Das Schlimmste hatte er sich bis zum Schlu? aufgehoben.

Er stieg in einem kleinen Hotel in der Nahe der Grenze ab und rief dann spat abends von einer Telefonzelle aus zu Hause bei Marlis an. Sie hatte sich naturlich schon gro?e Sorgen um ihn gemacht, und er mu?te ihr nun sagen, da? er fur ein paar Tage, vielleicht Wochen wegfahren musse und da? sie in dieser Zeit nichts von ihm horen wurde. Es hatte ihm Hollenqualen bereitet, dieses Telefongesprach mit seiner weinenden Frau. Er sah ihr entsetztes Gesicht vor sich, sah, wie ihr die Tranen herunterliefen, fuhlte die Angst, die sie um ihn hatte.

Gegen das Glas gelehnt, die Hande auf das Gesicht gepre?t, stand er danach noch minutenlang in der Telefonzelle, dem einzigen Lichtfleck weit und breit auf der verlassenen Dorfstra?e. Dann ging er in sein Hotel zuruck und versuchte noch ein paar Stunden zu schlafen.

Ein paar Tage nach seiner Begegnung mit den Schaufelzahnern wanderte er noch immer am Flu?ufer entlang, die Augen auf den Boden gerichtet. Er war schon hin und wieder auf Fu?spuren gesto?en, auf geriffelte Abdrucke im Staub, die sich an besonders windgeschutzten Stellen gehalten hatten.

Was ihn verwirrte, war, da? er dort mehr als zwei unterschiedliche Abdrucke zu erkennen glaubte. Einer trug Turnschuhe mit einem groben Muster aus Querrillen. Dann gab es riesige Abdrucke ohne Struktur, einfach nur plattgedruckter Sand in Fu?form, vielleicht von abgelaufenen Sandalen. Aber da war noch ein dritter Fu?, deutlich kleiner als die beiden anderen. Er hinterlie? regelma?ige Kringel, die wie ein zusammengesetztes Puzzlespiel aussahen. Und zwischendurch ab und an die Abdrucke eines Tieres. Wahrscheinlich war es spater hier entlanggelaufen.

Seitdem schaute er immer wieder auf den Boden, um vielleicht eine Stelle zu finden, an der er noch mehr erkennen konnte. Die beiden gro?eren Abdrucke stammten wahrscheinlich von Tobias und Michael. Aber wer machte die kleineren? Von einer dritten Person war bisher nie die Rede gewesen, weder bei Sonnenberg noch im Gesprach mit Rothmanns Doktorandin. Er war verunsichert.

Plotzlich horte er im Gebusch neben sich ein Gerausch, ein tiefes Brummen, dann ein Krachen und Brechen von Asten, ein lautes Schnauben.

Zuerst dachte er an ein gro?es Raubtier, einen Sabelzahntiger vielleicht. Der Zahn, den Sonnenberg ihm gezeigt hatte, war sehr, sehr eindrucksvoll gewesen, mindestens zwanzig Zentimeter lang. Er mu?te immer wieder daran denken. Moderne Katzen schlagen ihre Beute, indem sie gezielte Totungsbisse ansetzen. Sie drucken ihren Opfern die Kehle zu oder brechen ihnen das Genick. Die tertiaren Sabelzahnkatzen aber gingen ganz anders vor. Sie rissen ihren Beutetieren mit Hilfe der riesigen Zahne tiefe, stark blutende Wunden und rannten dann so lange geduldig hinter ihren Opfern her, bis diese durch den enormen Blutverlust vor Erschopfung und Entkraftung zusammenbrachen. Kein schoner Tod.

Er hatte schon mehrmals gro?e Tierkadaver in der Savanne liegen sehen, abgenagte und ausgeblichene Knochen, hohle Lederhaute, ausgehohlte Brustkorbe, die wie gro?e Kafige aussahen. Seltsam, dachte er noch, wie selbstverstandlich er plotzlich mit dem Auftauchen von Tieren rechnete, von denen er noch wenige Tage zuvor geschworen hatte, sie seien bereits seit Jahrmillionen ausgestorben. In seinem Kopf geriet da etwas in Unordnung.

Er rannte schnell zum Flu? hinunter. Zur Not wurde er sich einfach ins Wasser werfen, auch auf die Gefahr hin, da? er vom Regen in die Traufe gelangte. Vielleicht waren Sabelzahnkatzen ja wie ihre Nachfahren wasserscheu. Er setzte den Rucksack ab und zuckte das Messer, das er am Gurtel trug, eine angesichts der Dimensionen tertiarer Saugetiere eher lacherliche Geste, mit der er trotz allem eine Spur von Sicherheit gewann. Er wartete.

Lange Zeit tat sich nichts, und seine Anspannung begann nachzulassen. Als er wieder weiterlaufen wollte, nahm er eine Bewegung war. Etwas Graubraunes, Rundliches, das die Busche uberragte und das er bisher nicht wahrgenommen oder einfach fur einen Felsen gehalten hatte, schwankte leicht hin und her, und im nachsten Moment brach ein Monstrum durch das Gestrauch, ein Berg aus muskelbepackten Knochen. Merkwurdig, dachte er einen Moment lang, und es schien, als ob die Zeit stillstand, selbst in Situationen wie dieser konnte er in Tieren kaum etwas anderes als mit Muskeln und Sehnen bepackte, nach biomechanischen Gesetzen arbeitende Knochengeruste sehen. Das war wohl berufsbedingt. Der Riese wirkte ebenfalls irritiert. Er blinzelte ihn aus winzigen, kurzsichtigen, nicht gerade herausragende Sensibilitat verratenden Augen an und schnaubte wie eine Dampflokomotive.

