»Da haben Sie wohl nicht ganz unrecht«, seufzte Murchison, und ihrer sehnsuchtsvollen Stimme war anzumerken, da? sie sich in Gedanken in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort befand und da? es sich dabei um sehr angenehme Erinnerungen handeln mu?te.
Prilicla lie? die Pathologin erst einmal ins Hier und Jetzt zuruckkehren, bevor er fortfuhr: »Jedenfalls handelt es sich um dieselben Informationen, die ich fur Shech-Rar und Freund Stillman aufgenommen habe, und Sie konnen sich das Originalband ja jederzeit ansehen. Das aufgezeichnete Protokoll eines Diagnostikertreffens konnte fur einen medizinischen Laien allerdings etwas schwierig zu verstehen sein, deshalb werde ich es fur Freund Hewlitt in vereinfachter Form zusammenfassen… «
Lonvellin war von einer Raumpatrouille des Monitorkorps in einem Schiffgefunden worden, das, obwohl es unbeschadigt gewesen war, Notsignale ausgesandt hatte. Damals bezichtigte man ihn anfanglich des Mordes und moglicherweise sogar des Kannibalismus, da das vorgefundene Logbuch auf die Anwesenheit eines zweiten Wesens an Bord schlie?en lie?, bei dem es sich um eine Art Leibarzt gehandelt haben mu?te, der seinen Dienstherrn anscheinend falsch behandelt hatte und von dem keine Spur mehr zu entdecken war. Aus diesem Grund, und auch weil es sich bei dem Patienten um ein ausgesprochen korpulentes und mit naturlichen Waffen hervorragend ausgestattetes Wesen handelte, wurde es bis zur endgultigen Klarung der Angelegenheit unter die Obhut des Monitorkorps gestellt.
Lonvellin war ein warmblutiger Sauerstoffarmer der physiologischen Klassifikation EPLH. Sein Kopf war lediglich eine unbewegliche knocherne Schadelkuppe, die auf einem birnenformigen, schuppigen Korper sa?. Direkt unterhalb der funf Tentakel befanden sich in regelma?igen Abstanden gro?e Mundoffnungen, von denen vier verschwenderisch mit Zahnen ausgerustet waren und einer als Sprechapparat diente. Die Tentakel selbst wiesen an ihren Enden auf einen hohen Spezialisierungsgrad hin; drei von ihnen dienten als Greifarme, einer enthielt die Sehorgane, und der letzte war mit einer harten, knochigen Spitze besetzt, die einer Keule glich, mit der sich diese Spezies ganz offensichtlich bis auf den Wipfel ihres evolutionaren Stammbaums hochgeprugelt hatte. Der stark muskulose untere Teil wies auf eine schlangenahnliche, wenn auch nicht unbedingt langsame Fortbewegungsmethode hin.
Der EPLH litt an Schuppengeschwulsten aus Epithelzellen im fortgeschritten Stadium, die sich bereits uber den ganzen Korper ausgebreitet hatten, doch wurde ein solcher krebsartiger Zustand der Schuppenhaut normalerweise nicht von einer tiefen Ohnmacht begleitet. Als ihm ein rasch wirkendes Mittel, das fur den Metabolismus des EPLH geeignet war, subkutan injiziert wurde, gingen die Geschwulste an der behandelten Stelle zuruck. Allerdings zeigte der Korper des Patienten kurz darauf panikartige Reaktionen, wodurch die Wirkung des Medikaments auf unergrundliche Weise neutralisiert wurde, und die Geschwulste wiederauftraten. Wahrend dieser Vorgange meldeten die Biosensoren, da? sich der Patient die ganze Zeit in tiefer Bewu?tlosigkeit befunden hatte und aufgrund des narkotisierten Zustands zu keiner korperlichen Regung in der Lage hatte sein durfen. Da Lonvellin auf die medikamentose Behandlung nicht ansprach, wurde mit der operativen Entfernung der befallenen Schuppen begonnen, doch auch dagegen straubte sich der Korper des Patienten. Nachdem die ersten Geschwulste noch erfolgreich herausgeschnitten worden waren, entwickelten die ubrigen Schuppen komplizierte Wurzelsysteme, deren Auslaufer tiefer liegende Organe zu durchdringen drohten, so da? eine weitere Entfernung ohne lebensbedrohliche Folgen unmoglich schien.
In der Hoffnung, eine Erklarung fur dieses medizinisch ratselhafte Phanomen zu finden – sowie fur die Tatsache, da? der EPLH vehemente korperliche Reaktionen zeigte, obwohl er angeblich bewu?tlos war und zu keiner Regung in der Lage hatte sein durfen -, ordnete Conway eine Untersuchung der emotionalen Ausstrahlung des Patienten an.
