Ellens Hand gewesen, die er gesehen hatte? Er war sich nicht mehr sicher. Die beiden waren nur wenige Meter auseinander gewesen. Was war nur in sie gefahren, da? sie sich wie die Verruckten auffuhren mu?ten? Sie hatten sich gegenseitig umgebracht, waren einer des anderen Morder. Er drehte noch durch, wenn er weiter daruber nachdachte.

Erst als er am Flu?ufer ankam, sah er sich um. Claudia ging mit gesenktem Kopf nur wenige Meter hinter ihm, Axt war nicht zu sehen, und Herzog folgte erst mit gro?em Abstand. Er schien sich nur noch dahinzuschleppen, ein einsamer alter Mann. Wie lange wurde er hier noch uberleben, allein, ohne jede Unterstutzung? In diesem Moment war es Micha egal. Ihm war alles gleichgultig, wenn nur bald dieser Alptraum ein Ende fand.

Als Herzog endlich das Flu?ufer erreicht hatte, kam er auf Claudia und Micha zu, die sich ein paar Meter voneinander entfernt ans Wasser gesetzt hatten.

»Es tut mir so leid«, sagte er leise und machte eine hilflose Geste. »Ich ... ich wei? nicht, was ich sagen soll. Ich wollte euch doch nur .«

»Ich wei?«, schnitt Micha ihm das Wort ab, ohne ihn anzuschauen. Was nutzte es, was Herzog gewollt oder nicht gewollt hatte? Wen interessierte das jetzt noch? Und was nutzte es, was er, Michael Hofmeister, wollte? Was war uberhaupt seine erbarmliche Rolle gewesen in dem ganzen Drama, fragte er sich jetzt voller Bitterkeit. Ein elendes Schei?spiel war das! Wenn Herzog nicht gewesen ware, ware er hier irgendwo jammerlich krepiert, und wenn Tobias nicht ein zweites Mal in sein Leben getreten ware, hatte er diese Reise niemals unternommen. War er nur ein Objekt, ein Spielball der anderen gewesen, ohne einen eigenen Willen?

Tobias war tot. Tot!

Die naturliche Auslese darf man sich als die dominierende Kraft hinsichtlich der Stabilitat der Arten vorstellen, aber ihre Macht ist beschrankt. Bis zu einem gewissen Grad betreiben die Organismen ihre Evolution selbst, und zwar durch ihr Verhalten, die Auswahl, die sie treffen und die zu neuen Adaptionen fuhrt.

Robert Wessen, Die unberechenbare Ordnung

9

Tinnitus

Fast ein halbes Jahr spater sa? Axt allein in seiner Kuche und starrte gedankenversunken aus dem Fenster. Es war ein regnerischer Spatsommertag, der erste Vorbote eines fruhen Herbstes. Einige der Baume begannen sich schon gelb zu farben, in seinem Vorgarten bluhten die Astern.

Marlis war mit Stefan nach Frankfurt gefahren zu ihrer Freundin. Sie wu?te, was er an diesem Wochenende vorhatte, und sie waren gemeinsam zu der Uberzeugung gelangt, da? er dabei besser allein ware. Der Zeitpunkt war ungewohnlich gunstig. Sabine war zu einer Tagung nach St. Petersburg gefahren, und sie war die einzige, die hin und wieder auf die Idee kam, am Wochenende unangekundigt in der Station aufzutauchen, um dort zu arbeiten.

Er horte das Klappern des Briefkastendeckels, stand auf und holte die Post. Bankauszuge, Werbung, ein Brief fur Marlis, die Telefonrechnung. Dann hielt er plotzlich einen Brief mit Berliner Poststempel, aber ohne Absender in der Hand.

Axt ri? den Umschlag auf und runzelte die Stirn, als er erkannte, von wem der Brief stammte. Eine Woge schmerzhafter Erinnerungen uberschwemmte ihn. Welch ein merkwurdiger Zufall, da? dieser Brief ausgerechnet heute ankam, an dem Tag, an dem er endlich einen Schlu?strich unter dieses Kapitel seines Lebens ziehen wollte. Aber Zufalle dieser Art waren ja von Anfang an charakteristisch gewesen fur diese Geschichte. Der Brief war von Michael Hofmeister und seiner Freundin Claudia.

Schnell uberflog er die Zeilen und mu?te schlie?lich lacheln. Die beiden hatten eine Dreizimmerwohnung gefunden und waren zusammengezogen. Au?erdem stand, wenn er die Andeutung richtig interpretierte, Nachwuchs ins Haus. Zwischen den Zeilen war zu lesen, da? kein Zweifel daruber bestehen konnte, wann das Kind gezeugt worden war. Seltsam, seit ihren dramatischen Erlebnissen damals verknupfte ihn mit den beiden ein unsichtbares, aber festes Band, das Freundschaft zu nennen nicht ganz den Kern der Sache traf. Sie hatten sich seitdem nie wieder gesehen. Aber in den Wochen nach Tobias’ Tod, waren sie sich sehr nahe gekommen, und als sie sich schlie?lich kurz hinter der deutsch-tschechischen Grenze getrennt hatten, waren Tranen geflossen auf beiden Seiten. Trotzdem hatten sie verabredet, keinen Kontakt miteinander aufzunehmen. Es war einfach zu gefahrlich. Schlie?lich hatten zwei Menschen ihr Leben verloren.