Dann ging alles sehr schnell. Axt hatte etwas Kleineres, Flinkes, Geschmeidiges erwartet und der unvermittelte Auftritt dieses Giganten, eines Brontotheriums mit knapp drei Metern Schulterhohe, brachte ihn so aus dem Gleichgewicht, da? er nach hinten kippte, laut klatschend im Flu? landete und sofort von einer kraftigen Stromung mitgerissen wurde. Der Wasserstand des Stromes war in den letzten Tagen deutlich gestiegen. Er konnte gerade noch sehen, wie das Untier mit blinder Wut seinen Rucksack traktierte, da fand er sich schon zwanzig, drei?ig Meter flu?abwarts wieder. Irgend etwas zerrte an seinen Beinen, drohte, ihn unter Wasser zu ziehen, im nachsten Moment scho? er wie ein Korken mit dem Oberkorper uber die Wasseroberflache. Er strampelte, kampfte mit aller Kraft gegen die Stromung an, bis er nach einem uber das Ufer hinausragenden Ast greifen und sich daran Stuck fur Stuck aus dem Wasser ziehen konnte. Als er triefend vor Nasse am Ufer wieder zuruckschlich, war das Brontotherium spurlos verschwunden, und sein Gepack sah aus, als ob es unter eine Dampfwalze geraten ware.

Er hangte sich rasch den arg gebeutelten Rucksack uber die Schulter und lief so schnell er konnte weiter, bis er in offenes Gelande gelangte, wo er ausruhen und sich seine nassen Sachen ausziehen konnte. Er war so fertig, da? er beschlo?, an Ort und Stelle die Nacht zu verbringen. Ihm tat alles weh und er hatte das Gefuhl, keinen Meter mehr gehen zu konnen.

Bei den ersten Anzeichen der Dammerung streifte er mude durch das Gelande, um nach Feuerholz zu suchen. Er stand noch ganz unter dem Eindruck seiner nachmittaglichen Begegnung, argerte sich uber seine Unaufmerksamkeit und nahm sich vor, in Zukunft respektvollen Abstand zu dichten Gebuschen zu halten, bei denen man hier nie wissen konnte, was sich dahinter verbarg. Er war leichtsinnig geworden. Au?erdem war es vielleicht auch nicht besonders klug, andauernd auf den Boden zu starren. Die Lebewesen hier scherten sich einen Teufel darum, was fur ein schones hochentwickeltes und intelligentes Saugetier er war. Er war kein wildniserfahrener Trapper, sondern ein steifer, zu Fettansatz neigender Schreibtischhengst und sollte sich, verdammt noch mal, vorsehen, wenn er dieses Abenteuer unversehrt uberstehen wollte.

Seine Suche fuhrte ihn hinunter zum Flu?, wo immer viel Treibholz herumlag. Kaum hatte er die Uferboschung erreicht, sah er plotzlich ein ganzes Stuck weiter flu?aufwarts ein Licht aufflackern. Er hielt den Atem an und kauerte sich in das hohe Gras. Das war eindeutig ein Feuer. Aber dort brannte nicht die Savanne, sondern ein munter zungelndes Lagerfeuer.

Ihm lief es hei? und kalt den Rucken herunter. Er hatte es geschafft. Das mu?ten sie sein! Er wollte schon fast losrennen, laut rufend und winkend das Flu?ufer entlangsturmen, aber dann stutzte er.

Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, kamen ihm plotzlich Bedenken. Wie wurden sie reagieren, wenn er so unvermittelt auftauchte? Daruber hatte er bisher nicht nachgedacht. In jedem Fall sollte er wohl besser bis morgen warten und nicht einfach im Halbdunkel aus dem Dickicht treten, sonst waren die beiden oder die drei - wer war blo? der oder die dritte? -womoglich fahig, ohne Vorwarnung uber ihn herzufallen. Man rechnete hier nicht unbedingt mit einem Uberraschungsbesuch.

Andererseits, wenn er jetzt seinerseits ein Feuer entfachte, wurden die anderen es vielleicht sehen und vielleicht kamen sie dann auf den Gedanken nachzuschauen, was denn da los war. Vielleicht sturzten sie sich auf ihn, wenn er in seinem Schlafsack lag und schlief, schlugen ihm einen Knuppel uber den Kopf, bevor er uberhaupt den Mund aufmachen und sagen konnte: »Seht her, ich bin der liebe Helmut Axt, und ich bin gekommen, um euch zu retten.«

Unsinn! Das waren zivilisierte Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, genau wie er. Die paar Wochen, die sie hier im Eozan verbracht hatten, wurden sie nicht in blutgierige Wilde verwandelt haben, bei denen man auf alles gefa?t sein mu?te.

Nein, er war seinem Ziel jetzt zum Greifen nahe und wurde mit diesem Wissen sowieso kein Auge zu tun konnen. Au?erdem hatte er keine Sekunde zu verlieren. Was hatte die ganze Hetzerei fur einen Sinn gehabt, wenn er sich jetzt seelenruhig den Bauch vollschlug und in seinen Schlafsack verkroch, wahrend dieser Tobias nur ein paar Meter entfernt weiterhin in Lebensgefahr schwebte.

Er rannte zu seinem Lagerplatz und stopfte hastig alles in seinen staubigen Rucksack zuruck. Dann marschierte er los, direkt am Flu?ufer entlang, die Augen in der zunehmenden Dunkelheit immer auf diesen einen flackernden Lichtpunkt gerichtet, der ihm den Weg wies. Er hatte es geschafft. Er hatte sie eingeholt und ... sie

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