»Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, diesen Gedankengang zu Ende zu fuhren«, antwortete Hewlitt lachelnd. »Also werde ich versuchen, dies nachzuholen, wahrend ich daruber spreche. Im Gegensatz zu diesem Universum ware alles perfekt. Es gabe keine Naturgesetze, wenn esnamlich welche geben wurde, hie?e das, da? es auch Fehler hatte und gelegentlicher Korrekturen bedurfte. Es gabe weder Zeit noch Raum und auch keine physikalischen oder mentalen Einschrankungen, so da? jedes Ereignis, das stattgefunden hat, ein Wunder ware. Ich vermute mal, da? Sie und die anderen Glaubigen, die in dieser unvollkommenen Schopfung leben, so etwas als Himmel bezeichnen wurden.«
»Fahren Sie fort«, ermunterte ihn Lioren. »Das Problem, das ich und sehr viele andere Leute mit den verschiedenen Religionen haben, ist, da? keine davon auch nur ansatzweise erklaren kann, warum es so viel Elend oder, genauer gesagt: tragische Unfalle, Naturkatastrophen und Krankheiten gibt, und warum sich einzelne Personen oder ganze Gruppen so entsetzlich feindselig gegeneinander verhalten, kurz gesagt: warum es so viel Leid in diesem Universum gibt. In einer unvollkommenen Schopfung zu leben bedeutet, da? man weit ausholen mu?te, um zu erklaren, warum diese Dinge geschehen, besonders dann, wenn man die Erwartung hegt, nach dem Tod in ein vollkommenes Universum zu gelangen.
Das ist naturlich eine ausgesprochen ketzerische Theorie«, beendete Hewlitt seine Ausfuhrungen. »Ich hoffe, da? Sie sich durch meine Respektlosigkeit nicht beleidigt fuhlen, Padre.«
»Sicherlich hort sich das ketzerisch und respektlos an, allerdings ist das nicht vollig neu fur mich«, raumte Lioren ein. »Um hier meine Arbeit einigerma?en vernunftig verrichten zu konnen, benotige ich ein umfassendes Wissen uber die religiosen Uberzeugungen und Gewohnheiten vieler Wesen, und haufig werden auf einem einzigen Planeten gleich mehrere Religionen parallel ausgeubt. Mir fallen gerade die Schriften eines terrestrischen Theologen namens Augustinus ein, der mit Vorliebe laut nachgedacht haben soll, obwohl er in Wahrheit auf diese Weise seinem Gott nur hofliche, wenngleich lastige Fragen gestellt hat. Eine der Fragen lautete: ›Was hast du vor der Erschaffung des Universums getan?‹ Zwar gibt es keine Aufzeichnungen von diesem Augustinus, ob er jemals eine Antwort erhalten hat, zumindest nicht zu seinen Lebzeiten auf der Erde, aber mit Ihrem Vorschlag, der Schopfer aller Dinge konne vorlaufig nureinen Prototypen erschaffen haben, den wir immer noch bewohnen, haben Sie schon eine Stufe weiter gedacht.
Ich bin nicht beleidigt oder gar uberrascht, Patient Hewlitt. Was die religiosen Uberzeugungen anderer Spezies anbelangt, kann mich eigentlich so gut wie nichts mehr erschuttern. Dem VTXM-Telfaner, den ich wahrend der vergangenen Tage des ofteren besucht habe, ware das allerdings dennoch beinahe gelungen. Dieser Telfaner, der sich stets mit anderen Angehorigen seiner Spezies zu einem Gruppenwesen formiert, einer sogenannten ›Gestalt‹, vertritt die Uberzeugung, Gott habe sie nach seinem Ebenbild erschaffen. Ihr allwissender und allmachtiger Schopfer setzt sich demnach aus einer unendlichen Anzahl kleiner, schwacher und jede fur sich unwissender Kreaturen zusammen – wie sie selbst also -, die erst gemeinsam das hochste Wesen ergeben, mit dem sie sich eines Tages, so hoffen sie, vereinigen konnen.
