abweisenden Gesichter, desto freundlicher und besorgter wurde der Ton ihrer Zwischenfragen.

Irgendwann streckte ihm der altere Mann eine von harter Arbeit gezeichnete Hand entgegen und sagte: »Ich bin ubrigens Ernst Herzog.« Dann brummte er: »Tut mir leid, da? ich so unfreundlich war, aber man kommt hier langsam aus der Ubung, was menschliche Umgangsformen angeht.«

Axt stutzte. »Moment mal! Ernst Herzog? Sind Sie etwa der Ernst Herzog, der ...«

Als Herzog nickte, machte Axt ein derart verblufftes Gesicht, da? Claudia lachen mu?te, und kurze Zeit spater lachten alle -bis auf Tobias.

»Also wissen Sie, bei dieser Geschichte ist mir ja schon so einiges untergekommen, aber das ist unfa?bar. Ich ... ich wei? gar nicht . ich bin einfach sprachlos«, stotterte Axt, und sein Gesicht gluhte vor Freude. »Wissen Sie, woran mich das erinnert? An diesen Henry Morton Stanley damals in Afrika.«

»Dr. Livingstone, I presume?«, sagte Micha mit verstellter Stimme, und die ganze Gesellschaft brach erneut in schallendes Gelachter aus.

»Sie konnen sich sicher denken, wie viele Fragen mir durch den Kopf gehen«, sagte Axt und wischte sich einige Tranen aus den Augenwinkeln. Da hatte er nach zwei Berliner Studenten gesucht, und wen traf er? Er hatte es nicht fur moglich gehalten, da? es nach all den Ereignissen der letzten Wochen und Monate noch eine Steigerung geben konnte. Ernst Herzog, der seit langem vermi?te gro?e deutsche Palaontologe war hier? Die ganze Geschichte wurde immer verruckter, und er konnte nur hoffen, da? diese unerwartete Entwicklung fur das, was er noch zu tun hatte, ein gutes Omen war.

»Ja«, sagte Herzog und war jetzt wieder sehr ernst, »das kann ich mir vorstellen, aber wir mussen das auf ein andermal verschieben. Mich interessieren jetzt die verschwundenen Fossilien.«

Herzog stellte einige detaillierte Fragen, die Axt beantwortete, soweit ihm das moglich war. Er mu?te sich dabei sehr zusammenrei?en, da? ihm in all der Aufregung nicht eine verraterische Bemerkung uber das Homo sapiens-Skelett herausrutschte.

Herzog fragte, welche Art von Fossilien genau verschwunden seien, wie alt sie waren und ob ihm noch mehr seltsame oder irgendwie unerklarliche Phanomene bekannt seien. Dann erzahlte er von dem Grund ihres Ausfluges, von den Fallen, den Gazehauben, dem Erdrutsch, und da? er ernsthaft beunruhigt sei. Er befurchte, da? hier jemand Schindluder mit dem Geheimnis der Hohle trieb. Er habe zwar keine Beweise, aber eine innere Stimme sage ihm, da? Gefahr im Verzug sei.

Axt war entsetzt und bot sofort seine Hilfe an. So erschrek-kend sich Herzogs Verdacht auch anhorte, fur Axt war es eine gute Nachricht. Wenn die Fledermausskelette verschwinden konnten, weil anscheinend irgend etwas verhindert hatte, da? die Tiere in den Messeler See oder seinen Zuflu? fielen, dann konnte theoretisch auch Tobias’ Skelett wieder verschwinden. Und das hie?, ja, war der Beweis dafur, da? er eine reelle Chance hatte. Sein Vorhaben konnte gelingen, er mu?te nur aufpassen, Augen und Ohren aufsperren und Tobias nicht von der Seite weichen. Allzulange wurde es nicht mehr dauern. Sie waren ja im Grunde schon auf dem Ruckweg. Das war eine weitere gute Nachricht.

Der See

Jetzt waren sie zu funft. Im Gansemarsch folgten sie dem Flu?lauf, Herzog, der es nun noch eiliger hatte und ein enormes Tempo vorlegte, vorneweg. Micha, der mit Claudia und Pencil den Schlu? der Gruppe bildete, verlor den Anschlu? und fiel immer weiter zuruck. Erst als Herzog zu einer kurzen Mittagsrast anhielt, holte er die anderen wieder ein.

Axt, Herzog und Tobias sprachen schon wieder uber den Unbekannten. Seit dem Abend schien es kein anderes Thema mehr zu geben. Schon beim Fruhstuck hatten sie aufgeregt daruber debattiert, und auch in den Tagen danach sollte es bei jeder sich bietenden Gelegenheit um diesen Fallensteller und die moglichen Konsequenzen seiner Aktivitaten gehen. Selbst spat abends, wenn Micha und Claudia, die jetzt immer zusammen im Zelt schliefen, in ihren Schlafsacken lagen, kamen sie nicht davon los.

Die ganze Aufregung erschien Micha anfangs ubertrieben. Erst nach und nach wurde ihm klar, was Herzog und Axt so beunruhigte. Nachdem er durch Axt von den Vorgangen in Messel erfahren hatte, wirkte der Eozan alarmiert, wie aufgezogen. Er war kaum wiederzuerkennen in seiner rastlosen Unruhe und drangte jeden Morgen auf einen zeitigen Aufbruch, damit sie moglichst schnell den Dschungel erreichten.

