Erde ein ganzlich andersartiges Aussehen angenommen, wenn nicht Individuum A, sondern B den entscheidenden Schritt an Land gewagt hatte, weil B sich in vielen kleinen Details von A unterschied.

Die Moglichkeiten und Konsequenzen dieser Gedanken waren so schwindelerregend, da? Micha kaum wagte, sich von der Stelle zu bewegen, aus Angst, mit einer unachtsamen Bewegung, einem unvorsichtigen Schritt, ja, einem einfachen Atemzug die Fauna und Flora ferner Erdzeitalter zu vernichten.

Aber er mu?te bald einsehen, wie unsinnig diese Angst war. Der freigewordene Platz wurde ja von jemand anderem eingenommen werden. Nur das Verschwinden der einen ermoglichte das Aufbluhen der anderen Gruppe. Ohne das Aussterben der Trilobiten hatten viele andere Meereslebewesen vielleicht nie eine Chance zur Entfaltung bekommen, und ohne die Vernichtung der Dinosaurier waren die Saugetiere moglicherweise die kleinen, nachtaktiven, scheuen Wesen geblieben, die sie im Erdmittelalter waren, mit gro?er Sicherheit aber ware der Mensch so nie entstanden.

In der gro?en Lotterie des Lebens, im permanenten Auf und Ab des Werdens und Vergehens wurden die Hauptgewinne immer wieder neu verteilt. Wer heute eine Niete zog, in einer verborgenen und geschutzten Nische aber am Leben blieb, erwischte morgen vielleicht das gro?e Los.

Da? ihre eh schon arg gebeutelte Welt in der jetzt so fernen Neuzeit auf diese hinterhaltige Weise, durch die Ignoranz abenteuersuchender Urzeittouristen oder den Gro?enwahn irgendwelcher Mochtegerngotter gefahrdet werden konnte, hatte Micha sich selbst im Traum nie vorzustellen gewagt.

Hatte er um diese Gefahr gewu?t, er ware nie soweit gefahren.

Aber mit Sicherheit war ihr Besuch harmlos im Vergleich zu dem, was passierte, wenn die Wissenschaft von der Hohle Wind bekam. Genau das war ja Herzogs gro?e Befurchtung. Vielleicht hatten sie es hier mit jemandem zu tun, der sich die Moglichkeiten der Hohle ganz bewu?t zunutze machte. Was, wenn hier tatsachlich jemand mit der Geschichte des Lebens herumexperimentierte? Werkzeuge, die den Wissenschaftlern durch Zufall in die Hande fielen und neue Wege der Forschung eroffneten, waren in der langen Geschichte der Naturwissenschaften selten ungenutzt geblieben. Wer gentechnologische Forschung betrieb und die Welt, trotz aller Risiken, mit transgenen Mischgeschopfen bevolkern wollte, wurde vor direkten Experimenten mit der Evolution nicht zuruckschrecken.

Axt zitierte in diesem Zusammenhang den Ausspruch irgendeines schlauen Menschen. »Wer nur einen Hammer hat, dem erscheint die ganze Welt als Nagel«, hatte er gesagt.

»Ja«, brummte Herzog daraufhin, »und er wird sich damit verdammt leicht und sehr schmerzhaft auf die Finger hauen.«

Trotz der unheimlichen Moglichkeiten, die sich da als drohende Unwetterwolken abzuzeichnen begannen, kam Micha die Eile, die Herzog und Axt an den Tag legten, reichlich ubertrieben vor. Die Chance, da? sie dem Unbekannten begegnen wurden, war angesichts der riesigen Ausdehnung des Dschungels, die Herzog fruher bei jeder Gelegenheit betont hatte, gleich Null. Zudem hatten sie ja mit eigenen Augen gesehen, wie unubersichtlich und unzuganglich das Gelande war. Es stellte ein so unuberschaubares Gewirr von Wasserlaufen, Sumpfflachen, dichten Urwaldern und tuckischen Schlammlochern dar, da? die Chance, diesem Saboteur des Lebens, diesem Evolutionsterroristen, das Handwerk legen zu konnen, au?erordentlich gering war. Daran festzuhalten grenzte fatal an Augenwischerei und eine tragische Verkennung der Realitaten. Andererseits, irgend etwas mu?te geschehen. Wenn Herzogs Befurchtungen auch nur ansatzweise zutrafen, dann konnten sich in Zukunft statt fossiler Fledermausskelette noch ganz andere Sachen in Luft auflosen.

Ein weiterer Abend am Lagerfeuer und wieder ein Gesprach uber die gro?en Tragodien in der Geschichte des Lebens, die Massenaussterben. Seltsam, da? es fur ein solches Wort uberhaupt einen Plural gibt.

»Und was wird aus all dem hier?« fragte Claudia. Die Frage war an alle gerichtet und eher rhetorisch gemeint. Sie wu?te ja, da? in den Zoos der Zukunft keine Dinotherien, sondern Elefanten herumstanden. Aber sie schaute zu Axt hinuber, der neben Herzog am Feuer sa?.

»Humus, was denn sonst«, antwortete Tobias. »Und Fossilien.«

Axt schmunzelte. »Ich wurde sagen, eigentlich nichts Besonderes. Fast alle Phasen des Massenaussterbens gingen mit einer deutlichen globalen Abkuhlung einher, und in etwa zehn Millionen Jahren wird es mal wieder soweit sein. Eine Generation von Saugetieren wird abtreten und einer neuen Platz machen. Das seit dem Zeitalter der Dinosaurier herrschende Treibhaus- wird relativ schnell in ein Kuhlhausklima umschlagen. Was dann aus dieser tropischen Welt hier werden wird, kann man sich ja vorstellen. Alles, was lebt, wird versuchen nach Suden auszuweichen, Richtung Aquator. Die Lebensraume werden drastisch zusammenschrumpfen. Wenn sie Gluck haben, schaffen sie es .«

»Siehst du, Ernst!« rief Tobias dazwischen. »Er spricht auch von Gluck.«

Axt schaute irritiert. »Na ja, und wenn nicht ...«

Schweigen.

