da? dieser Mann plotzlich auftauchte wie eine Geistererscheinung. Er glaubte nicht, da? Axt etwas mit den mysteriosen Vorgangen zu tun hatte, aber genau konnte man so etwas naturlich nie wissen. Wie sah jemand aus, der versuchte vergangenes Leben zu manipulieren? Wie Boris Karloff als Frankensteins Monster? Er schien im ubrigen gewu?t zu haben, da? sie hier waren, hatte sie mit Namen begru?t. Wie konnte er das wissen? Vorsicht war sicher angebracht.
Pencil war nach seiner Hysterie und dem darauffolgenden Erschopfungszustand in die Phase angstlicher Neugier hinubergewechselt. Vorsichtig beschnuffelte er Stiefel und Rucksack ihres Besuchers, immer auf der Hut, um beim geringsten Anzeichen von Gefahr sofort den Ruckzug anzutreten und wieder loszubellen. Der kleine Kerl war ein Phanomen. Micha konnte mittlerweile nachvollziehen, warum Claudia so an ihm hing.
»Ja, also . « Axt wirkte jetzt verlegen und blickte immer wieder verstohlen zu Herzog hinuber, der keine Anstalten machte, sich vorzustellen. »Ich will Ihnen gerne erklaren, warum ich hier bin und wie es dazu gekommen ist. Aber wollen wir uns nicht vielleicht setzen?« Verunsichert blickte er von einem zum anderen. »Es ist eine langere Geschichte, wissen Sie. Ich meine, ich kann’s ja selbst kaum glauben.« Er machte eine hilflose Geste, die ihre Gruppe, ihn selbst, den Flu?, die Baume, uberhaupt alles einschlie?en sollte.
Einen endlos erscheinenden Moment lang geschah nichts. Sie standen bewegungslos um das Feuer, das gespenstische Figuren in die Finsternis malte. Irgendwo rief ein Vogel. Axt wurde immer nervoser. Als er sich von der Stelle ruhrte, fing Pencil an zu knurren, und obwohl der kleine Dackel nicht besonders bedrohlich wirkte, zuckte ihr Besucher sofort zusammen.
»Bitte, horen Sie mich doch an. Bei uns gehen seltsame Dinge vor.« Seine Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen, und er sah jetzt erschopft und mude aus. »Ich bitte Sie«, sagte er noch einmal. Sein gehetzter Blick zeigte, da? ihm ganz und gar nicht wohl war in seiner Haut. »Geben Sie mir doch eine Chance!«
Claudia war die erste, die reagierte. Sie lie? Michas Arm los, hockte sich auf einen der Baumstamme, die neben dem Feuer lagen. Dann folgten Micha und schlie?lich Herzog.
»Danke«, sagte Axt, und seine Erleichterung klang aufrichtig. Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden, schaute sie reihum an. »Sie haben wirklich nichts von mir zu befurchten, glauben Sie mir!«
»Also, wir horen«, sagte Tobias.
»Tja, wo soll ich anfangen?« Axt rieb sich mit der Hand uber das Gesicht. »Es ist eine ziemlich verwirrende Geschichte, wissen Sie.«
Naturlich erzahlte er ihnen nichts von dem Skelett, Tobias’ Skelett. Er konnte ihm ja wohl kaum ins Gesicht sagen, da? er ihn gefunden hatte, als funfzig Millionen Jahre altes Fossil, in Olschiefer konserviert, da? er in au?erster Lebensgefahr war, solange er sich hier aufhielt. Nein, das war vollig ausgeschlossen. Sie hatten ihm kein Wort geglaubt. Er mu?te sich etwas anderes uberlegen.
Sein erstes Ziel hatte er jedenfalls erreicht. Noch lebte Tobias. Das war schon mehr, viel mehr, als er bei ehrlicher Einschatzung der Lage erwarten durfte. Immer wieder sah er das Rontgenbild vor sich, das er so oft angestarrt hatte. Welches unbeschreibliche Gefuhl, ihm gegenuberzustehen, einem Menschen aus Fleisch und Blut, auch wenn er sich zunachst so abweisend verhielt und seine ausgestreckte Hand ignorierte! Ihm war diese durre Gestalt nicht gerade sympathisch, aber darum ging es nicht. Der Zahndiamant blinkte hin und wieder im Schein des Lagerfeuers auf. Ohne diesen seltsamen Stein hatte er ihn nie erkannt. Und jetzt stand er tatsachlich vor ihm, von Angesicht zu Angesicht, und er mu?te nur noch aufpassen, da? ihm nichts passierte. Vielleicht konnte er sie ja irgendwie uberreden, wieder zuruckzufahren.
Wer war dieser altere Mann mit dem krausen Bart? Er verunsicherte Axt. Sein Miene war undurchdringlich, alles andere als freundlich. Er starrte ihn finster an und legte seine Hand immer wieder drohend auf diese furchteinflo?ende Machete, die er an seinem Gurtel trug. Bisher hatte er noch kein Wort gesagt. Wo kam er her? Wie hatten sie ihn getroffen?
Wahrend dieser schrecklichen Minuten, als niemand etwas sagte, als das Feuer und seine muden Augen die Gesichter der vier fur kurze Zeit in diabolische Fratzen verwandelten, als sie ihn schweigend anstarrten wie ein Trupp ausgehungerter Kannibalen, hatte er fieberhaft uberlegt, was er sagen sollte, wenn sie ihn denn uberhaupt zu Wort kommen lie?en, und schlie?lich war ihm die Geschichte mit Sabines Fledermaus eingefallen. Wie sich bald herausstellte, hatte er damit genau ins Schwarze getroffen. Je mehr er davon erzahlte, von den Skeletten in aller Welt, die einfach verschwanden, von dem Kafer, den Sonnenberg ihm geschenkt hatte, die ganze lange Geschichte, die ihm jetzt, wo er sie im Zusammenhang darstellen mu?te, erneut eine Gansehaut nach der anderen uber den Rucken jagte, desto mehr erwachte ihr Interesse, desto aufmerksamer wurden ihre zunachst so