Jemand spielte hier mit einer hochst sensiblen Materie herum, der Geschichte des Lebens. Das Tor in die Vergangenheit, durch das sie geschlupft waren, eroffnete die Moglichkeit der Manipulation. Daruber hatte er vorher naiverweise nie nachgedacht. Man konnte von Gluck sagen, da? die Hohle nur in das Tertiar fuhrte und nicht in einen viel langer zuruckliegenden Abschnitt der Erdgeschichte. Anders als in spateren Erdzeitaltern, wo eine schon seit Millionen Jahren eingespielte Okologie mit einer Vielzahl von spezialisierten und voneinander abhangigen Lebensformen ein kompliziertes und relativ stabiles Netz gewoben hatte, waren die Anfange, die ersten zaghaften Versuche in eine neue Richtung leicht verwundbar und von geringer Widerstandskraft. Mitten in dieses sensible, gerade erwachende Leben waren sie mit ihrem naiven touristischen Entdeckergeist hineingeplatzt und hatten womoglich aus purer Unachtsamkeit eine Katastrophe angerichtet.

Neue Tier- und Pflanzenarten entstanden nicht nur in den Pionierphasen, die auf die globalen Massensterben folgten und die dadurch gerissenen Lucken wieder auffullten. Auch in den scheinbar ruhigen Zwischenzeiten, auch jetzt hier um sie herum, auch in der fernen Zukunft, in der ihr Zuhause lag, uberall und zu jedem Zeitpunkt entstanden in einem langsamen und daher unsichtbaren Proze? neue Lebewesen, vielleicht sogar die zunachst unscheinbaren Urahnen einer erst viele Millionen Jahre spater erfolgreichen und bluhenden Organismengruppe.

Das erste Wirbeltier oder sein Vorlaufer hatte bestimmt nicht sehr eindrucksvoll ausgesehen, und wenn es von irgendeinem primitiven Urraubtier gedankenlos verspeist, in einem plotzlichen Regengu? ertrunken, von einem Erdrutsch verschuttet oder von einer Mausefalle erschlagen worden ware, wer wei?, ob die Natur oder die Evolution dieselbe Idee noch ein zweites Mal hervorgebracht hatte. Um so hochentwickelte, imposante Gestalten wie die Dinosaurier vom Planeten zu fegen, hatte es schon einer Katastrophe globalen Ausma?es bedurft, bei weniger robusten Kreaturen genugte vielleicht schon ein Tritt, und das Antlitz des Planeten ware ein anderes gewesen.

In letzter Konsequenz war jedes einzelne Individuum, ob Pflanze oder Tier, in seiner Art einzigartig, eine vom Zufall ausgewurfelte Kombination von Eigenschaften, die in genau dieser Zusammenstellung moglicherweise nie wieder auftreten wurden, und wer konnte schon sagen, ob in der gerade vernichteten Pflanze oder dem achtlos zertretenen Wurm nicht der Keim fur die kunftigen Herrscher der Erde gelegen hatte. Man konnte die Vorsicht der indischen Jainas, die vor jedem Schritt den Weg vor sich fegen, um ja nichts zu zertreten, fur ziemlich ubertrieben halten, angesichts dieser Gedanken jedoch erschien ihr Verhalten plotzlich in einem ganz anderen Licht.

Vielleicht gab es ja immer nur genau einen Ort, einen Zeitpunkt, an dem sich eine neue Idee in der Natur durchsetzen konnte. Wurde dieser Moment verpa?t oder geschah etwas Unvorhergesehenes, war die Chance vertan, und die Welt wurde nie erleben, welche verborgenen Moglichkeiten in genau dieser Idee gesteckt hatten.

Naturlich gibt es so etwas wie physikalische Gesetze und optimale Losungen fur bestimmte Probleme. Wenn etwas im Wasser schnell schwimmen wollte, war die Spindelgestalt aus stromungstechnischer Sicht am gunstigsten, und ganz egal, wer sich auf diesen Weg begibt, ob Fisch, Saugetier, Vogel oder Weichtier, nach den Gesetzen der Evolution wurde stets etwas Spindelformiges dabei herauskommen. Wer in weichem Substrat oder als Parasit in den Korpern gro?er Wirtstiere lebte, war dagegen mit der Wurmgestalt am besten bedient. Fur beides liefert die Natur zahllose Beispiele. Ein unabanderliches Diktat der Physik.

Sicherlich hatte es auch Zeiten gegeben, in denen bestimmte Entwicklungen gewisserma?en in der Luft lagen und eine gro?e Zahl von Lebewesen nur eine Winzigkeit vom entscheidenden, revolutionaren Schritt entfernt waren. Die Wahrscheinlichkeit, da? mehr als nur ein Organismus diesen Schritt tatsachlich irgendwann tat, war dann sehr gro?. Wurde der richtige Zeitpunkt aber verpa?t, war der Platz, der fur das allererste dieser Wesen frei gewesen ware, vielleicht aus einer ganz anderen Richtung schon besetzt.

Vielleicht hatten ja auch seltsame rote schleimige Algenkissen die Gunst der Stunde nutzen und das Land als erste in Besitz nehmen konnen, so da? sich etwaige Nachfolger, zum Beispiel die grunen Pflanzen, mit einem Stehplatz begnugen mu?ten. Zu einer Randexistenz verurteilt und auf Grund des gro?en Entwicklungsvorsprungs ihrer Konkurrenten hoffnungslos zuruckgefallen, waren sie anstatt zu Baumen, Grasern und Blumen vielleicht zu form- und bedeutungslosen grunen Klumpen geworden. Und wer wei?, vielleicht hatte die Flora und Fauna der

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