Typisch Wissenschaftler, dachte Micha. Wahrscheinlich hatte Claudia die Frage anders gemeint, irgendwie poetischer.

Seit ihm bewu?t war, da? ihr Handeln hier die Zukunft und damit die Bedingungen ihrer eigenen Existenz mitbestimmte, bewegte er sich ganz anders, viel bewu?ter, vorsichtiger. Durch die Zeitreise war ihre eigene Gegenwart, das Holozan, zur fernen Zukunft geworden, und sie konnten nun zu Opfern ihrer eigenen Fehler werden.

Je naher sie dem Urwald kamen, desto seltsamer wurde das Verhalten von Helmut Axt. Micha war schon in den Tagen zuvor aufgefallen, da? der Palaontologe aus irgendeinem nicht recht nachvollziehbaren Grund die Nahe von Tobias suchte. Anfangs war er sich nicht sicher, aber jetzt war es nicht mehr zu ubersehen. Er fand das verwunderlich, da Tobias Axt sehr kuhl und distanziert behandelte, wahrend er bei den anderen schon lange als gleichberechtigtes Gruppenmitglied akzeptiert war. Tobias hingegen wurdigte ihn weiterhin kaum eines Blickes, widersprach ihm, wo er nur konnte, und zeigte alle Symptome einer ausgepragten Antipathie. Trotzdem blieb Axt immer in seiner Nahe, behielt ihn stets im Auge. Wenn Tobias einmal au?er Reichweite war, wurde er nervos, unterbrach eine Unterhaltung mitten im Satz und entfernte sich unter fadenscheinigen Begrundungen vom Lager, um ihn zu suchen.

Als dann in einiger Entfernung die grune Wand des Dschungels vor ihnen auftauchte, hing er an Tobias wie eine Klette und ruckte ihm so auf die Pelle, da? Tobias einmal wutschnaubend herumfuhr und ihn anbrullte, er solle ihm gefalligst nicht andauernd in die Hacken treten und dieses ewige Herum-geschwanzel gehe ihm total auf die Nerven. Er brauche keinen Aufpasser und einen Liebhaber schon gar nicht. Axt zuckte wie unter Schmerzen zusammen, schaute betreten zu Micha und den anderen hinuber und hielt fortan etwas mehr Abstand zu Tobias, ohne in seiner merkwurdigen Wachsamkeit nachzulassen.

Als sie den Dschungel erreicht hatten - sein dunkles Grun sah wunderbar aus -, hielt Herzog an und wartete, bis alle aufgeschlossen hatten. Sie befanden sich jetzt in der Nahe der Stelle, wo das Flo? lagerte.

»Wir sind bald da«, sagte Herzog, der sich in das dichte Gras am Flu?ufer gesetzt hatte.

»Wo denn?« fragte Micha neugierig.

»Na, ich wollte euch doch noch etwas zeigen. Mein bescheidenes Abschiedsgeschenk sozusagen. Wir mussen noch etwa zwei Stunden zu Fu? gehen. Am besten wir ruhen uns etwas aus und lassen alles hier. Es ist nicht mehr weit, gleich dahinten.« Er zeigte auf den Urwald und lachelte vielsagend. Manchmal schien es Micha so, als habe Herzog trotz all der mit ihrem Erscheinen verbundenen Unruhe durch sie erst wieder lacheln gelernt.

Sie a?en noch eine Kleinigkeit und machten sich dann ohne Gepack wieder auf den Weg. Niemand fragte, wo es hinging und was es dort zu sehen gab, und Herzog machte auch keine Anstalten, ihr Marschziel naher zu beschreiben. Es war kaum vorstellbar, da? es da nach allem, was sie erlebt hatten, noch irgend etwas geben sollte, das sie in Erstaunen versetzen konnte. Sie lie?en sich einfach uberraschen.

Sie entfernten sich wieder vom Flu? und liefen in einer Reihe schrag auf den Urwald zu. Herzog marschierte mit Tobias vorne weg, dahinter gingen Axt und Claudia, von Pencil gezogen, den sie an die Leine genommen hatte. Micha bildete wie immer die Nachhut.

In der Ferne, in der flachen Savanne vor den rauchenden Vulkanen weideten gro?e Herden. Es waren sicher Uintatheri-en oder die Donnertiere, die sie damals am Flu?ufer beobachtet hatten. Es war ein grandioses Ausblick und erinnerte an die beruhmten Safaribilder vor dem schneebedeckten Gipfel des Kilimandscharo.

Je naher sie dem Dschungel kamen, desto lauter und vielfaltiger wurden die Gerausche, desto hoher ragte der Wald auf, fast ubergangslos, nur durch einen schmalen Buschstreifen von dem Grasland mit seinen vereinzelten Bauminseln getrennt. Einige der alten, ehrfurchtgebietenden Urwaldriesen mochten funfzig, sechzig Meter hoch sein. Ihre weit ausladenden Aste trugen schwer an vielerlei Aufwuchs, bildeten in schwindelerregender Hohe eigene kleine unerreichbare Miniaturwalder.

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