Herzog zuckte sein Buschmesser, lief eine Weile suchend hin und her und begann dann einen kleinen Pfad, wahrscheinlich einen Wildwechsel, freizuschlagen und zu verbreitern. Die anderen folgten ihm. Langsam bahnten sie sich ihren Weg, stiegen uber abenteuerlich verwachsene und verschlungene Brettwurzeln, duckten sich unter dichtem, dornigem Buschwerk und baumelnden Lianen hindurch, schwiegen, schwitzten und schauten. Je tiefer sie eindrangen, desto schwerer wurde die Luft, beladen mit Feuchtigkeit und den Duften der Pflanzen und der modrigen Erde. Michas Augen schwelgten in Braun und Grun, dem Braun abgestorbener Blattriesen, des Bodens und der Baumrinden und dem Grun dieser Vegetationsflut, so dicht und unentwirrbar, da? es oft unmoglich schien zu sagen, welche Blatter zu welcher Pflanze gehorten, wo das eine Gewachs aufhorte und das andere begann. Hier und da leuchtete, von einem verirrten Sonnenstrahl getroffen, ein Blatt oder ein Farnwedel auf und malte einen scharfen Schatten.

Fast unmerklich fuhrte der Pfad bergab, und plotzlich hob sich der grune Vorhang und gab den Blick auf eine stille schwarze Wasserflache frei.

»Wir sind da«, sagte Herzog und breitete die Arme aus.

Es war ein Ort so schon wie das Paradies, friedvoll und doch uberquellend von Leben. Der See war fast kreisrund, aber seine Ufer waren nur schwer auszumachen. Rechts wuchs dichtes Pflanzengestrupp im flachen Wasser. Einzelne Aste weit ausladender Baumriesen ragten auf die dunkle Wasserflache hinaus, die stellenweise von einem bluhenden Teppich jener wei?en Seerosenart bedeckt war. Links war das Ufer steiler. Etwa zweihundert Meter weiter mundete ein Dschungelflu? in den See.

Auf den Messeler Palaontologen schien die Szenerie den gro?ten Eindruck zu machen. Axt stand wie angewurzelt, stutzte sich schlie?lich mit der Rechten an einem Baumstamm ab und starrte mit offenem Mund auf die Wasserflache hinaus. Seine Lippen bewegten sich in stummer Verbluffung. Fur einen Moment schien er vollkommen abwesend zu sein.

Als Tobias einen Schritt vorwarts machen wollte, hielt Herzog ihn am Arm fest. »Vorsicht, die Ufer sind tuckisch. Schwimmrasen, verstehst du, und dicker, zaher Morast. Au?erdem steigen giftige Gase auf. Es ist sehr gefahrlich. Haltet lieber Abstand.« Tobias nickte, zwangte sich aber laut raschelnd durch die dichte Vegetation, als Herzog seinen Arm loslie?. Axt, der aus seiner Starre wieder erwacht war, wirkte nun noch nervoser als sonst und folgte ihm wenige Sekunden spater.

Sie verteilten sich. Jeder streifte auf eigene Faust durch das Dickicht. Herzog hockte sich auf eine Brettwurzel, begann seine Pfeife zu stopfen und verfolgte ihre Begeisterung mit gutigem Lacheln, wie ein Vater, der amusiert und stolz den ersten Gehversuchen seiner Kinder zuschaut.

Es dauerte nicht lange, bis Micha die anderen aus den Augen verloren hatte, abgelenkt von der spektakularen Natur und den vielen Entdeckungen, die er machte. Einiges davon hatte er schon damals auf dem Flo? gesehen, als die Insekten in Massen ihre Lampe anflogen, aber er entdeckte auch viele Arten, die ihm unbekannt waren. Trotzdem fehlte ihm die normalerweise angesichts einer derartigen tropischen Idylle gebotene Begeisterung. Er war mit seinen Gedanken nicht recht bei der Sache. Ein wehmutiges Gefuhl lie? ihn irgendwann stehenbleiben und gedankenverloren mit den Blattern eines rotbluhenden Strauches herumspielen.

Morgen oder ubermorgen wurden sie umkehren und nach Hause fahren. Ausgerechnet an diesem herrlichen Ort uberkam ihn aus heiterem Himmel die Vorstellung, wie es sein wurde, bald wieder in einer Stadt zu leben, umgeben von Hauserschluchten, hupenden Autos, von Tausenden und Abertausenden von Menschen, die keine Ahnung davon hatten und auch nie haben durften, was sie hier erlebt hatten. Der Gedanke schmerzte ihn so sehr, da? ihm schwindlig wurde. Wie sollte das gehen, wie sollte er das aushalten? Wurde er vor lauter Lugen nicht bald vergessen, was er gesehen hatte? Was hatte diese Reise aus ihm gemacht? Aber da war Tobias, und vor allem Claudia. Das war mehr als ein Hoffnungsschimmer. Sie wurden sich helfen.