»Und an diesem Punkt trat ich auf den Plan«, fuhr Prilicla fort. »Wir fanden rasch heraus, da? in Lonvellin eine zweite intelligente Lebensform steckte; ein total eigenstandig denkendes und voll bei Bewu?tsein befindliches Wesen, bei dem die dem Patienten verabreichten Medikamente keinerlei Wirkung gezeigt hatten, und dessen Gegenwart von keinem Scanner oder anderem Diagnoseinstrument registriert worden war. Wie es fur einen angehenden Diagnostiker typisch ist, folgte Freund Conway damals einer spontanen Eingebung, indem er davon ausging, da? dieses zweite Wesen sowohl allgegenwartig als auch zu klein sein konnte, um bei einer normalen Scanneruntersuchung entdeckt zu werden. Diese von ihm aufgestellte Hypothese basierte allein auf den wenigen Tatsachen, die sich aus der Untersuchung des Patienten ergaben sowie aus den dem Logbuch zu entnehmenden Hinweisen auf einen Leibarzt… «
Lonvellin war ein in die Jahre gekommener Angehoriger dieser ohnehin extrem langlebigen Spezies. Wie alle Wesen im fortgeschrittenen Alter war auch er einem zunehmenden korperlichen Verfall ausgesetzt, und das trotzall seiner Bemuhungen, sich physisch und mental standig zu regenerieren, um seine Arbeit fortsetzen zu konnen, die sein einziger Lebensinhalt war. Bei dieser Tatigkeit kummerte er sich als grundsatzlich friedfertiges Wesen ausschlie?lich um ruckstandige oder auf Abwege geratene planetarische Zivilisationen, um deren Lebensverhaltnisse zu verbessern. Da er nicht damit rechnen konnte, auf den Planeten, auf denen er zu tun hatte, eine adaquate medizinische Versorgung vorzufinden, wurde er stets von einem Leibarzt begleitet, der seinen sehr hohen medizinischen Anspruchen genugen mu?te.
Irgendwann mu?te Lonvellin in der jungsten Vergangenheit den fur seine Zwecke idealen ›Leib- und Magenarzt‹ entdeckt haben – in der jungsten Vergangenheit deshalb, weil das besagte Wesen noch nicht viel Erfahrung als Arzt gesammelt haben konnte, was an den von ihm begangenen Kunstfehlern abzulesen war.
Wie Conway herausfand, entpuppte sich dieser ominose Leibarzt als eine intelligente amoboide Lebensform – eine organisierte Anhaufung submikroskopischer, virusahnlicher Zellen -, die im Korper des Patienten lebte. Dieser Leibarzt konnte, sobald er die notwendigen Informationen dazu besa?, jede Krankheit oder organische Fehlfunktion von innen her untersuchen und behandeln. Da es sich aber um ein denkendes Wesen handelte, konnte dessen emotionale Ausstrahlung einem Empathen wie Prilicla nicht verborgen bleiben, auch wenn es im Korper des sich in tiefer Bewu?tlosigkeit befindlichen Lonvellins steckte. Um diese Theorie zu beweisen, unternahm Conway einen auf den ersten Blick barbarisch wirkenden Angriff auf Lonvellins Korper, dem dessen naturliche Abwehrkrafte nicht hatten standhalten konnen, indem er ganz langsam einen spitzen Holzkeil an einer Stelle durch die Schuppenhaut trieb, unter der sich lebenswichtige Organe befanden. Wie von Conway vermutet, konzentrierte die Virenkreatur samtliche Abwehrkrafte auf diesen einen Punkt, indem sie an dieser Stelle aus eigenen und Lonvellins Gewebezellen im Nu eine kleine, harte Knochenplatte ausbildete, um den Keil am Weiterkommen zu hindern.Kaum war dieser Vorgang abgeschlossen, entfernte Conway die Kreatur, deren Korpermasse etwa einer geschlossenen menschlichen Faust entsprach, und legte sie zur spateren Untersuchung in einen steril versiegelten Behalter. Anschlie?end entfernte er die Geschwulste und versorgte die mit dem Holzkeil kunstlich zugefugte Wunde; eine reine Routinearbeit, die relativ wenig Zeit beanspruchte und ohne weitere Storversuche durch Lonvellins Leibarzt zu Ende gefuhrt werden konnte.
Das eigentliche Problem war durch die Unwissenheit der Virenkreatur ausgelost worden, die die ganze Zeit versucht hatte, den physischen Zustand ihres Wirtskorpers unter allen Umstanden unverandert zu lassen, indem sie die absterbenden Hautschuppen beibehalten wollte, die von Lonvellins Spezies aber in regelma?igen Abstanden abgesto?en wurden, um durch neue ersetzt zu werden. Diesen Irrtum konnte man durch den Umstand entschuldigen, da? zwischen den beiden Wesen trotz ihrer Intelligenz keine direkte Kommunikation, sondern nur eine lose empathische Bindung bestand, die lediglich den Austausch von Gefuhlen, nicht aber von Gedanken zulie?.
Trotz dieses Fehlverhaltens bestand Lonvellin darauf, da? man seinen Leibarzt wieder an den ihm angestammten Platz zurucksetzte. Zwar hatte man im Orbit Hospital diese einzigartige Lebensform gerne genauer