Der Brief der beiden war das erste Lebenszeichen, das er seitdem erhalten hatte, und war naturlich ein Bruch dieser Vereinbarung, aber er konnte ihnen deshalb nicht bose sein. Um die furchtbaren Ereignisse dieses Fruhjahrs hatte er lange Zeit eine dicke Mauer gezogen und jeden Gedanken daran zu verdrangen versucht. Aber in letzter Zeit hatte er immer ofter an sie denken mussen. Mit Herzog stand er noch in enger Verbindung. Er hatte nach der Ruckkehr fur einige Wochen mit bei ihnen im Hause gewohnt und war zu einem guten Freund der Familie geworden, speziell von Stefan, der uberhaupt nicht einsehen wollte, warum dieser interessante Mann, der soviel uber Dinosaurier wu?te und sich stundenlang mit ihm daruber unterhalten konnte, sie wieder verlassen mu?te. Heute lebte Herzog in Niederbayern, wo er unter einfachsten Verhaltnissen einen alten Bauernhof bewohnte, eine neue Eremitage. Eine andere Lebensform war fur Herzog wohl auf Dauer undenkbar.

Wenn er seinen Plan an diesem Wochenende erfolgreich durchgefuhrt hatte, wurde er versuchen, zu Micha und Claudia Kontakt aufzunehmen. Er hatte ihnen nie erzahlt, da? Tobias wieder aufgetaucht war und, eingeschlossen in einen zentnerschweren Schieferblock, zusammen mit vielen anderen eozanen Fossilien im Keller der Senckenberg-Station ruhte wie in einem anonymen Massengrab. Nach allem, was passiert war, nachdem sein Plan so klaglich fehlgeschlagen und Tobias vor seinen Augen umgekommen war, hatte er es ihnen doch unmoglich sagen konnen. Das brachte er einfach nicht fertig. Auch Herzog wu?te nichts davon.

Er selbst hatte Wochen gebraucht, um einigerma?en daruber hinwegzukommen. Heute erschien es ihm manchmal, als hatte es gar nicht anders verlaufen konnen. Zeitreisen folgten wohl ihrer eigenen vertrackten Logik. Neuerdings waren es ja die Physiker hochstpersonlich, die in angesehenen Fachzeitschriften Spekulationen daruber anstellten, wie sich die bei Zeitreisen auftretenden logischen Widerspruche vermeiden lie?en. Ein Amerikaner hatte in diesem Zusammenhang die Ansicht vertreten, im Prinzip sei alles moglich. Es existierten viele parallele Universen nebeneinander, in denen alle nur denkbaren Moglichkeiten der geschichtlichen Entwicklung schon realisiert seien, und man wurde bei Manipulationen der Vergangenheit einfach nur von einem Universum in ein anderes hinuberwechseln, ohne es selbst zu merken. Demnach hatte er vielleicht doch eine Chance gehabt, aber gar nicht mitbekommen, ob seine Mission erfolgreich verlaufen ware. Er ware dann in eine Welt zuruckgekehrt, in der nie ein Messeler Homo-sapiens-Skelett gefunden wurde. Seltsamerweise interessierten ihn derartige Spekulationen plotzlich brennend. Er verschlang stapelweise obskure Science-fiction-Romane, fur die er fruher nur ein mitleidiges Lacheln ubrig gehabt hatte. Tagelang beschaftigte ihn die Frage, ob er eigentlich auch sein eigenes Skelett aus dem Schiefer hatte bergen konnen, wenn er an Tobias Stelle gewesen ware. Naturlich ware das nur moglich gewesen, wenn er das Skelett vor dem eigentlichen Reiseantritt gefunden hatte. Ein seltsamer Gedanke. Hatte er sich uberhaupt erkannt? Schlie?lich fehlten ihm so unverwechselbare Kennzeichen wie Tobias’ Zahndiamant. Er spurte, wie das Rauschen in seinem Ohren wieder zunahm, und schuttelte energisch den Kopf. Manchmal half das.

Micha schrieb weiter, da? ein alter Schulfreund von ihm vermi?t werde. Er hatte ihn gerade erst vor ein paar Monaten uberraschend wieder getroffen, und nun sei er verschwunden. Das sollte wohl hei?en, da? Micha, wie sie es verabredet hatten, nach einigen Wochen zur Polizei gegangen war und eine Vermi?tenanzeige aufgegeben hatte, sofern dies nicht schon geschehen war. Sie hatten sich eine Geschichte uberlegt, die er der Polizei erzahlen sollte, und Micha hatte sich schon damals vor Angst fast in die Hosen gemacht, wenn er nur daran dachte. Aber es ging nicht anders. Nur er konnte es tun. Claudia durfte da nicht mit hineingezogen werden. Sie hatte Tobias nie getroffen. Micha sollte sagen, da? er und Tobias sich auf der Reise heftig gestritten und daraufhin

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