Micha wu?te nicht mehr, wie lange er schon durch den Wald gestreift war, als er Herzog laut rufen horte. Sie hatten verabredet, noch heute zuruck zum Flu? zu laufen, um dort die Nacht zu verbringen. Morgen fruh wollten sie dann versuchen, mit Hilfe des Flo?es zu dem seltsamen Baum mit den Gazehauben zu gelangen. Es mu?te eigentlich problemlos moglich sein, ihn wiederzufinden, denn er befand sich in unmittelbarer Nahe des Ufers. Danach wurden sie nach Hause aufbrechen.

Einer nach dem anderen trudelte wieder ein, zuerst Claudia und Pencil. Als Tobias durch die dichte Vegetation trat, verdrehte er die Augen und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung nach hinten an, was ihn so genervt hatte. Keine zwei Meter hinter ihm folgte Helmut Axt.

Der Palaontologe sah schrecklich aus. Er war schwei?uber-stromt, kreidebleich und zitterte wie Espenlaub. Micha vermutete, da? ihn dieser See mitten im Urwald so beeindruckte. Wahrscheinlich hatte er in ihm das lebende Pendant zu seiner toten Grube Messel gefunden, zweifellos eine eindrucksvolle Erfahrung, die er erst einmal verdauen mu?te.

Axt beruhigte sich etwas, als sie alle schweigend beisammen sa?en und den Urwaldgerauschen lauschten. Die Stimmung war etwas bedruckt.

Plotzlich sprang Herzog auf und starrte zum Seeufer hinunter.

»Was ist?« fragte Tobias.

»Ich dachte, ich hatte etwas gesehen.«

»Ein Tier?« fragte Micha.

Sie starrten angestrengt in das Blatterwirrwarr, aber je langer sie dort hineinsahen, desto weniger war zu erkennen, so dicht war das Grun, so verwirrend waren die ineinander und miteinander verwachsenen Aste der Baume und Straucher.

»Da unten, da ist jemand«, schrie Tobias plotzlich.

»Wo?«

»Da!« Er zeigte aufgeregt irgendwohin in das Grun des Dschungels. »Den kauf ich mir«, zischte er und im nachsten Moment war er im Dickicht verschwunden.

»TOBIAS!«

Axt stand wie versteinert da. Sein Gesicht zeigte einen derart entsetzten Ausdruck, da? Micha das Blut in den Adern gefror. Aus diesem Schrei, bei dem sich Axts sonst so ruhige Stimme fast uberschlagen hatte, sprach so viel Angst, ein solches Ma? an Besturzung, da? Micha keinen Moment zogerte und sofort losrannte.

So schnell er konnte, lief er durch das dichte Gestrupp. Ohne darauf zu achten, wohin er trat, sturzte er durch den Wald, hastete durch die dichte Vegetation, in seinen Ohren noch das Echo dieses Schreies, das ihn vorantrieb. Er spurte kaum, wie ihm die Aste ins Gesicht schlugen, wie er sich an scharfen Dornen die nackten Arme und Beine aufri?. Fast blind hetzte er dorthin, wo er das Seeufer vermutete.

»Tobias!«

Das war wieder Axt. Er mu?te irgendwo rechts von ihm sein. Es war ein Kreischen, fast unmenschlich, voller Qual.

Micha kampfte sich weiter voran. Irgendwo bellte Pencil. Von unten horte man Stimmen, einen heftigen Wortwechsel. Er blieb stehen und lauschte, versuchte zu orten, von wo genau die Stimmen kamen. Er erkannte Tobias, aber wer war der andere? Dann plotzlich ein seltsames Stohnen und Achzen. Kampfgerausche. Ein heftiges Blatterrascheln, das Brechen von Asten, dumpfe Laute, als ob jemand auf den Boden gesturzt war, der spitze Schrei einer Frau. Wer war das? War Claudia schon da unten? Wie hatte sie dorthin gefunden? War ihr etwas passiert? Plotzlich ein lautes Klatschen, wilde tierhafte, gequalte Laute. Sie mu?ten ins Wasser gefallen sein, schlugen dort wild um sich, kampften. Immer wieder dieses Stohnen.

Jetzt horte er Tobias schreien. Angst, Todesangst klang aus seiner Stimme, und Micha rannte noch schneller, er stolperte und fiel: Nein, es reicht, nicht noch eine Katastrophe, das ertrage ich nicht, das ist zuviel. Er brach durch eine Blatterwand und stand plotzlich keuchend neben Herzog, der wie gebannt auf den See hinausstarrte.

Dann sah er, was passiert war. Tobias steckte bis zur Hufte in zahem, schwerem Morast, der nur wenige Meter daneben aussah wie festgetretene Erde. Mit der Hand seines gesunden Armes klammerte er sich an einem federnden moosbewachsenen Ast fest.

Nein, nicht schon wieder, dachte Micha. War denn einmal nicht genug? Er spurte wie ihm das Blut in den Kopf scho?. Einen Moment lang stand er unbeweglich da, paralysiert von seiner Wut und dem dagegen ankampfenden Schuldgefuhl. Mit wachsendem Entsetzen verfolgte er, wie Tobias um sein Leben kampfte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Immer wieder versuchte er verzweifelt, unter angstlichem Keuchen mit dem verletzten Arm den Ast zu greifen, fand aber keinen Halt, fiel zuruck und rutschte jedesmal ein Stuck tiefer in den Sumpf.

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