Fur eine Spezies, die Intelligenz und Zivilisation entwickelt hat, indem sie sich zu einer Gestalt aus individuell spezialisierten Wesen zusammenfugt, ist es verstandlich, warum sie an so etwas glaubt. Dennoch ist es mir anfanglich sehr schwer gefallen, den Telfaner zu verstehen und mit ihm uber die unendliche Anzahl von Personen zu sprechen, die seinen einen Gott ausmachen, oder ihm den geistlichen Trost zu spenden, den er braucht. Naturlich gibt es viele Religionen, die der Meinung sind, ein kleiner Teil Gottes stecke in jeder denkenden Kreatur … Kennen Sie eigentlich die Telfaner?«
»Ein wenig«, antwortete Hewlitt, der immer noch versuchte, den Padre von theologischen Themen und damit einhergehenden Gedanken an Wunder abzubringen. »In der nichtmedizinischen Bibliothek gibt es in der Auflistung der Foderationsmitglieder einen kurzen Eintrag. Telfaner arbeiten gruppenweise als Kontakttelepathen, um ihre geistigen und physischen Fahigkeiten zu vereinigen. Sie leben von der direkten Umwandlung radioaktiver Strahlung, die uberall auf ihrem Heimatplaneten herrscht, da sich dieser seine Bahn sehr nahe um eine au?erst strahlungsintensive Sonne beschreibt. Bei interstellaren Reisen mu? diese Strahlung auf dem Schiffkunstlich erzeugt werden. Wenn diese Wesen bei einer hin und wieder vorkommenden Fehlfunktion ihres Lebenserhaltungssystems das Gluck haben, gerettet zu werden, landen sie hier im Orbit Hospital. Da es sich bei den Telfanern um Strahlenverwerter handelt, kann sich ihnen aber kein gewohnliches Wesen nahern, um mit ihnen zu reden, ohne dabei nicht selbst in Lebensgefahr zu geraten. Haben Sie einen Kommunikator benutzt oder einen Schutzanzug getragen?«
»Na, vielen Dank auch fur die indirekte Andeutung, da? es sich bei mir um ein au?ergewohnliches Wesen handeln konnte, Patient Hewlitt«, scherzte der Padre und gab dabei ein unubersetzbares tarlanisches Gerausch von sich. »Aber die Antwort lautet: weder noch. Medizinische Laien gehen haufig von der falschen Annahme aus, man konne sich den Telfanern ohne ferngesteuerte Greifvorrichtungen weder nahern, noch sie beruhren. Um leben zu konnen, mussen sie die auf ihrem Planeten herrschende naturliche Strahlung aufnehmen. Wenn diese Wesen allerdings der Strahlung aus medizinischen Grunden fur einige Tage nicht ausgesetzt sind und sie vom Hunger geschwacht sind, sinken ihre eigenen radioaktiven Emissionen auf ein vollig harmloses Niveau. Als wahrend meines Besuchs einer der Telfaner aus dem Behandlungszimmer gebracht wurde, war ich dicht genug dran, um ihn beruhren zu konnen, und das tat ich dann auch.
Dabei handelt es sich ubrigens um einen Patienten, der wirklich ein Wunder benotigt«, fugte Lioren hinzu.
Offensichtlich tat dem Padre der Telfaner leid, und Hewlitt hatte durchaus Verstandnis fur Liorens Gefuhle, doch wieder einmal drehte sich das Thema um vermeintliche Wunder. Deshalb beschlo? er, so vorsichtig wie moglich in die Offensive zu gehen. »Wenn Sie damit vorschlagen wollen, da? ich meine Hande auf einen Telfaner legen soll, dann vergessen Sie's. Fur Sie oder den Patienten gibt es nur eine richtige Methode, ein Wunder herbeizufuhren – namlich indem Sie fur eins beten. Angeblich ist ein Wunder doch ein ubernaturliches Ereignis und ganz bestimmt nicht etwas, das von der Mitarbeit eines atheistischen Durchschnittsterrestriers abhangt. Wenn Sie das nicht glauben, was glauben Sie dann, Padre?«»Ich darf Ihnen nicht sagen, was ich glaube«, erwiderte Lioren. »Im Interesse der Patienten, die uberma?ig beeinflu?t werden konnten, wenn ich von meinen eigenen Uberzeugungen spreche, bin ich verpflichtet, diese Information nicht preiszugeben.«
»Wieso denn das? Was konnten Ihre personlichen Uberzeugungen denn bei einem Unglaubigen so Schlimmes anrichten?«
»Auch das wei? ich nicht, und genau das ist das Problem«, antwortete Lioren. »Ich besitze umfassende Kenntnisse uber mehr als zweihundert Religionen, die in der ganzen Foderation ausgeubt oder, besser gesagt, noch haufiger nicht ausgeubt werden. Meine Aufgabe hier besteht in erster Linie darin, schwer oder unheilbar erkrankten Patienten zuzuhoren, sie zu beruhigen, zu ermutigen oder ihnen in angemessener Form Trost zu spenden. Aufgrund meiner Erfahrung und meines Hintergrundwissens gibt es immer einige Patienten, die mehr als nur trostende Worte horen mochten. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich an mich und bringen mir ihren Respekt und ihr Vertrauen entgegen, weil sie irrtumlicherweise denken, da? ich mich am besten auskennen mu?te. Sie wunschen sich religiose Gewi?heit und glauben, da? ich ihnen diese aufgrund meines breitgefacherten Wissens und meiner Erfahrung beim Umgang mit ihren Problemen geben kann. Doch so etwas kann ich nicht tun, weil ich ihren verwirrten und angstlichen Zustand nicht ausnutzen darf, um eine Religion mit einer anderen zu vergleichen oder einen Glauben vorzuschlagen, von dem ich denke, da? er der einzig wahre ist. Ganz gleich wie verruckt und unglaublich manche Uberzeugungen auch sein mogen, so mochte ich dennoch nicht die Verantwortung dafur ubernehmen, ein Wesen dazu zu bringen, auch nur ansatzweise oder vorubergehend seinen Glauben zu wechseln oder an seiner eigenen Religion zu zweifeln. Nur ein einziges Mal habe ich versucht, Gott zu spielen, und das, werde ich garantiert nie wieder tun.«